(St. Galler Tagblatt / Mittwoch, 25.11.1992 / EWR-Diskussion / SCHWEIZ)
Schlagworten sollte man mit grossem Misstrauen begegnen. Ihr Wert besteht allein darin, dass man damit Diskussionen einleiten kann. Je kritikloser sie aber verwendet werden, desto grösser ist die Gefahr, dass die Diskussionen mit dem einzigen Resultat, stattgefunden zu haben, enden. Mit den Schlagworten «Demokratisierung der Ausbildung», «Recht auf Bildung», «Ausschöpfung der Begabtenreserven», «gleiche Bildungschancen für alle» werden heute Struktur und Funktion des bestehenden Bildungssystem angegriffen. Inwiefern dies berechtigt ist, lässt sich nur ermitteln, wenn man das Bestehende mit einem wünschenswerten Leitbild vergleicht. Zunächst seien darum einige Hinweise auf die Bildungsziele angebracht, wie sie in Gesetzen von Bund und Kantonen formuliert sind:
«Die Schule hat den Zweck, die Eltern in der Erziehung der Kinder zu unterstützen und die ihr anvertraute Jugend nach christlichen Grundsätzen zu tüchtigen, verantwortungsbewussten Menschen und vaterlandstreuen Bürgern heranzubilden». (Art. 1, St. Galler Erziehungsgesetz).
«Die Primarschule fördert die sittliche, geistige und körperliche Erziehung der Schüler und vermittelt ihnen die grundlegenden Kenntnisse, derer sie für ihre spätere Ausbildung und für das praktische Leben bedürfen.» (Art. 34, Walliser Gesetz über das öffentliche Unterrichtswesen).
«L’enseignement public a pour but: a) de preparer la jeunesse à exercer une activité utile et à server le pays; b) de developer chez elle l’amour de la patrie et le respect de ses institutions. Il donne aux élèves les connaissances intellectuelles ou professionelles nécessaires. Il developpe leurs forces physiques et contribute à former leur caractère et leur esprit de solidarité.» (Art.4, Kanton Genf, Loi sur l’instruction publique).
In den angeführten Beispielen sind explizit oder implizit folgende Zielsetzungen des Erziehungs- und Bildungswesen enthalten: Vermittlung von Wissensstoff, Befähigung zur Lösung von Lebensproblemen, Förderung allgemeiner erzieherischer Werte, Förderung einer weltanschaulichen Grundhaltung, Ermöglichung des Übertritts ins Berufsleben, Übertritt an eine höhere Schule (Selektion, Entdeckung der Begabten), Förderung der körperlichen Erziehung, Ergänzung der Familienerziehung, Förderung des sozialen Verhaltens (Verantwortungsbewusstsein, Solidarität), Förderung der staatsbürgerlichen Erziehung.
In der Literatur werden folgende weitere Zielsetzungen erwähnt: Bildungsmöglichkeit in jedem Lebensalter, sinnvolle Haltung gegenüber Freizeit und Tätigkeit des Konsumierens, sinnvolle Verbindung zwischen Schule und Leben, Übergang von der familiären Gemeinschaft in die grössere soziale Gemeinschaft, Förderung von Erlebnisfähigkeit für künstlerische Werte, Weckung von kulturell und künstlerisch schöpferischen Kräften, sozialer Ausgleich durch einheitliche Bildung als Grundlage für Verständigung und Kontakt zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten, Verbindung von allgemeiner und spezialisierter Ausbildung, Integration von Ausländern.
Wo hat nun angesichts dieser Fülle von wahrhaft hochgesteckten Zielen die Kritik einzusetzen? Stellt sich nur die Frage nach besseren Wegen zur Erreichung allgemein anerkannter Ziele, oder muss auch nach neuen Zielsetzungen geforscht werden?
Bildung und Ausbildung steuern in immer stärkerem Mass die Aufstiegsmöglichkeiten auf der sozialen Leiter. Im Bildungswesen spielt sich heute jene Selektion ab, die für die Zuteilung von Chancen im beruflichen und gesellschaftlichen Leben bestimmend wirkt. Je unerbittlicher und zwingender dieser Prozess wird, desto berechtigter sind die Postulate nach der Gleichheit der Bildungschancen und nach einer gerechten demokratischen Ermittlung der Anforderungen und Abschlussbedingungen.
Man kann sich allerdings fragen, ob es eine wertvolle Zielsetzung ist, die Begabtenreserven einer Gesellschaft in dem Sinn «auszuschöpfen», dass man möglichst viele in einen hierarchischen Bildungsprozess (Primarschule, Mittelschule, Hochschule) einschleust, der entweder mit dem Hochschulabschluss oder mit dem Scheitern an einer der vielen Hürden davor endigt. Die Vorstellung einer Bildungspyramide, an deren Spitze das Hochschuldiplom lockt, muss überwunden werden. Um eine wahre Chancengleichheit zu gewinnen, genügt es nicht, wenn mit finanzieller Hilfe und durch die Anpassung der Anforderungen möglichst vielen der Zutritt zur Hochschule und Abschluss ermöglicht wird. Es muss vielmehr mit allen Mitteln dagegen gekämpft werden, dass allein der Bildungsweg die beruflichen und sozialen Chancen präjudiziert. Die Hochschulbildung sollte eine von vielen gleichberechtigten Möglichkeiten der Vorbereitung auf Leben und Beruf sein und keine klassenbildende Aufnahmeprüfung in den Kreis einer Elite.
Es liegt mir fern, mit diesen Bemerkungen Propaganda gegen das Hochschulstudium zu machen; der Bedarf an Akademikern ist noch nicht befriedigt und es soll niemand davon abgehalten werden, den – oft mühsamen – Bildungsweg an die Hochschule einzuschlagen. Man muss sich lediglich dagegen wehren, dass unter Schlagworten wie «Demokratisierung», «Gleichheit der Bildungschancen», «Ausschöpfung der Begabtenreserven» eine verhängnisvolle Entwicklung eingeleitet wird, welche über eine falsch verstandene Bildungshierarchie zu einem starren Bildungskastenwesen in der Gesellschaft führt. Die Chancengleichheit besteht weder für die Ausbildung noch für andere Lebensbereiche darin, dass man jedermann auf derselben «Ordonnanz-Hindernisbahn» (Primarschule – Mittelschule – Hochschule) starten lässt, auf welcher Erfolg und Misserfolg durch entsprechende Anpassung der Hindernisse und der Hilfen gesteuert werden.
Alleine eine Vielzahl von gleichberechtigten Bildungs- und Lebensbahnen, die nach Eignung und Neigung frei zu wählen sind, kann allen gleich individuelle Chancen bieten. Der englische Soziologe Michael Young schreibt in seinem utopisch-satirischen Essay «The Rise of Meritocracy» zu diesem Problem:
«Es sollen nicht alle nach einer einzigen mathematisch klingenden Erfolgsformel ihren Weg nach oben machen, wohl aber möge ein jeder seine ureigensten Fähigkeiten entwickeln, um ein wirklich reiches Eigenleben zu führen.» … «Es gehe nicht um gleiche Aufstiegsmöglichkeiten auf der sozialen Leiter, sondern um die gleiche Gelegenheiten für alle Menschen, ohne Rücksicht auf ihre ‹Intelligenz› die Tugenden und Talente zu entwickeln, die ihnen in die Wiege gelegt worden sind. Um ihre ganzen Fähigkeiten geht es, die Schönheit und die tiefe menschlichen Erlebens zu würdigen, um ihr volles Potential, die Lebensfülle geniessend auszuschöpfen.»
Ich möchte nicht mit diesen pathetisch-utopischen Worten schliessen, sondern noch einige praktische Folgerungen in Form von Thesen anführen.
- Das Angebot an möglichen Bildungswegen muss vergrössert werden.
- Alle Bildungswege sollen als gleichberechtigte Möglichkeiten der Vorbereitung und der Gestaltung der gesellschaftlichen und beruflichen Laufbahn anerkannt werden.
- Die vielen verschiedenen Bildungsprogramme müssen individuelle Kombination und flexible Übertritts-Möglichkeiten gewährleisten.
- Der Einzelne muss die Möglichkeit haben, immer wieder seine Eignung und Neigung zu erkennen und zu überprüfen.
- Die Lehrkräfte müssen auf allen Stufen ihre Hauptaufgabe nicht in der negativen Selektion («Hürden stellen»), sondern in der beratenden «Orientation» («Weichen stellen») wahrnehmen.
- Die Trennung von Ausbildung und Beruf ist zu überbrücken, indem auf breitester Basis Mischformen der Berufsausübung und der permanenten Ausbildung geschaffen werden.
- Der «Akademikerkult» muss mit allen Mitteln bekämpft werden (z.B. durch Abschaffung der Titel. Die Hochschule vermittelt keine «höhere Lebensform», sondern versucht lediglich die wissensmässigen und charakterlichen Voraussetzungen zu schaffen für die Ausübung von akademischen Berufsarten).
Auf Grund dieser Forderungen wären meines Erachtens Reformvorschläge zu diskutieren, welche das gesamte Bildungswesen, und nicht nur die Hochschule betreffen. Die Postulate zielen auf neue Organisationsformen im gesamten Bereich der Erziehung und Bildung. Ich bin mir bewusst, dass sich wesentliche Punkte nicht alleine durch institutionelle Änderungen und Anpassungen verwirklichen lassen. Nur durch eine entsprechende tolerante Mentalität kann eine Chancengleichheit ohne Gleichschaltung der Bildungswege erreicht werden. Verschiedene Ausbildungen, Berufs- und Lebensgestaltung muss man grundsätzlich als gleichwertig anerkennen. Dieses ist wohl der heikelste und vielleicht auch der schwächste Punkt im skizzierten Leitbild. Wer ihn befürwortet, möge sich deshalb am nachhaltigsten dafür einsetzen.