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Verhängnisvolle Entwicklung

Lesedauer: 3 Minuten

(St. Galler Tagblatt, 6. Mai 2013)

Fall «Schweiz/Nigerianer»: Der Strassburger Gerichtshof und sein fragwürdiges Urteil

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hob das Urteil des Schweizer Bundesgerichts auf, einen verurteilten Delinquenten auszuweisen.

In einem kürzlich publizierten Fall beruft sich ein illegal aus Nigeria in die Schweiz Eingewanderter auf sein Menschenrecht auf Achtung des Familienlebens. Nach seiner Ausweisung aus der Schweiz aufgrund einer rechtsgültigen Verurteilung wegen Drogenhandels wäre es ihm nicht mehr möglich, regelmässig mit seinen beiden Kindern aus der geschiedenen Ehe mit einer Schweizerin Kontakt zu pflegen. Das Schweizer Bundesgericht hatte dieses in der EMRK garantierte «Menschenrecht auf Achtung des Familienlebens» gegenüber der immerhin heute in der Schweizer Bundesverfassung verankerten Pflicht zur Ausweisung von verurteilten Delinquenten für nicht ausschlaggebend beurteilt und eine Ausweisung zugelassen. Verfahrensdauer: 3 Jahre. Nach diesem Urteil hat der Nigerianer an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte appelliert. Nach einer Verfahrensdauer von weiteren 5 Jahren (!) wurde der Entscheid des Schweizer Bundesgerichts in Strassburg als menschenrechtswidrig aufgehoben.

Der Entscheid zeigt deutlich, zu welchem Resultat im Bereich der Menschenrechte die unbegrenzte Auslegung von Begriffen wie «Familie» und «Achtung» führen kann. Wenn der Anspruch auf regelmässigen Kontakt zu Kindern aus einer geschiedenen Ehe sogar höher gewertet wird als eine national verfassungsrechtlich verankerten Norm, die eine Ausweisung im öffentlichen Interesse zwingend verlangt, könnte man auch jede Gefängnisstrafe als menschenrechtswidrige Verletzung des Familienlebens einstufen.

Mit solchen Entscheidungen wird in der Schweiz die Akzeptanz des Völkerrechts und überstaatlicher Gerichtshöfe ernsthaft in Frage gestellt. Man wird den Verdacht nicht los, dass man in Strassburg bewusst ein Exempel statuieren wollte, an dem die angebliche Menschenrechtswidrigkeit des Schweizerischen Ausweisungsartikels demonstriert werden sollte. Ob sich der Fall dazu tatsächlich eignet, bleibt höchst fraglich.

Die jetzt in SVP-Kreisen erhobene Forderung nach einem Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ist keine taugliche Lösung. Sie wäre wohl weder innen- noch aussenpolitisch konsensfähig. Empörung ist kein vernünftiges Programm. Ein Austritt würde nämlich nicht als Misstrauensbekundung gegenüber dem Gerichtshof, sondern als Abwendung der Schweiz vom Prinzip der Menschenrechte wahrgenommen.

Ein möglicher Schritt wäre hingegen die – übrigens gar nicht neue – Forderung, dass sich der Gerichtshof bei der Beurteilung höchstrichterlicher Entscheide eine grössere Zurückhaltung auferlegen sollte. Solche Entscheidungen sollen nur im Falle von Willkür und groben Verfahrensmängeln zurückgewiesen bzw. aufgehoben werden können. Dies ist mit politischem Nachdruck zu fordern und würde wohl auch von andern Unterzeichnerstaaten unterstützt. Es kann nicht sein, dass sich ein supranationales Gericht immer wieder «schulmeisterlich» über die Verfassungen und Gesetze und höchstrichterliche Urteile von Unterzeichnerstaaten hinwegsetzt, die erfahrungsgemäss als demokratische Rechtsstaaten durchaus funktionieren.

Richter sind grundsätzlich Rechtsanwender und nicht Verfassungs- und Gesetzgeber. Das gilt auch für internationale Gerichtshöfe. Angesichts der Schwammigkeit und der schlechten demokratischen Legitimation des internationalen Rechts, gibt es gute Gründe für grossen Respekt vor geltendem nationalem Verfassungs- und Gesetzesrecht und vor dessen Anwendung durch innerstaatliche Gerichte.

Richter dürfen nicht ihren eigenen politischen und ethischen Auffassungen Tribut zollen und rein gesinnungsethisch entscheiden und sich vom menschlichen Mitgefühl für eine Partei leiten lassen. Das gilt ganz besonders im Bereich der Anwendung von Menschenrechten, die im Einzelfall nicht mit dem menschlichen Einfühlungsvermögen in konkrete, oft tragische Situationen verwechselt werden dürfen. Die Verantwortungsethik des Richters beruht nicht auf dem Bekenntnis zur «unbegrenzten Auslegung» zugunsten einer Partei, sondern auf einer möglichst getreuen und strikten Anwendung bestehender verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Normen und auf einem Respekt vor den formell korrekten Urteilen von Vorinstanzen, selbst wenn diese der eigenen persönlichen Auffassung widersprechen und im Einzelfall hart wirken.

Die Forderung des Tages heisst nicht «Austritt», sondern «Reform» und Rückkehr zu einer beschränkten Kognition, die gleichzeitig zum Abbau der Kritik und der katastrophalen Pendenzenlast und der rechtsstaatlich unakzeptablen Verfahrensdauer beitragen könnte.

Die Fachleute des Völkerrechts aller Unterzeichnerstaaten sollten sich endlich aufraffen, auch einmal Kollegenkritik an einer ziemlich verhängnisvollen Entwicklung zu üben. Die gelehrten und z.T. praxisfremden Richter dieses hohen Gerichtshofes sollten ihre Professorenrolle auf dem hohen Seil der Interpretation und der grenzenlosen Auslegung in den Hintergrund stellen und sich endlich wie professionelle Richter verhalten. Eine an sich gute und notwendige Institution kann nämlich durch Übertreibung und Überforderung ad absurdum geführt und in seinem Ansehen und bezüglich seiner Akzeptanz ernsthaft beschädigt werden.

Robert Nef ist Stiftungsratspräsident des Liberalen Instituts und wohnt in St. Gallen
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