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Europäische Orientierungen

Lesedauer: 3 Minuten

(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1991 – Seite 753-754)

Zwei Titel mit Fragezeichen rahmen eine Sammlung von Essays ein, die Herbert Lüthy an verschiedenen Orten in den letzten 30 Jahren publiziert hat: «Europa als Zollverein Eine karolingische Meditation» im Jahre 1960, und «Wo liegt Europa? Ein Nachwort nach dreissig Jahren». Die «Zehn Versuche zu den Umtrieben des Zeitgeistes» sind viel mehr als ein verdienstvoller und leserfreundlicher Reprint von teilweise schwer auffindbaren Texten. Sie belegen in eindrücklicher Weise, was historische Forschung für die Deutung der Gegenwart und für die Orientierung im Hinblick auf die Zukunft zu leisten vermag. Die Frage im Buchtitel provoziert jene Standortbestimmung, die bekanntlich eine Voraussetzung jeder Orientierung ist.

Die auf den ersten Blick ziemlich heterogene Auswahl von Themen entpuppt sich beim näheren Zusehen als Panoptikum mit erstaunlicher Breite und Tiefe. Drei Essays über Ideengeschichte und Kulturkritik, drei über das Fach Geschichte als Bestandteil der Sozialwissenschaften und drei über Knotenpunkte unseres Jahrhunderts, eingerahmt in die wiederholte Frage nach Zielen und Standorten unseres Kontinents.

Wer um einen Entschluss ringt in der Frage des künftigen Wegs der Schweiz im Prozess der Europäischen Gemeinschaft, findet keine rezeptartige Antwort. Trotzdem — und vielleicht gerade deswegen — ist die Lektüre dieser Essaysammlung eine der besten Orientierungshilfen, und das Werk verdient es, im Rahmen der 700-Jahre-Literatur besonders gewürdigt zu werden. Wie im ersten Aufsatz aufgezeigt wird, stand am Anfang der EWG bei den Römer Verträgen nicht das zunehmende Bedürfnis nach Kooperation in der Privatwirtschaft im Zentrum, sondern die Not der kriegswirtschaftlich verstaatlichten Kohle- und Stahlindustrien und die Visionen von geschichts- und machtbewussten Staatsmännern:

«Nicht ‘die Wirtschaft‘ hat dazu gedrängt, nicht Gebote der wirtschaftlichen Ratio haben sich wundertätig gegen die Borniertheit von Kirchturmpolitikern durchgesetzt, sondern politische Idealisten, Manager und Grands Commis haben Wirtschaft und wirtschaftliche Ratio zu ihren Werkzeugen gemacht. Der Schumanplan war die politische Lösung eines im nationalen Rahmen unlösbaren politischen Problems — der ‘Entnationalisierung‘ der Ruhrindustrie — durch die höchst künstliche Herauslösung des ganzen schwerindustriellen Komplexes aus den nationalen Zusammenhängen der Sechs und die Errichtung einer quasi extraterritorialen Hohen Autorität über Kohle und Stahl.» (S. 17)

Die kriegsbedingte Verstrickung von Staat und Wirtschaft einerseits und die Sehnsucht nach Grösse andererseits — keine besonders vertrauenerweckenden Taufpaten eines Projekts

Lüthy rechnet stets mit dem «homo oeconomicus», aber er misstraut ihm auch.

«Badewannenfabrikanten werden nicht dadurch Europäer, dass sie ihre Badewannen in ganz Europa absetzen, und ihre Konsumenten nicht dadurch, dass sie in europäischen Standard- Badewannen baden, selbst wenn sich dabei auch der allgemeine Lebensstandard erhöht. Die Badewannenfabrikanten von 1914, die nach solchen Massstäben vollendet integrierte Europäer und Weltbürger hätten sein müssen, sind deshalb nicht weniger mit geschwellter Brust ins Stahlbad für Gott, Kaiser und Vaterland gestiegen.» (S. 19)

Schon 1960 stellt Lüthy die Frage nach dem «Aussentarif», der Einfügung der neuen Gemeinschaft ins komplexe Gefüge der freien Welt. Er stellt sich als Schweizer, Europäer und Weltbürger die heute besonders berechtigte Frage nach dem Prinzip der Universalität, nach dem Verlust an Weltoffenheit, der allenfalls durch eine vorbehaltlose Öffnung gegenüber der EG eingehandelt würde.

Am weltbürgerlichen offenen, historischen Horizont wird aufgezeigt, dass die EG nicht identisch ist mit Europa und dass Europa-Offenheit noch keine Garantie bietet für die in Zukunft überlebenswichtige Weltoffenheit.

Die Lektüre der beiden Europa-Essays, welche die Klammer der Aufsatzsammlung bilden, führt zu keiner Erleichterung des Entscheids für oder gegen einen EG-Beitritt der Schweiz. Wer Plädoyers «Pro» oder «Contra» sucht, muss sich anderweitig umsehen. Immerhin sind die Hinweise auf Gründe zur Geduld und Skepsis subtil und zahlreich.

«In seiner ganzen massiven Rechtsetzungs- und Durchsetzungskraft ist dieses administrative Generalunternehmen Europa intellektuell, kulturell und moralisch rätselhaft steril geblieben. Es hat — bis zu diesem Herbst 1990 — bisher keine Federalist Papers hervorgebracht, keine in die Öffentlichkeit getragene Verfassungsdiskussion, keine politisch gestaltende Idee…» (S. 248)

Geschichtliche Reflexion im Stil Lüthys macht weder «klug für ein andermal» noch «weise für immer». Sie vermittelt aber wichtige Einblicke und verschafft jenen Überblick, der gute Entscheidungen nicht vorwegnimmt, sondern ermöglicht.


Herbert Lüthy: Wo liegt Europa? Zehn Versuche zu den Umtrieben des Zeitgeists, Verlag NZZ, Zürich 1991.

Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1991 – Seite 753-754

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