(Nebelspalter, Gastkommentar, 30. September 2024)
Die Regierung hat in einem gewaltenteiligen demokratischen Rechtsstaat zwei Hauptfunktionen. Sie ist die Spitze der Verwaltung und muss als Exekutive Verfassung und Gesetz korrekt anwenden und das beschlossene Budget einhalten. Innerhalb der von Verfassung, Gesetz und Budget vorgegebenen Schranken hat sie einen Ermessensspielraum für die jeweils bestmögliche Staatsleitung. Dieser Spielraum ist in Notlagen grösser als im Normalfall, aber es ist kein Zeichen der Führungsstärke und der Voraussicht, wenn immer mehr Regierungsentscheidungen als unumgängliche Notlösung angepriesen werden.
Unter dem Einfluss von weltweit zunehmend autokratisch geführten Massendemokratien, bei denen die Regierungswahl zur politisch entscheidenden, personalisierten Schicksalsfrage wird, breitet sich auch in der Schweiz die autoritäre Meinung aus, eine starke Landesregierung müsse das Land endlich aktiver führen.
Die aktuelle, nicht ungefährliche Mischung von Massen- und Mediendemokratie und Populismus kontrastiert mit dem Modell, in welchem die Regierung nicht das Volk repräsentiert und führt sondern die «öffentliche gemeinsame Sache» (res publica) als Exekutive, nach Massgabe von Verfassung und Gesetz bestmöglich verwaltet. Eine solche Regierung muss nicht in erster Linie repräsentativ sein, sondern kompetent und integer. Der jeweils vorherrschende mediale Mainstream ist ein schlechter Ratgeber.
Eine gute Regierung zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch den Mut hat, unpopulär zu sein. Ihre Hauptaufgabe ist nicht die wirksame Werbung für Vorlagen und Grossprojekte und deren mehr oder weniger trickreiche Finanzierung, sondern die Treue zur Verfassung und zu den Gesetzen sowie der sorgfältige Umgang mit den Staatsfinanzen, kurz: die Budgetdisziplin, bei welcher Kostenüberschreitungen eine seltene Ausnahme sind.
Ein Mitglied der Landesregierung muss in einem demokratischen Rechtsstaat in erster Linie das anvertraute Departement gut führen und nicht das Parlament und erst recht nicht das Volk. In der Kollegialbehörde sollte es – zweitens – gut kooperieren, seine Anliegen mit dem richtigen Gewicht versehen und die richtige Mischung von Anpassungsbereitschaft und Durchsetzungsvermögen verkörpern. Drittens sind gegenüber dem Parlament Transparenz und Kompetenz gefragt, in einer Kombination, die Vertrauen weckt und Überzeugungskraft ausstrahlt und somit gute Kompromisse ermöglicht.
Erst an vierter und letzter Stelle kommt der Kontakt mit dem Volk, der vor allem in ausserordentlichen Lagen eine Rolle spielt. Zur Lösung der gängigen politischen Aufgaben brauchen wir keine nationalen Integrationsfiguren, und nichts ist in der Politik gefährlicher als die dauernde Ausrufung irgendwelcher Notstände, die dann durch «Führer» und «Retter» zu meistern wären. Regierungsmitglieder müssen auch bereit sein, ihre parteipolitische Meinung, die auf Gesetzesänderungen abzielt, der korrekten Anwendung geltenden Rechts unterzuordnen. Dasselbe gilt übrigens auch für Richter als Mitglieder der rechtsanwendenden dritten Gewalt.
Quelle: https://www.nebelspalter.ch/themen/2024/09/fragwuerdiger-ruf-nach-politischer-fuehrung