(NZZ Meinung & Debatte – Dienstag, 28. Januar 2025)
Hitler sei ein Linker gewesen, sagte Alice Weidel und sorgte für viel Wirbel. Was die Debatte indes auch zeigt: Das gängige Links-rechts-Schema stiftet oft Verwirrung. Treffender ist die Unterscheidung zwischen mehr oder weniger Umverteilungsstaat. Gastkommentar von Robert Nef
Die deutsche AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel hat in ihrem Talk mit Elon Musk unlängst die enge Verknüpfung von Nationalsozialismus und Sozialismus aufs internationale Tapet gebracht. Damit hat sie einmal mehr unter Linken und Linksintellektuellen grosse Empörung ausgelöst.
Die ideologische Verwandtschaft der beiden Kollektivismen, die beide zur Verwirklichung ihrer nicht deckungsgleichen Ideologien mehr Staat, mehr Einordnung und mehr Solidarität fordern, ist aber nicht von Alice Weidel entdeckt oder gar erfunden worden. Der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat schon in seiner 1944 verfassten Schrift «Der Weg zur Knechtschaft» klar und deutlich darauf hingewiesen, dass das seit der Französischen Revolution gebräuchliche Links-rechts-Schema oft mehr Verwirrung stiftet als Klarheit schafft.
Staatsausbauer und Staatsbegrenzer
Die weitsichtigere und sinnvollere Unterscheidung ist jene zwischen mehr oder weniger Umverteilungsstaat: Staatsausbauer gegen Staatsbegrenzer, Zwangsbefürworter gegen Zwangsskeptiker, Etatisten gegen Freiheitsfreunde, Merkantilisten und Binnenmarktanhänger gegen Freihändler. Das wäre das parteipolitische Koordinatensystem des 21. Jahrhunderts, das weltweit durch historisch überholte Parteibezeichnungen und durch die Verschleierungstaktik der angeblich «fortschrittlichen Linken» und der angeblich «vaterlandstreuen Rechten» terminologisch verunklärt wird.
Rechts sassen im französischen Parlament die Anhänger des feudalistischen Ancien Régime, zu denen auch Teile des königstreuen Katholizismus zählten, links sassen die liberalen und sozialistischen Anhänger der Revolution. Für die Liberalen war damit eine neue bürgerliche Zeit angebrochen, für die Sozialisten ein erster Schritt zur klassenlosen Gesellschaft vollzogen – aber alle sangen mit Inbrunst die nationalistische und bellizistische Marseillaise. In der zivilisatorischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs wurden liberale und sozialistische Internationalisten durch das stets nationalistische und oft rassistische, aber stets auch intolerante Freund-Feind-Schema brutal und wirksam abgelöst. Es wirkt bis heute nach, weil es eine komplizierte Welt nach einem psychologisch einfachen Schema zu erklären versucht.
Internationale Solidarität war seit je (und ist es heute erst recht) für grosse Mehrheiten eine Überforderung. Ja, man möchte teilen und umverteilen, auch zwangsweise, aber zunächst nur innerhalb des eigenen Volkes. Alles andere ist auf die Dauer nicht mehrheitsfähig. Das ist der Schwachpunkt aller Spielarten des «linken» internationalistischen Sozialismus: Er tendiert in Kombination mit dem Mehrheitsprinzip zum «rechten» Nationalismus und zum staatlich veranstalteten Merkantilismus, ein Phänomen, das sich historisch und politisch weltweit beobachten lässt, nicht nur in Russland und China.
Der Internationalismus der Liberalen beruht nicht auf zwangsweisem Teilen und Umverteilen, sondern auf offenem Handel, auf jenem Tauschen auf Augenhöhe, bei dem sich Interessen zwanglos immer wieder – mehr oder weniger gerecht – ausgleichen, wenn nationale Staatsmächte nicht eingreifen oder mitmischen, was sich allerdings kaum je ganz vermeiden lässt.
Darum hat auch der Liberalismus eine gewisse Affinität zu nationalen Ordnungen und Grenzen. Man möchte wenigstens unter Gleichgesinnten eine möglichst staats- und zwangsfreie Ordnung anstreben und sich von allen macht- und ideologiebesessenen Kriegführenden abgrenzen.
Frustrationen vorgezeichnet
Viele erfolgreiche national ausgerichtete Politikerinnen und Politiker sollten vermehrt auf ihre eigenen «wunden Punkte» achten, mit denen sie bei ihren Anhängerinnen und Anhängern auch zur – mindestens national veranstalteten – staatlichen Umverteilung tendieren. Zwangsweise Umverteilung wird umso unproblematischer, je kleinräumiger und personenbezogener sie erfolgt. Nur in überschaubaren Gebietskörperschaften lassen sich die Geldströme nachverfolgen, die via Steuern zunächst von den Reicheren in den staatlichen Umverteilungsapparat und dann von diesem mit der Giesskanne an die wachsende Zahl echter oder angeblich Bedürftiger weitergeleitet werden.
Jeder zentralistische Nationalismus tendiert zum zentralistischen Umverteilungssozialismus, bei dem die wachsende Zahl der finanziell Staatsabhängigen auch zu treuen Parteimitgliedern oder mindestens Wiederwählenden wird. Das unlösbare «Problem in der Mitte» ist dabei die Tatsache, dass staatliche Umverteilung ein «Fass ohne Boden» ist, das nicht generell zu mehr «sozialem Frieden» führt, sondern – jenseits von links und rechts – zu immer mehr Frustrationen.
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Robert Nef ist Publizist; er war Mitbegründer des Liberalen Instituts und ist heute Mitglied von dessen Stiftungsrat.