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«Von kommenden Dingen»

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 11, 1997 – Seite 1)

EDITORIAL

Walther Rathenau steht als vielschichtige Persönlichkeit am Schnittpunkt der drei Bereiche «Wirtschaft», «Kultur» und «Politik». Als «Mann der Wirtschaft» war er von seiner grossindustriellen Herkunft prädestiniert, der kulturphilosophischen Schriftstellerei galt seine Leidenschaft, und als Aussenminister der Weimarer Republik ist er von nationalistischen Fanatikern ermordet worden. Er hat sich selbst als «Seher» an einer technisch-zivilisatorischen Schwelle gedeutet und die Mechanisierung als eine umwälzende Kraft, aber auch als eine Not, «die ihre Gegenkräfte bereits erzeugt», beschrieben. Heute sind wir mitten in einer technisch-zivilisatorischen Umwälzung, deren Ausmass die durch die elektrische Energie bedingten Anpassungsprozesse in der Industriegesellschaft der Jahrhundertwende wohl weit übertrifft. Weltweit steht die Arbeitsgesellschaft vor einem primär technisch bedingten Bedarf an Anpassung und Flexibilisierung, bei dem wir Europäer uns so schwer tun, weil wir besonders stark von den Werten einer Industriegesellschaft geprägt und — vielleicht — auch verbogen sind. Der Neuerungsdruck wirkt sich vor allem im Bereich der Wirtschaft aus, welche zur Trägerin der Revolution wird, während sich im Bereich des Politischen, vor allem bei den strukturkonservativen Verteidigern des nahezu bankrotten Wohlfahrtsstaats und bei seinen überaus zahlreichen Nutzniessern, die Bremser jeder Couleur breit machen. Im Kulturbereich herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Die traditionellen Vorkämpfer für neue Ideen haben die Initiative weitgehend verloren und begnügen sich mit vielfältigem Schelten, wobei sich die vertrauten Koordinaten «Rechts gleich konservativ bzw. änderungsfeindlich» und «Links gleich fortschrittlich bzw. änderungsfreundlich» in ihr Gegenteil verkehrt haben. «Alles gesellschaftliche und politische Fortschreiten geht hervor aus dem Kampf zwischen Überlieferung und Neuerung», lesen wir bei Rathenau. Aktuell bleibt — auch mit veränderten ideologischen Vorzeichen – seine Bemerkung, die Tugenden der einen (Reaktionären) seien «Treue und Verständnis», und die Tugenden der anderen (Revolutionären) «Schöpferkraft und Intuition». Die Gefahren des Strukturkonservativismus (der heute in Kontinentaleuropa auch die Politik der «Linken» beherrscht), sind — nach Rathenau – «Borniertheit und Trägheit», während die Fortschrittsgläubigen sich — damals wie heute — vor «Dogmatismus und Leichtfertigkeit» hüten müssen.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 11, 1997 – Seite 1

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