Die Schweiz hat über Jahrhunderte an der Neutralität festgehalten. Verlässlichkeit ist für die historische und aussenpolitische Wirksamkeit entscheidend.
Robert Nef, Finanz und Wirtschaft, Meinung – Neutralität, 14.11.2024
Die Neutralität war in den europäischen Glaubenskriegen des 17. Jahrhunderts eine Schicksalsfrage. Ein Engagement für die eine oder andere Seite hätte in der konfessionell gespaltenen Eidgenossenschaft zum Zusammenbruch des Bündnisses geführt. Im Westfälischen Frieden wurde 1648 die Sonderstellung der Eidgenossenschaft anerkannt und der Austritt aus dem Deutschen Reich besiegelt.
Nach den napoleonischen Kriegen wurde 1815 die Neutralität der Schweiz am Wiener Kongress bestätigt. Im Deutsch-Französischen Krieg und in beiden Weltkriegen wurde die Neutralität von der Schweiz politisch und militärisch verteidigt, und sie ist von den Kriegführenden jeweils respektiert worden. Das Hauptmerkmal an der über 500-jährigen Geschichte der Neutralität ist die Vielfalt ihrer jeweiligen Aktualität in unterschiedlichen Konfliktlagen.
Auch die aktuellen gewaltsamen Konflikte haben vielfältige Ursprünge. Sie konnten trotz inzwischen etablierten Weltorganisationen bis heute durch keine internationale Rechts- und Friedensordnung verhindert und aus der Welt geschafft werden.
«Neutral zu sein und zu bleiben, ist keine skurrile Besonderheit der Schweiz, sondern eine vernünftige Überlebensstrategie.»
Wenn sich heute weltweit tatsächlich nur noch zwei Blöcke gegenüberstehen würden, die defensiv Friedfertigen und die aggressiv Kriegslüsternen, gäbe es keinen triftigen Grund zur Neutralität. Tatsächlich gibt es aber nach wie vor Kriege mit unberechenbaren und unvorhersehbaren Motiven. Gekämpft wird auf Kosten der Kampftruppen und der Zivilbevölkerung um die Macht- und Einflusssphären der jeweiligen Kriegsparteien und Machtallianzen.
Entscheidungs- und Handlungsfreiheit
Der Verzicht eines neutralen Staates auf Einmischung in Kriege und politische Machtkonflikte hat eine langfristige Perspektive. Sie lässt sich nicht einfach als kleinmütige, profitorientierte oder strukturkonservative Option abtun. Es geht um die bestmögliche Wahrung der inneren Entscheidungs- und Handlungsfreiheit in einer freiheitlichen, vielfältigen politischen Gemeinschaft. Die Sicherheitspolitik soll nicht von aussen beeinflusst oder gar diktiert werden, das Urteil über den Stellenwert aktueller weltpolitischer Konflikte nicht durch allfällige Bündnispartner bestimmt sein. Dieses echt freiheitliche Anliegen steht über jeder Parteipolitik und hat hohe Priorität.
Die Neutralität wird heute in der Schweiz immer noch grossmehrheitlich als historisch bewährte, wichtige und zu bewahrende aussenpolitische Maxime betrachtet. Sie müsste nach einem Beitritt zu kontinentalen Zusammenschlüssen und militärischen Bündnissen zum Teil angepasst und zum Teil aufgegeben werden. Wer solche Beitritte für erwünscht hält oder mindestens für mittelfristig unvermeidbar, wird alles daransetzen, die Neutralität als Mythos mit unbestimmbarem und zum Teil fragwürdigem Ursprung und als partiell fremdbestimmte Verpflichtung mit absehbarem Ablaufdatum darzustellen.
Damit wird aber eine momentane Deutung unmittelbar in den Dienst einer bestimmten politischen Lagebeurteilung und Zielsetzung gestellt. Wer, unabhängig vom parteipolitischen Tagesgeschäft, gegenüber einem Nato-Beitritt und gegenüber einem EU-Beitritt der Schweiz skeptisch ist, tut gut daran, die Neutralität als historische Konstante und als Kernstück einer Erfolgsgeschichte nicht aufzugeben und auch nicht zu relativieren. Die in vielen Medien präsenten Neutralitätsabschaffer und -relativierer sind nach ihrem Selbstverständnis eine Elite, effektiv aber Opportunisten ohne Geschichtsbewusstsein, die sich einem innereuropäischen und transatlantischen Mainstream anpassen wollen.
Nicht zu Gesinnungsneutralität verpflichtet
Eines ist klar: In Zeiten grosser Spannungen und erst recht in Kriegszeiten wachsen in jeder Bevölkerung Neigung und Bereitschaft zur Parteinahme, und jede Gesinnungsneutralität wird als falsche Entscheidung gedeutet. Die Neutralität ist im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine in Europa und in den USA zurzeit unpopulär. Südamerikaner, Inder und viele Asiaten sehen das anders. In dieser Situation ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Neutralität als Option der Nichteinmischung für die Regierung und die Armeeführung verbindlich ist, die Bevölkerung jedoch nicht zur Gesinnungsneutralität verpflichtet.
Der Krieg im Nahen Osten ist mehr als nur ein Verteidigungskrieg oder gar ein Kampf ums Überleben. Das auslösende Massaker war eine klare Verletzung des Völkerrechts, auf die aber die Uno aufgrund von Veto-Blockaden nicht reagiert hat. Beide Seiten deuten ihre Angriffe als Strategie der Verteidigung und niemand fordert diesbezüglich eine Gesinnungsneutralität der Schweizer Bevölkerung. Die bisher global praktizierte Strategie der dosierten Nichteinmischung verhindert hoffentlich einen Flächenbrand.
«Das Rote Kreuz ist ohne politische Neutralität undenkbar.»
Die Neutralität ist nicht einfach ein verstaubtes Dogma. Sie ist ein tragendes Element des zur Zeit des Kalten Krieges entwickelten aussenpolitischen Viersäulenprinzips – «Neutralität, Solidarität, Disponibilität und Universalität». Für die Disponibilität im weitesten Sinn und die dauernde Universalität im Sinn der Weltoffenheit bildet sie eine unabdingbare Voraussetzung.
Am ehesten steht die Neutralität in einem Spannungsverhältnis zum Solidaritätsprinzip, das eine Solidarität mit den jeweils Angegriffenen nahelegt. Das grosse und grossartige internationale Solidaritätswerk des Roten Kreuzes, das von der Schweiz aus gegründet wurde und seinen Sitz in Genf hat, ist ohne politische Neutralität undenkbar. Es kümmert sich um Kriegs- und Katastrophenopfer und fragt nicht nach der jeweiligen Schuld einer Kriegspartei.
Neutralität und Solidarität vereinbar
Neutralität und Solidarität sind auch aus dieser Sicht durchaus kompatibel. Die Option, neutral zu sein und zu bleiben, ist keine skurrile Besonderheit der Schweiz, sondern eine vernünftige Überlebensstrategie für viele Nationalstaaten mit vielfältig gemischten Bevölkerungen, gerade in Konfliktzeiten, in denen sich grosse Machtblöcke feindlich gegenüberstehen.
Kein Land braucht sich dessen zu schämen, wenn es im Rahmen der jeweils vorherrschenden Machtkonstellationen seine Unabhängigkeit wahren will. Wenn sich weltweit jedes Land auf eine glaubwürdige Selbstverteidigung beschränken und zur Nichteinmischung in Kriegen bekennen würde, wäre dies ein entscheidender Beitrag zum Weltfrieden.
Neutralität ist, wie dargelegt worden ist, auch nicht unsolidarisch. Sie ist ein Ausdruck der Solidarität mit den jeweils Friedensbereiten, die es in allen Konflikten auf beiden Seiten gibt. Die Hoffnung auf einen Totalsieg einerseits und einer Totalniederlage anderseits und die Option einer späteren Rache der Unterlegenen ist keine gute Basis für einen dauerhaften Nachkriegsfrieden. Dies gilt für beide derzeit tobenden Kriege.
Dass Neutralität – heute erst recht – international auf Glaubwürdigkeit beruht, leuchtet einer grossen Zahl von Schweizerinnen und Schweizern unmittelbar ein. Diese Glaubwürdigkeit kommt aber ins Wanken, wenn sie intern von selbst ernannten Eliten oder gar von der politischen Führung immer wieder als nicht mehr prioritär und – früher oder später – als obsolet bezeichnet wird.
Gefährliche Illusionen
Die Versuche einer Relativierung und schrittweisen Aufhebung sind nicht neu, aber sie untergraben die internationale Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit. Kein Land kann von Fall zu Fall «ein bisschen neutral sein». Ein über Generationen aussenpolitisch verfolgtes Prinzip sollte intern nicht à la carte durch verwirrende Adjektive bis zur Unkenntlichkeit relativiert werden.
Dass wir uns in einem grundlegenden weltpolitischen und völkerrechtlichen Umschwung befinden, der eine definitive Option für eine bestimmte weltpolitische Machtordnung erlauben oder gar fordern würde, ist eine gefährliche Illusion, die historische Fakten, Erfahrungen und Perspektiven missachtet.