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Privatisierung – ein Weg zur Trennung von Staat und Gesellschaft

Lesedauer: 12 Minuten

Vortrag an einem Seminar der Friedrich Naumann Stiftung in Sintra, Portugal 1994
Robert Nef, lic. iur., Leiter des Liberalen Instituts

Das Thema dieser Konferenz, «Die sozialen Konsequenzen der Privatisierung», (The social consequences of privatization) betrifft zunächst einmal das Verhältnis von Staat und Wirtschaft und stellt dann die Frage nach den Auswirkungen von Veränderungen dieses Verhältnisses.

Zuständig sind bei diesem Themenkreis vor allem die Experten aus der Wirtschaft und aus der öffentlichen Verwaltung und selbstverständlich auch die Politiker, welche die Privatisierung unterstützen. Die zentralen Motive für die Privatisierung sind die Steigerung der Effizienz und der Qualität, sowie die Entlastung des Staatshaushalts. Die allgemein empfohlenen Mittel sind die Abschaffung der bürokratischen, zentral verwalteten Wirtschaftsbetriebe durch Überführung in Aktiengesellschaften und die Ermöglichung eines Systems, in dem der Markt die Preise und Löhne reguliert. Ziel ist die Schaffung funktionierender Märkte im Innern und die Öffnung der Märkte nach aussen.

In den Ländern des ehemaligen Ostblocks betrifft die Privatisierung einen Grossteil der Wirtschaft, in den übrigen Industrieländern geht es um Staats- und Monopolbetriebe im Bereich der Infrastruktur, des Verkehrs, der Energie, der Telekommunikation und der elektronischen Medien.

Eher am Rande wird auch das Bildungswesen, die Forschung und die Kultur erwähnt. Der Bereich des Gesundheitswesens und der sozialen Sicherheit wird häufig aus politischen Gründen ausgeklammert.

Es ist darum besonders verdienstvoll, dass die Veranstalter dieses Seminars speziell diese Themen traktandiert haben.

Alles in allem ist die Privatisierung, die auch «Transformation» genannt wird eine hoch komplex und anspruchsvolle Materie, bei der vor allem die Fachleute herausgefordert sind und bei der verschiedene Verfahren – «schrittweise» oder «schockweise» – gegenüberstehen.

Es geht nun nicht darum, das bereits anspruchsvolle Programm dieses Seminars mit weiteren Themenkreisen wie Familienpolitik und Kulturpolitik auszuweiten. Ich wurde aber gebeten, gleich zu Beginn den Rahmen zu markieren, in welchem sich die Privatisierung aus der Sicht der Politikwissenschaft und der politischen Ideengeschichte abspielt.

Ich beziehe hier Position als Radikalliberaler und vertrete meine Meinung bewusst pointiert, um die Diskussion herauszufordern. Wenn ich im Folgenden von «Liberalismus» und «liberal» rede so meine ich das in einer klassischen kontinental-europäischen Terminologie: Für Marktwirtschaft und für «limited government» und gegen staatlichen Interventionismus und Bürokratie.

Mein Ausgangspunkt ist das Postulat der Trennung von Staat und Gesellschaft, und weil die Wirtschaft ein Teil der Gesellschaft ist, ist die Trennung von Staat und Wirtschaft – der Gegenstand der Privatisierung – für mich ein Teilproblem, allerdings ein ganz zentrales.

Die Gesellschaft besteht nicht nur aus der Wirtschaft. Es gibt auch den Bereich der Familie, der sozialen, kulturellen und religiösen Organisationen, die für ihr Funktionieren ebenfalls auf eine Trennung vom Staat angewiesen sind und die darum einen Bedarf an Privatisierung auslösen und nicht nur passiv von Konsequenzen betroffen sind.

So wenig sich der Staat als Träger und Organisator von Produktion, Handel und Konsum eignet, so wenig eignet er sich für die Lösung sozialer Probleme und für die Weiterentwicklung der Kultur und die Vermittlung religiöser Bekenntnisse.

Ich werde mich im Folgenden auf das Beispiel des Privatisierungsbedarfs gegenüber der Familie beschränken, da es ja nur darum geht, an den grösseren Rahmen zu erinnern, in welchem sich die Privatisierung als Trennung von Staat und Wirtschaft abspielt.

Im internationalen «Jahr der Familie», wo fast ausschliesslich von einer zusätzlichen Entlastung der Familien durch den Staat die Rede ist, ist es notwendig, aus liberaler Sicht daran zu erinnern, dass der Staat auch durch die Familien entlastet werden könnte, und ich bin sogar der Meinung, dass sich eine solche Politik keineswegs zu Ungunsten der Familie auswirken würde.

Eine weitere Vorbemerkung ist vielleicht nicht überflüssig.

Es geht mir bei aller radikalen Kritik am Staat, am politischen System, keineswegs darum, diesen Bereich der Gesellschaft schlecht zu machen und die Politiker und Beamten als persönliche Versager darzustellen. Im Gegenteil. Es geht um die Wiederherstellung eines funktionierenden Gesamtsystems, in dem der Staat seine begrenzte aber entscheidende Rolle als Hort von «law and order» wieder übernehmen kann.

Die Demokratie kann nur in einem Staat mit begrenzter Zuständigkeit (limited government) überleben. Darum ist der Abbau bzw. Umbau des Sozialstaats (welfare state) keine Frage der Ideologie, und auch keine Frage der Effizienz sondern eine Frage der Existenz.

Die Trennung (separation) von Staat und Gesellschaft oder – in der Terminologie der Politikwissenschaft – die Trennung der politisch-administrativen, ökonomischen und sozio-kulturellen Subsysteme ist kein ideologischer Ballast aus dem 19. Jahrhundert, sondern eine zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Nur wenn wir das politische System von den Aufgaben der ökonomischen Produktion entlasten, kann es die Aufgabe der Ordnungsproduktion erfüllen.

Der Staat muss die Forderung, «gerecht» zu sein, indem er alle Bürger gleichbehandelt, stets einlösen können, und diesen Anspruch kann er nur im Bereich der öffentlichen Ordnung und der Justiz einigermassen befriedigend erfüllen.

In allen anderen Bereichen führt das politische Versprechen «gerecht» oder «gerechter» zu sein in die grenzenlose Unzufriedenheit und in die grenzenlos wachsenden Ansprüche: in einen Teufelskreis der Enttäuschungen und Frustrationen, die schliesslich auch das Vertrauen in das Funktionieren des Staats als Hüter der Ordnung unterminieren.

Wir müssen den Staat von jenen Aufgaben entlasten, die er gar nie befriedigend erfüllen kann: die wirtschaftliche Produktion und Distribution, die Pflege sozialer und kultureller Beziehungen und das Vermitteln von Lebenssinn und ethischen Werthaltungen.

Nur aufgrund dieser Entlastung, kann er seine ureigensten Aufgaben der Ordnungsstiftung langfristig erfüllen. Die Finanzkrise des Staates ist nur ein Symptom für eine tiefer liegende Krise der totalen Überforderung durch nicht mehr einzulösende Versprechungen und durch Aufgaben die nur in kleinen Gruppen nach den Prinzipen der Spontaneität, der Privatautonomie und der bewährten, tief verankerten, immer weiterentwickelten kulturellen und sozialen Traditionen lösbar sind.

Mehr Markt – mehr Flexibilität – weniger Sozialstaat

Dieses Motto markiert das Feld der politischen Arbeit, die in den nächsten Jahrzehnten von den Liberalen zu leisten ist – unter anderem auch in der Familienpolitik. Dabei sind Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung die Schlüsselbegriffe. Wir sind allerdings verpflichtet, etwas genauer zu sagen, was darunter zu verstehen ist. Die Schlagworte allein genügen nicht.

Aus radikalliberaler Sicht sind die Postulate sehr einfach, die Schwierigkeiten liegen bei der politischen Umsetzung in die Realität…

Ein vollständig freier Arbeitsmarkt und ein vollständig gesundgeschrumpfter Sozialstaat und eine auf das Minimum beschränkte Familiengesetzgebung in Kombination mit einem privatisierten Bildungssystem würde die «liberal geprägte Neuorientierung» von selbst bewirken:

An die Stelle sozialstaatlicher Vorsorge treten individuelle Partnerschafts- und Generationenverträge, welche die Probleme auf Konsensbasis, massgeschneidert und ohne «Umweg» über allgemeinverbindliche Gesetze harmonisieren. Ungelöst bleibt allerdings die Erfüllung der Ansprüche und Erwartungen der Kinder in der nächsten Generation, die als Betroffene an solchen Verträgen zunächst nicht mitwirken können.

Die sozialen Konsequenzen der Privatisierung (the social consequences of privatization) zeigen sich dort am Deutlichsten, wo keine gleichgestellten Vertragspartner da sind, also beispielsweise bei Kindern. Die Kinder und die künftigen Generationen sind aber auch die Hauptopfer, wenn der Sozialstaat sich massiv verschuldet, um seine gegenwärtig populären pseudosozialen Umverteilungsprogramme zu realisieren.

Ein Abbau der obligatorischen staatlichen Sozialversicherung, nach welchem es kein kollektives System sozialstaatlicher Zwangsversorgung im Alter mehr gäbe, könnte sich aber durchaus auch zugunsten der Kinder auswirken. Die Eltern würden dann generell ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern – im eigenen langfristigen Interesse – so harmonisch wie möglich gestalten. Sie würden durchaus im eigenen Interesse nicht nur einen ausgewogenen Partnerschaftsvertrag anstreben, sondern auch einen ausgewogenen privaten innerfamiliären Generationenvertrag.

Selbstverständlich gehört es zu den negativen Folgen freiwilliger und spontaner Lösungen, dass sie auch ein Fehlverhalten und ein Scheitern nicht ausschliessen. Ohne Irrtümer, ohne Leidensdruck, gibt es keine Lernprozesse und auch keinen Fortschritt.

Beim Scheitern und beim Fehlverhalten – und nicht beim Normalfall – hätte die staatliche Sozialpolitik einzusetzen und ihr Auffangnetz zu spannen: bei den höchstens fünf bis zehn Prozent von wirklichen Not- und Sozialfällen, die es innerhalb einer bestimmten Gruppe gibt. Die An- und Abreize wären bei dieser Hilfe so zu setzen, dass es eher zu einem Abbau als zu einem Ausbau kommt.

Die Familien (und vergleichbare Kleinkollektive) müssen im Normalfall selbsttragend funktionieren und sich dem entsprechenden Wohlstandsniveau (sei es nun in Bangladesh oder in der Schweiz) ohne staatliche Umverteilung anpassen können. Sie sind auch die Versorgungs- und Vorsorgeinstitution für die «normalen Not- und Wechselfälle des Lebens».

Selbstverständlich sollen Risiken aller Art durch Verträge auf einem freien, möglichst vielfältigen internationalen Versicherungsmarkt wirtschaftlich abgesichert werden können…

Der Generationenvertrag sollte – früher oder später – wieder ohne Zwangsabgaben und kollektives Zwangssparen aufgrund freier und selbstbestimmter wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen funktionieren.

Die Sozialversicherungssysteme sind ein Relikt aus einer Kriegs- und Krisenzeit, an das man sich auch in der bürgerlichen Politik in erstaunlichem Mass gewöhnt hat. Diesbezüglich ist uns im kriegerischen 20. Jahrhundert – geprägt durch zwei Weltkriege und den kalten Krieg – die Rückkehr zur Normalität der nicht-interventionistischen Privatautonomie in der Zivilgesellschaft noch nicht gelungen. Wir zahlen weiterhin die Steuern und Abgaben, die uns das Gemeinwesen in der höchsten Not existenzieller Bedrohung temporär allenfalls zumuten könnte.

In einer friedlichen Zivilgesellschaft mündiger Bürger sollte die Staatsquote wieder auf den berühmten «Zehnten» zurückkehren, der für Epochen galt, die nicht periodisch von totalen Kriegen heimgesucht worden sind. Fiskalisch leben wir auch in der sogenannt freien Welt immer noch wie in Kriegs- und Krisenzeiten.

Durch Inflation hat der Staat immer wieder breite Bevölkerungskreise kollektiv enteignet und damit jene Vermögenswerte umgeschichtet, auf welcher die lebenslänglichen Selbstverantwortung bei der Altersvorsorge in der Primär- und Kleingruppe beruhte. Wenn der Staat hohe Erbschaftssteuern erhebt, so erschwert er zusätzlich die Bildung von Notreserven im innerfamiliären Generationenvertrag.

Die beste Sozial- und Familienpolitik würde darin bestehen, jene Bedingungen zu schaffen, in denen die grosse Mehrheit der Bevölkerung ohne staatlichen Zwang und ohne Bevormundung im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich existieren könnte.

Dann könnte sich auch das Rollenverhalten zwischen Frauen und Männern, Müttern, Vätern und Kindern, Familien, spontanen Partnerschaften, Kleingruppen und Individuen immer wieder neu und flexibel aufeinander einspielen, wie dies liberalen Vorstellungen entspricht.

Eine Rückkehr zur Familie des 19. Jahrhunderts wäre damit wohl nicht verbunden. Es ist allerdings nicht auszuschliessen, dass dabei konservative Muster der Rollenteilung aktuell bleiben bzw. neu aktuell werden. Viele Frauen und Mütter wollen – wenigstens in bestimmten Lebensabschnitten – der Familie gegenüber der ausserhäuslichen Berufstätigkeit Priorität einräumen: auf eigenen Wunsch, aus innerem Antrieb, nach Abwägen der Vor- und Nachteile, wissentlich und willentlich und ohne kirchliche, staatliche und männliche Manipulation.

Ein System, das auf Privatautonomie basiert ist aber nie ausschliesslich konservativ. Im Gegenteil. Es ist nicht nur zu hoffen, sondern auch zu erwarten, dass auf der Basis der partnerschaftlichen Vereinbarung auch die Bereitschaft der Ehemänner und Väter zu innerhäuslichem und familiärem Engagement wächst, und dass sich ein Wandel bei den Prioritäten auch bei der Partnerwahl und auf dem Arbeitsmarkt der Männer auswirkt.

Grundsätzlich ist die Verantwortung für die Alters- und Gesundheitsvorsorge und für die Ausbildung (education) der Kinder in familiäre und wirtschaftliche Strukturen zurückzuführen und in diesem Sinn zu privatisieren.

Dies dient den Einzelnen und der Gemeinschaft besser als die kollektive Versorgung mit immer teureren und wegen mangelnder Konkurrenz immer schlechteren staatlichen Angeboten. Wichtig ist der Wandel der Mentalität.

Der Staat kann sich nach der Entlastung von der Grundversorgung um jene Not- und Sozialfälle kümmern, die von keiner sozialen oder wirtschaftlichen Institution Hilfe erhalten.

Zu fragen ist nicht nur nach den – kurzfristig teilweise negativen – sozialen Konsequenzen der Privatisierung, sondern nach den mittel- und längerfristig schweren Folgen der Nicht-Privatisierung. Wir wissen beispielsweise aus Umfragen, dass die Zahl der Menschen, die sich für die Pflege von alten und bedürftigen Eltern überhaupt nicht verantwortlich fühlen, in gut ausgebauten Sozialstaaten (welfarestates) wie Schweden die 50 Prozentgrenze übersteigt. Der Sozialstaat hat es also fertiggebracht, ein soziales Verantwortungsbewusstsein, das weltweit in den meisten Kulturen in hohem Mass bei den meisten Menschen vorhanden ist, innerhalb von zwei Generationen bis auf Restbestände abzubauen…

Die sozialen Folgen der Privatisierung müssen also, vor allem wenn man sie negativ wertet, stets den sozialen Folgen der Sozialisierung bzw. der Nicht-Privatisierung gegenübergestellt werden… Diese sind unabsehbar und verheerend.

Demokratischer Realismus und libertäre Utopie

Das hier skizzierte Modell eines radikalliberalen Ausstiegs aus dem Teufelskreis einer bevormundenden auf Kriegs- und Krisenbedingungen zugeschnittenen Steuer-, Sozial- und Familienpolitik setzt einen tiefgreifenden Transformationsprozess voraus, der vorläufig noch utopisch ist, und für den es kaum erprobte politische Strategien gibt…

Das sorgfältige Studium von vergleichbaren Prozessen im ehemaligen Ostblock und in Südamerika und in einigen Ländern Ostasiens ist eine vordringliche Aufgabe.

Die Erfahrungen sind natürlich nicht direkt übertragbar, und in einer Demokratie ist ein solcher Aus- und Umstieg besonders anspruchsvoll, weil eine Mehrheit von Gegenwärtigen zugunsten von künftigen Generationen verzichten müsste. Solche Verzichtleistungen waren in der bisherigen Sozialgeschichte stets nur im Rahmen von Kleingruppen über längere Zeit hinweg ohne grösseren Druck von aussen möglich.

Die Demokratie hat den Test einer nachhaltigen Sozialverträglichkeit (social sustainability) noch nicht bestanden. Je mehr sie die Begehrlichkeit der Gegenwärtigen durch Verteilung und Umverteilung und durch das uneinlösbare Versprechen, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen, korrumpiert, desto kleiner wird die Chance ihres längerfristigen Überlebens.

Die politischen und sozialen «Kosten» eines sozialpolitischen Systemwechsels werden – aus der Sicht der praktizierten Parteipolitik wohl zu Recht – höher eingeschätzt als die laufenden Kosten des bestehenden Systems. Diese sind allerdings auf längere Sicht nicht finanzierbar, d.h. sie sind gar keine ernst zu nehmende Lösungsvariante für die Zukunft.

Dies scheint allerdings die ihrem Wesen nach kurzfristig angelegte Politik wenig zu stören. Die Diskussion um die Sanierung der Staatsfinanzen wird so geführt, wie wenn es um geringfügige Umlagerungen, um wenige Steuerprozente und um das Streichen einiger Budgetposten ginge und nicht um einen grundlegenden Systemwechsel.

Die Kosten eines Systemwechsels sind stets von einer Gruppe von Betroffenen zu tragen, die «Opfer des Experiments» sind, ohne sich wirksam dagegen wehren zu können. Wir stehen hier vor einem weiteren Grundproblem des «Systemwechsels»: Die Altlasten eines Systems werden stets dem neuen System angekreidet.

Das Problem ist nicht neu. Der Kapitalismus hatte mit einer Integration des Proletariats in die Gesellschaft zu kämpfen, obwohl die Existenz eines Proletariats eine Altlast des Feudalismus war.

Wie der Schweizer Historiker Herbert Lüthy mit guten Argumenten darlegt, liegt darin ein Hauptirrtum der marxistischen Verelendungstheorie. Die sogenannte soziale Verelendung ist keine Folge des Frühkapitalismus sondern eine Altlast des Spätfeudalismus, mit welcher der Kapitalismus sogar erstaunlich rasch fertig geworden ist. Im ehemaligen Ostblock sind es die Altlasten des sozialistischen Parteifeudalismus, welche als «Begleiterscheinungen» des neu praktizierten Kapitalismus kritisiert werden.

Wenn es jetzt darum geht, den Sozialstaat «gesundzuschrumpfen» wird man die Altlasten auch wieder den liberalen Deregulierern und Flexbilisierern vorwerfen… Ich vertrete allerdings die Auffassung, dass der «Saldo» im Systemvergleich «Interventionismus» und «Marktordnung» auch für die wirtschaftlich Schwächeren – und gerade für sie – schon mittelfristig immer noch positiv ist. Der Sozialstaat ist nämlich nicht sozial (The welfare state doesn’t produce welfare).

Sozialstaat und liberaler Rechtsstaat sind letzlich inkommensurabel. Ein nicht dauerhaftes (not sustainable) System wie der Teufelskreis des demokratisch fehlgesteuerten Sozialstaats steht einem dauerhaften System gegenüber, das zwar stets unbefriedigend bleibt aber verbesserungsfähig ist: die Marktwirtschaft, die mit dem auf Ordnungspolitik beschränkten Rechtsstaat kombiniert wird. (market economy combined with limited government).

Vor uns liegt kein Paradies, und die Marktwirtschaft verspricht nichts Derartiges. «Alles für alle» ist nicht möglich. Aber das friedliche Zusammenleben von verschiedenen Menschen ist grundsätzlich möglich, wenn sie sich nicht gegenseitig durch Anpassungswünsche und durch Neid überfordern und wenn der stets notwendige Verzicht zugunsten der Schwächeren von der Quelle der Freiwilligkeit gespiesen wird. Dies ist nur in kleinen Gruppen möglich.

Die erwähnten Voraussetzungen einer radikalliberalen Deregulierung sind im heutigen Zeitpunkt noch utopisch.

Die politischen Gegebenheiten in den mehr oder weniger sozialstaatlich geprägten Demokratien der «Ersten Welt» blockierten im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die längerfristig gebotenen und im Interesse künftiger Generationen notwendigen radikalen Änderungen.

Die demokratisch legitimierte politische «Diktatur» der gegenwärtigen Egoisten verfälscht den sozialpolitisch und ökologisch notwendigen Generationenvertrag, der mit Aussicht auf Erfolg nur auf der Basis von Privatautonomie, Privateigentum und Solidarität in Kleingruppen aufgebaut werden kann.

Erst der finanzielle Ruin der Sozialstaaten wird die politische Phantasie in diese Richtung in Gang setzen… Wir dürfen als Liberale auf dem Markt der Konzeptionen und Ideen in diesem Zeitpunkt nicht mit leeren Händen dastehen. Es wird darum gehen, bewährte Formen des Zusammenlebens – wie etwa Monogamie und Kleinfamilie – durch notwendige Anpassungen an neue Gegebenheiten und Herausforderungen zu bewahren, indem wir ihre spontane Weiterentwicklung befürworten.

In erster Linie müssen wir die mit politischem Zwang errichteten Hindernisse abbauen.

Unsere Aufgabe ist vergleichbar mit jener der Entwicklungspolitik. Expertinnen und Experten erklären heute glaubhaft, das wichtigste Anliegen der heutigen Entwicklungspolitik bestehe darin, die negativen Auswirkungen der bisherigen, gut gemeinten aber kontraproduktiven Entwicklungspolitik zu mildern und deren Fortsetzung zu bekämpfen.

Natürlich sind die Lehren aus der Entwicklungspolitik in der Dritten Welt nicht direkt auf die Sozialpolitik in der Ersten Welt übertragbar, aber gewisse Analogien sind doch nicht von der Hand zu weisen…

Gegenüber einer politischen Beeinflussung der Geschlechterrollen in der Familie, die über den Abbau von bisherigen Verzerrungen und Störungen durch Arbeitsrecht, Steuerrecht und Sozialversicherungsrecht und allenfalls Schulrecht (Lehrmittel und Lehrpläne) hinausgeht, ist grösste Skepsis angebracht. Es geht um einen sozialen Lern- und Veränderungsprozess, bei dem niemand «die richtige Lösung» kennt.

Der liberale Weg

Das einzige – auch längerfristig – erfolgversprechende Verfahren für gesellschaftliche Veränderungen ist aus liberaler Sicht das Lernen in kleinen Schritten: das immer wieder neue Aushandeln, Ausprobieren, Adaptieren und Assimilieren in kleinen und kleinsten Einheiten. Ein solcher Prozess kann nur unter den Bedingungen der Spontaneität, des friedlichen Wettbewerbs durch «Versuch und Irrtum» Erfolg haben.

Kollektive Entscheidungen sind auf das jeweils Notwendigste zu beschränken, weil niemand mit dem Anspruch auftreten kann, zu wissen, was jetzt und für alle Zeit «gerecht», «wahr», «gut» und «sozial» ist.

Das ist der liberale Weg, bei dem Interessenkonflikte in individuellen Verträgen immer wieder neu ausgehandelt werden und möglichst eigenständige, spontan konkurrierende und kooperierende Kleingruppen im Zentrum stehen.

Die mit populärem Pathos vertretene sozialistische Alternative dazu ist der gemeinsame Kampf: Jene – zunächst minoritäre – Avantgarde, die weiss, was gerecht, wahr und gut ist und sich aufgrund dieser Auffassung politische Macht erkämpfen muss, um dann ihr Programm verwirklichen zu können. Es geht darum, einen gemeinsamen Kampf zu führen, um das gemeinsame Gute gegen eine Minderheit von Mächtigen, Besitzenden, denen es immer wieder gelingt ihre Sonderinteressen durchzusetzen. Die angestrebte Umverteilung von Macht und Vermögen ist aus sozialistischer Sicht nur mit den Mitteln des politischen Zwangs möglich. Es braucht dabei immer grössere Kreise umfassender Solidarität der «Guten» gegen die «Bösen», wobei keine Zweifel aufkommen dürfen, dass man gemeinsam «für die gerechte Sache» kämpft und den «Feind» auf der anderen Seite erkennt und durchschaut.

Das ist der sozialistische Weg, bei dem der Kampf und die politisch erzwungene Solidarität in immer grösseren Gemeinschaften im Zentrum steht. Er ist nicht in erster Linie darum abzulehnen. weil er «falsch» oder «böse» wäre, sondern weil er längerfristig keinen Erfolg verspricht.

Mehr als nur die «Kunst des Möglichen»

Liberale Politikerinnen und Politiker stehen vor der Aufgabe, an politischen Problemlösungen mitzuwirken, welche auf die real existierende sozialstaatliche Misch- und Misssituation zugeschnitten sind, ohne ihre Grundsätze aus den Augen zu verlieren.

Oft können das nur zweit- und drittbeste Lösungen sein, und die radikalliberalen Theoretiker und Kritiker des Sozialstaats müssen diesbezüglich gegenüber dem Kompromissbedarf in der politischen Praxis ein gewisses Verständnis – aber nicht unbegrenztes Verständnis – zeigen.

In einer Demokratie stehen die Volksvertreterinnen und Volksvertreter vor der schwer lösbaren Aufgabe, einerseits wieder gewählt zu werden und andererseits die meist unpopuläre Wahrheit zu sagen. Sie müssen kurzfristig mehrheitsfähige Lösungen unterstützen, welche oft längerfristig die Probleme verschärfen. Sie müssen gelegentlich auch zu Lösungen stehen, die schlecht sind, um noch schlechtere Lösungen zu vermeiden.

Im notwendigen Gespräch zwischen Theorie und Praxis dürfen die Praktiker von den Theoretikern keine Patentrezepte für diese Art von Politik erwarten. Im Umgang mit den tagespolitischen Kompromissen ist die auf Grundsätze abgestützte Theorie überfordert und im Umgang mit radikalen Konzepten ist die Tagespolitik überfordert.

Wer von der Theorie her kommt, muss mehr Verständnis aufbringen für die Situation der aktiven Politkerinnen und Politiker, deren Hang nach Popularität oft stärker ist als der Hang nach Grundsatztreue. Das kann so weit gehen, dass man die Grundsätze eigentlich gar nicht mehr so genau kennen und formulieren will, damit man die notwendigen Abweichungen nicht mehr so schmerzlich empfindet. Es handelt sich hier in der Regel nicht um Charaktermängel sondern um den «Systempreis» der Demokratie und speziell der Konkordanzdemokratie.

Anstelle der gegenseitigen Überforderung ist eine wechselseitige Herausforderung in einem immer wieder neu geführten Gespräch anzustreben. Von der Praxis her wird die Politik dabei immer wieder als «Kunst des Möglichen» gedeutet, während der an Grundsätzen orientierte Theoretiker (man bezeichnet ihn oft auch abwertend als «Ideologen») in der Politik die Kunst sieht, «das Unmögliche möglich zu machen».

Das «Wie» dieser Kunst, die Strategie, welche von einem als unbefriedigend empfundenen Zustand A zu einem als besser erhofften Zustand B führt, kann nur von Praktikern und Theoretikern gemeinsam erarbeitet und in die Tat umgesetzt werden. Es ist eine «Strategie des geordneten Rückzugs» aus dem vom sozialen Machbarkeitswahn geprägten und von Kriegen und Krisen vorangetrieben Interventions-, Bevormundungs-, Umverteilungs- und Versorgungsstaats, der weder permanenzfähig noch zukunftstauglich ist und damit auch keine wirklich sozialen Funktionen wahrnimmt.

«Die Strategie des geordneten Rückzugs» tönt vielleicht etwas konservativ und ist als Motto eines politischen Programms zu wenig attraktiv. Man kann dieselbe Strategie auch «Aufbruch zu neuen Ufern» nennen, denn Freiheit und Autonomie sind Ziele, die vor uns liegen und die nie definiv erreichbar sind.

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