Gemeindeautonomie, direkte Demokratie und Steuerwettbewerb in der Schweiz
in: Jürgen Elsässer/ Matthias Erne (Hg), Erfolgsmodell Schweiz, Berlin 2010, S. 73-78
Grosse Probleme werden lösbarer, wenn man sie experimentell in kleineren Einheiten zu lösen versucht, die jeweils erfolgreichsten Lösungsmuster adaptiert und kopiert und gleich auch wieder neue testet. Das Subsidiaritätsprinzip siedelt die Lösung gemeinsamer Probleme auf der tiefstmöglichen und bürgernahesten Ebene an: auf der privatautonomen und auf der kommunalen. Die Schweiz ist ein erfolgreiches Experiment kantonaler und kommunaler Autonomie. Im Vergleich dazu ist Deutschland ein zentralistisch organisierter Staat. Demgegenüber wird der Schweizer Non-Zentralismus mit seinem Steuerwettbewerb und direktdemokratisch legitimierter Besteuerung den Anforderungen an einen Wettbewerb der Kommunen um die Bereitstellung öffentlicher Leistungen zur Verbesserung der Lebensqualität ihrer Bürger wesentlich besser gerecht.
Man sollte die finanzielle Dimension eines Problems nicht verabsolutieren, aber man sollte sie auch nicht verdrängen. Wer zahlt, befiehlt, und wer keine finanzielle Autonomie hat, hat wenig, was er wirklich selbst bestimmen kann. Gemeinwesen, die von einer zentralen Behörde finanziert werden, sind in der Regel sowohl abhängig als auch korrumpierbar. Das Subsidiaritätsprinzip wird dadurch sehr häufig bei der Anwendung in sein Gegenteil verkehrt. Die Zentralregierung findet erfahrungsgemäss immer wieder neue Argumente für die «bessere» Zuordnung an höhere und bürgerfernere Instanzen.
Noch problematischer wird das Subsidiaritätsprinzip, wenn man die Fähigkeit zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben auch an der Möglichkeit misst, sie zu finanzieren. Ein zentralisiertes Steuersystem, bei dem zunächst alle Steuergelder in die Zentrale geleitet werden, wird notwendigerweise eine «Unfähigkeit» zur Erfüllung von Infrastrukturaufgaben untergeordneter Instanzen hervorbringen und praktisch eine Einbahnstraße zur Zentralisierung signalisieren. Es ist natürlich paradox, wenn man das zentralisierte Steuersystem aufrechterhält und nur die Aufgaben dezentralisiert, ohne den Gemeinden und Gliedstaaten die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Diese perfide Form der Dezentralisierung hat vielerorts zur Diskreditierung des Subsidiaritätsprinzips und des Non-Zentralismus beigetragen.
In der Schweiz bestimmen die jeweiligen Bürger und Steuerzahler in direkter Demokratie mit Mehrheitsentscheid über die Höhe der Steuern. Es wird andernorts immer wieder bezweifelt, dass Regierung und Parlament so etwas Heikles wie die Steuerhoheit unvermittelt der Verantwortung der Steuerzahler anheimstellen könnten und dürften. Eine Zuständigkeit der Volksmehrheit für die Festlegung der Steuern auf allen Ebenen der Staatsorganisation basiert auf einigen Voraussetzungen, die entscheidend sind. Einmal dürfen die Bemessungsgrundlagen nicht allzu progressiv und «reichtumsfeindlich» ausgestaltet sein. Sonst bewirkt dies eine «demokratische Fremdbestimmung» der Steuerzahler mit höheren Einkommen und endet schliesslich mit deren Vertreibung in ein steuergünstigeres Domizil. Pro-Kopf-Abstimmungen funktionieren nur, wenn auch die Pro-Kopf-Betroffenheiten vergleichbar sind.
Die Gefahr eines «race to the bottom», des Wettlaufs zum Nullsteuer- und Nullleistungsstaat, ist nicht von der Hand zu weisen, sie darf aber nicht überschätzt werden. Eine politische Unterversorgung bezüglich Ordnung und Infrastruktur ist umso unwahrscheinlicher, als Vergleichsmöglichkeiten mit andern Gebietskörperschaften bestehen, welche eine Nachfrage nach solchen Gütern besser befriedigen. Für erwünschte und knappe öffentliche Güter lässt sich in vielen Fällen durchaus eine Mehrheit von Steuerzahlern sogar zu Steuererhöhungen motivieren, d.h. man ist bereit, einen höheren Preis zu bezahlen, wenn man dadurch die kollektive Lebensqualität erhöhen kann.
Die hier skizzierte polit-ökonomische Mechanik darf allerdings durch gut gemeinte Ausgleichszahlungen (interkommunaler, interregionaler und internationaler Finanzausgleich, Förderungs- und Strukturfonds aller Art) nicht gestört werden.
Je direkter die Demokratie ist, desto stärker wird der Zusammenhang von Steuer und Gegenleistung wahrgenommen und gegenüber den Behörden, die gleichzeitig Steuern erheben und Infrastruktur bereitstellen, zum politischen Thema gemacht. Der mündige Steuerzahler ist in diesem Fall mit dem mündigen Bürger identisch, welcher dauernd kritisch das Preis/Leistungsverhältnis der von ihm gewählten Behörden überwacht, Sparsamkeit und Transparenz fordert und fördert sowie auf Unterversorgungen aller Art empfindlich reagiert.
Die Ungleichheit unter kleinen politischen Einheiten hat aber auch ihren Preis. Bei vielen kleinen konkurrierenden Einheiten ist das rückständigste, unvernünftigste Gemeinwesen schlechter als dies im Rahmen einer Zentralisierung beim Durchschnitt erzwungen werden könnte. Es hat die undankbare Aufgabe, als schlechtes Beispiel zu dienen.
Die historisch tief verankerte Lokalautonomie in Verbindung mit lokaler Finanz- und Steuerautonomie und einem internen nationalen Wettbewerb bei der Höhe der Besteuerung ist wohl eines der entscheidenden Erfolgsgeheimnisse der Schweiz. Es ist auch eine Trumpfkarte im internationalen Steuerwettbewerb. Wenn sich die Schweiz auf internationaler Ebene gegen den Zwang zur Harmonisierung und Zentralisierung wehrt, so geht es nicht einfach um eine profitable steuerpolitische Nische, sondern um einen Kernbereich des Sonderfalls Schweiz und seines letztlich nicht aufschlüsselbaren Erfolgs.
Steuern haben historisch gesehen mindestens zwei Ursprünge: Tributzahlungen und Klubbeiträge. Der erfolgversprechende politische Weg der Steuerreform führt vom Tribut an die Zentrale zum Klubbeitrag an die lokale Gebietskörperschaft. Tributzahlungen sind historisch bedingt. Sie sind jene Geldleistungen, die ein erobertes Land den Eroberern abliefern mussten, um deren Dienstleistungen abzugelten, selbst wenn diese Dienstleistungen aufgezwungen und gar nicht erwünscht waren. Steuern können aber auch eine Art Klubbeitrag für Leistungen des Gemeinwesens aufgefasst werden, die zur Erfüllung gemeinsam gewollter und gemeinsam beanspruchter öffentlicher Dienstleistungen gebraucht werden. So sind sie vielerorts in der Schweiz entstanden. Die Schweiz ist nie definitiv erobert worden und hat sich stets gegen jede Art von Tributzahlung gewehrt. Ihr Steuersystem hat sich auf lokaler Ebene entwickelt. Es beruht historisch auf einer Organisation gemeinsamer Arbeiten, z.B. beim Weg- und Wasserleitungsbau. Jeder Bürger war verpflichtet, an öffentlichen Arbeiten und auch bei der militärischen Selbstverteidigung mit der Waffe mitzuwirken. Daraus haben sich schrittweise die lokalen Steuern entwickelt, die auf dem System der Selbstdeklaration und auf öffentlichen Steuerregistern beruhen und über deren Höhe an der Urne oder an der offenen Gemeindeversammlung demokratisch abgestimmt wird.
Dies tönt alles sehr archaisch, d.h. wie ein Relikt aus längst entschwundenen Epochen. Es ist aber näher an der global vernetzten Realität, als dies auf den ersten Blick scheint. Es gibt mittel- und langfristig kaum Alternativen dazu. Der besteuerte Untertan ist weltweit zum Staatskunden geworden, dessen Bereitschaft, zu zahlen mit der Qualität der Dienstleistungen verknüpft wird, nach dem Motto «Wo es mir gut geht, wo man mich nicht übermässig schröpft, ist meine Heimat und mein Steuerdomizil.» Die zunehmende Mobilität der Menschen und der Finanzströme eröffnen immer mehr Möglichkeiten legaler Steuerflucht und erschweren die steuerliche Erfassung von Transaktionen. Die Konkurrenz der Steuersysteme ist nicht mehr ausschliesslich eine Konkurrenz der Repression und der Kontrolle, sondern auch ein durchaus freundschaftlicher Wettbewerb um «zahlende Kunden». Die Angst, dass diese Art von Konkurrenz der Steuer- und Angebotssysteme zum Staatsruin führe, ist ebenso unbegründet wie die marxistische Verelendungstheorie. Gerade der «gute Steuerzahler» ist nicht an einem Null-Leistungsstaat interessiert, er verlangt lediglich, dass das Preis- Leistungsverhältnis stimmt, und dieses Anliegen deckt sich mit dem Bemühen jeder guten Regierung.
Es hat sich aber im Lauf der Geschichte auch immer wieder gezeigt, dass sich sogenannt rückschrittliche Strukturen plötzlich wieder als modern und fortschrittlich erwiesen haben. Zentralisierung birgt immer auch die Gefahr einer «Vereinheitlichung gemäss dem neuesten Stand des wissenschaftlichen und politischen Irrtums» in sich. Keine Regierung ist davor gefeit. Lauter kleine non-zentrale Irrtümer, die gegeneinander konkurrieren, sind hingegen auf die Dauer auch punkto Freiheitsgehalt und Lernfähigkeit im Vergleich mit einem grossen, hoch zentralisierten System effizienter und – nach aussen und innen – weniger gefährlich.
Robert Nef ist 1942 als Bürger von Herisau in St. Gallen geboren. Er hat in Zürich und Wien Rechtswissenschaft studiert und mit dem Lizentiat abgeschlossen. Seit der Gründung 1979 leitete er bis 2007 das Liberale Institut in Zürich und ist heute Präsident des Stiftungsrats. Er ist auch Mitglied des Verwaltungsrats des Institut Constant Rebecque in Lausanne, des Ludwig von Mises Institute Europe in Brüssel, des Beirats der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer in Berlin und präsidiert den Stiftungsrat der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur in Zürich. Er publiziert aktuelle Analysen u.a. in der «Neuen Zürcher Zeitung» in «Finanz und Wirtschaft» und in den «Schweizer Monatsheften, wo er von 1991 bis 2008 als Mitherausgeber und Redaktor verantwortlich zeichnete. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher wie «Neidökonomie» (2000) «Politische Grundbegriffe» (2002), «Lob des Non-Zentralismus» (2005) und «Dichter der Freiheit», Schiller Brevier (2006). 2007 wurde ihm von der Hayek-Gesellschaft die Hayek-Medaille verliehen.