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Politische Grundbegriffe


Klappentext

Politik ist immer auch eine Auseinandersetzung um die Auslegung von Begriffen. Traditionelle Bedeutungen konkurrieren mit Slogans der Werbeleute und mit parteipolitischer Polemik. Nach 1989 ist es weltweit zu unterschiedlichen neuen Positionierungen im herkömmlichen parteipolitischen Rechts-Mitte-Links-Spektrum gekommen, und dieser Prozess hat auch in der Schweiz Impulse für neue Koalitionen und Abgrenzungen ausgelöst, die in ihren Auswirkungen noch nicht abschätzbar sind. Die Stiftung Liber’all, welche sich in den Dienst der Förderung des liberalen Gedankenguts stellt, hat in dieser Situation die vorliegende Studie in Auftrag gegeben. Zunächst werden die ideengeschichtlichen und terminologischen Voraussetzungen unvoreingenommen geklärt. Dann gilt es, anhand von Grafiken die Orientierung innerhalb von Grundoptionen zu erleichtern und in einem Glossar die wichtigsten Begriffe kurz zu erläutern Schliesslich werden anhand von ausgwählten aktuellen Grundsatzfragen mögliche l iberale Positionen exemplifiziert. Erstmals wird in der Studie eine klare Unterscheidung von zwei linken und zwei rechten Flügeln begründet.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Erster Teil: Politische Grundbegriffe

Einleitung

Fragen der Herausgeber an den Autor

1. Die Dreiteilung «Wirtschaft», «Staat», «Zivilgesellschaft»
1.1 Unterschätzte Zivilgesellschaft
1.2 Neun Leitsätze: Orientierungshilfe und Traktandenliste
1.3 Zum Begriff «Zivilgesellschaft»
1.4 Dreieck, Kreis, Rechteck, die verwendeten Symbole
1.5 Vom «Dürfen» zum «Können»
1.6 Was sollen wir tun?
1.7 Historische Dreibegriff-Programme
1.8 Der Staat
1.9 Die Wirtschaft
1.10 Die Zivilgesellschaft
1.11 Etatisten, Ökonomisten, «Zivilgesellschaftler»

2. Was hat Vorrang?

  • Primat der Politik?
  • Primat der Zivilgesellschaft?
  • Primat der Wirtschaft?

2.1 Istzustand, Sollzustand, Handlungsbedarf
2.2 Prinzipabweichungen in Übergangszeiten
2.3 Selbstbild, Fremdbild, Feindbild

3. Warum das «Links-Rechts-Schema» fragwürdig geworden ist
3.1 Begriffswandel und Vieldeutigkeit der Begriffe als Realität und Chance
3.2 Freund/Feind, Entweder/Oder
3.3 Gründe gegen das Links-Rechts-Schema
3.3.1 Regierung und Opposition
3.3.2 Obsolet gewordene Unterscheidung zwischen Fortschritt und Konservierung
3.3.3 Ökologismus zwischen «links» und «rechts»
3.3.4 Individuell – kollektiv
3.3.5 Historische Altlasten und Feindbilder

4. Warum das Links-Rechts-Schema trotzdem unverzichtbar ist
4.1 Umverteilender Wohlfahrtsstaat: «Mehr», «gleich viel», «weniger»
4.2 Etatismus
4.2.1 Linksetatismus
4.2.2 Rechtsetatismus
4.3 Antietatismus: Weniger Zentralität und Bürokratie
4.3.1 Rechter, marktwirtschaftlicher Antietatismus
4.3.2 Linker, antiautoritärer Antietatismus

5. Neue «Störfaktoren» im «Links-Rechts-Schema»
5.1 Das Kriterium der Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie)
5.1.1 Linke Xenophilie, rechte Xenophobie, Theorie und Empirie
5.1.2 «Faschos» und «Anti-Faschos»
5.1.3 Wer repräsentiert die Unterprivilegierten, die Rechte oder die Linke?
5.2 Linke und rechte Technophobie, linke und rechte Technophilie
5.3 Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Neuen, Angst vor dem Risiko, d.h. linke und rechte Futurophobie, Sehnsucht nach Stabilität und Nach-haltigkeit
5.4 Globalisierung: Rechte Befürwortung, linke Kritik
5.5 Supranationalität oder souveräner Nationalstaat
5.6 Drogenmarkt/Drogenpolitik
5.7 Rechter und linker Kommunitarismus
5.7.1 Kommunitarismus als Wohlfahrtsstaatskritik
5.7.2 «Staatlicher Zwang» oder »Freiwilligkeit» als Hauptkriterium zwischen «links» und «rechts»

6. Der schweizerische «Parteienbaum» (Graphik 8)

Zweiter Teil: Glossar

Dritter Teil: Politische Vorträge und Essays

1. Liberalismus ohne Adjektive
2. Wege in die Freiheit
3. Weniger Staat – mehr Sicherheit, Recht und Ordnung
4. Staat und Geschlechterrollen und im Wandel
5. Wie attraktiv ist der Liberalismus für junge Menschen?
6. Wider den Drang zur Mitte
7. Freiheit und Non-Zentralismus
8. Nachtwächterstaat, Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat – wohin geht der Weg?
9. Die soziale Verantwortung der Wirtschaft gegenüber dem Staat
10. Neidgesellschaft und Umverteilungsstaat im Vormarsch
11. Mehr liberales Selbstbewusstsein
12. Unterwegs zum Liberalismus des 21. Jahrhunderts

Zur Stiftung Liber’all

Vorwort

Der Auftrag, welcher den Anstoss zur vorliegenden Schrift gab, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Es soll angesichts der zunehmenden Unsicherheit beim Bezeichnen und Bewerten politischer Ideen, Prinzipien und Programme eine Übersicht über die wichtigsten gebräuchlichen politischen Grundbegriffe vermittelt werden. Die Darstellung soll in Form von kommentierten Abbildungen und Symbolen und anhand von Leitsätzen erfolgen sowie durch ein Glossar, das die wichtigsten Begriffe so kurz und so einfach wie möglich umschreibt. Auf diesem Weg soll den politisch Interessierten eine Orientierungshilfe geboten werden, die das Setzen von persönlichen Schwergewichten erlaubt und auch die Position des jeweiligen politischen Gegners verständlicher macht. Dank dieser «Landkarte politischer Grundideen» sollen verschiedene Ziel- und Routenwahlen ermöglicht und erleichtert werden.

Bei der Erfüllung des Auftrags zeigten sich folgende Schwierigkeiten:

  • Im Bereich der politischen Terminologie ist heute Vieles im Fluss. Es benützt nicht nur jede politische Richtung ihr eigenes Vokabular, sondern dieselben Begriffe werden in unterschiedlichen Zusammenhängen verschieden verstanden, z.B. «Freiheit», «soziale Gerechtigkeit» und «Sicherheit». Der in den 68er Jahren propagierte «lange Marsch durch die Begriffe» hat tatsächlich ursprünglich einigermassen klare Abgrenzungen verwischt.
  • Nach dem Fall der Berliner Mauer, fielen im deutschen Sprachbereich auch die ideologischen Schranken, und es ist heute nicht nur zwischen Deutschen, Österreichern und Deutschschweizern eine einheitliche Terminologie in Frage gestellt, sondern auch zwischen «Ossis» und «Wessis», die sich im Lauf von 50 Jahren auch diesbezüglich unterschiedlich entwickelt hatten.
  • Zahlreiche Grundbegriffe haben in verschiedenen Sprachen und Kulturen eine divergierende Bedeutung, so etwa «Liberalismus» (in den USA tendenziell interventionistisch) und «Föderalismus» (in den USA und im UK tendenziell zentralistisch.
  • Die Unterscheidung von «rechts» und «links» war schon immer mit Problemen verbunden, weil sich verschiedene Grundhaltungen nicht eindeutig auf der einen oder andern Seite positionieren liessen. Diese Schwierigkeiten haben sich in letzter Zeit noch akzentuiert, weil auch die Kriterien der Zuweisung, z. B. «progressiv» oder «konservativ» ins Rutschen gekommen sind. Man unterscheidet heute in der aktuellen Parteienlandschaft fast nur noch ««mitte-links»«, «mitte-mitte» und «mitte-rechts».
  • In der Parteienlandschaft der Schweiz herrschte schon immer eine grosse Vielfalt vor. Viele Parteien haben nicht nur von Kanton zu Kanton unterschiedliche Meinungsprofile, selbst die Bezeichnungen können variieren. Auch die Parteiflügel unterscheiden sich von Kanton zu Kanton sehr stark, und die unterschiedlichen Muster möglicher Koalitionen hat die Komplexität noch erhöht.
  • Die klassischen politischen Fragestellungen können nicht mehr ausschliesslich nach dem Fragenmuster «Mehr oder weniger Staat» beantwortet werden. Man muss heute deutlich zeigen, wer wann und wie eine öffentliche Aufgabe bzw. eine bisherige öffentliche Aufgabe erfüllen soll, und aus welchen Mitteln sie zu bezahlen ist. Der Staat steht im Rahmen des Strukturwandels in Wirtschaft und Gesellschaft ebenfalls vor einem grossen Anpassungs- und Änderungsbedarf.
  • Es gibt heute eine Reihe von neuen Fragestellungen, die innerhalb der bestehenden traditionellen Parteigruppierungen höchst kontrovers sind, z.B. Einwanderungs- und Asylpolitik, Drogenpolitik und Europapolitik, mit zunehmender Tendenz auch Neutralitätspolitik und Sicherheitspolitik. Solche Fragen sind weder mit dem traditionellen «Links-Rechts-Muster» noch mit der Unterscheidung «interventionistisch» «nicht-interventionistisch» zu lösen, da es um verschiedene Varianten der Intervention oder der Nicht-Intervention geht. Auch hier sind vielfältigste Koalitionen von Gruppierungen denkbar, die je nach Frage miteinander oder gegeneinander politisieren.
  • Schliesslich stellte es sich auch heraus, dass es kaum möglich ist, einen Bearbeiter zu finden, welcher eine solche Übersicht darstellt, ohne dass ein persönliches politisches Engagement immer wieder durchschimmert Die vorliegende Zusammenstellung ist nicht primär aus liberaler Perspektive geschrieben; sie soll auch einer Leserschaft mit andern politischen Überzeugungen nützliche Informationen vermitteln. Aber der politische Standort des Verfassers, der das Liberale Institut leitet und Chefredaktor der bürgerlichen «Schweizer Monatshefte» ist, kommt doch immer wieder zum Ausdruck.

Angesichts dieser Schwierigkeiten, wäre es naheliegend gewesen, den Versuch der geplanten Abbildungen und Erläuterungen wieder fallen zu lassen. Die Auftraggeber und Herausgeber haben einen andern Weg gewählt. Sie haben in einer Arbeitsgruppe die vorliegenden Entwürfe überarbeitet und die dabei auftretenden Kritik in Form von Fragen dem Text in einer Einleitung vorangestellt, in der Hoffnung auf eine möglichst konstruktiv-kritische Leserschaft, weiche sich durch Schwierigkeiten und Zweifel nicht davon abhalten lässt, mit den Begriffen zu «hadern» und nach eigenen Lösungen zu suchen.

Erster Teil: Politische Grundbegriffe

Einleitung

Fragen der Herausgeber an den Autor

Herausgeber: In der Politik ist heute vieles im Fluss. Dies zeigt sich auch in der Terminologie. Manchmal hat man den Eindruck, Grundsatzpolitik sei wirklich zu einem Streit um Worte degeneriert. Ist aus dieser Sicht die Publikation einer Auslegeordnung des Bisherigen sinnvoll, oder bleibt ein solches Unterfangen nicht immer eine Sandkastenübung für Sandkastenstreite?

Autor: Die Politik ist immer auch eine Auseinandersetzung um Worte, aber dahinter stecken die tatsächlichen Probleme. Übersichten können da keine definitive Klarheit schaffen, aber sie können als Orientierungshilfe dienen. Wer sich selbst aufgrund der Medien eine Meinung bilden will, muss das Wahrgenommene in einen grösseren Zusammenhang stellen können. Es ist wichtig, dass man sich immer wieder Rechenschaft ablegt, wovon man eigentlich spricht.

Herausgeber: Die letzten Wahlen liegen schon fast ein Jahr zurück und die nächsten finden erst in gut drei Jahren statt. Inzwischen werden noch zahlreiche Grundsatzdebatten geführt werden. Ist dies wirklich der richtige Zeitpunkt für eine solche Publikation?

Autor: Eine solche Publikation ist immer unter bestimmten Gesichtspunkten «zu früh» oder «zu spät». Die Auseinandersetzung mit Grundsatzfragen ist an keine Wahltermine gebunden. Die Fragen, welche beispielsweise Christoph Blocher in seiner Broschüre «Freiheit statt Sozialismus» aufgeworfen hat, sind im vorliegenden Beitrag miteinbezogen worden. Diese Debatte ist noch nicht abgeschlossen.

Herausgeber: Betrifft die «Auslegeordnung» nur die Schweiz, oder hat sie auch im europäischen Kontext eine Bedeutung? Ist es überhaupt sinnvoll, eine Übersicht über Begriffe darzustellen, welche sich nur auf die Schweiz beziehen?

Autor: Der Beitrag ist von einem Schweizer für eine Schweizer Leserschaft geschrieben worden. Selbstverständlich ist die Schweiz, was die «grosse politische Ideengeschichte» betrifft, keine terminologische Insel. Für die Weiterentwicklung politischer Ideen hat der Schiffbruch des Kommunismus und der Fall der Berliner Mauer eine einschneidende Rolle gespielt. Seit 1989 existiert eine neue europa- und weltpolitische Situation, die auch für die Schweiz eine zentrale Rolle spielt. In der Zeit des Kalten Kriegs gab es ein eindeutiges Feindbild. Der Ostblock wurde vereinfachend als «links» bezeichnet, und die andere Seite konnte sich einfach unter dem Banner der Antilinken sammeln. Dies ist heute nicht mehr möglich. Entweder das «Links-Rechts-Schema» hat ausgedient, oder wir müssen die Frage beantworten, was es heute bedeutet. Ich komme in meiner Übersicht zum Schluss, dass es gute Gründe gibt, an der vereinfachenden, aber orientierenden Zweiteilung festzuhalten.

Herausgeber: Gefragt wäre heute eine Abbildung, an der man sich auf einen Blick orientieren kann, wo man politisch steht; die vorliegenden Abbildungen und Erläuterungen sind aber ziemlich kompliziert und schwer lesbar.

Autor: So erwünscht dies auch wäre, – aber Grundsatzfragen lassen sich nicht «holzschnittartig» darstellen. Immerhin gibt es in der Zusammenstellung doch eine grössere Zahl von einfachen, sloganartigen Formulierungen, welche zur Diskussion gestellt werden. Mit der Bezeichnung «Zivilgesellschaft» ist ein Begriff übernommen worden, der fruchtbare Diskussionen ermöglicht. Vielleicht gelingt es später einmal aus etwas grösserer Distanz zu den heute aktuellen Fragestellungen etwas Einfacheres vorzulegen.

Herausgeber: Die Übersicht zeigt viele Fragen und Probleme, aber wenig praktische
Antworten. Der politische Praktiker hat wenig davon, da die Fragen der Umsetzung zu kurz kommen.

Autor: Die Auslegeordnung dient nicht dem Zweck, ein sofort praktikables politisches Aktionsprogramm darzustellen. Es bietet eher einen «Fragenraster», eine «Traktandenliste». Ich hoffe aber, die Antworten, welche noch zu finden sind, seien besser, wenn sie auf dem Hintergrund von systematischen Fragen und von einer Ausrichtung auf Grundsätze gefunden werden.

Herausgeber: Es fällt auf, dass über typisch schweizerische Institutionen wie «Föderalismus», «Gemeindeautonomie», «Arbeitsfrieden» kaum etwas Handfestes in den Abbildungen und Erläuterungen erscheint. Auch Grundsatzfrage «Sonderfall, ja oder nein?» kann aufgrund der Übersichten und Erläuterungen nicht besser beantwortet werden.

Autor: Diese Modelle werden nicht ausdrücklich miteinbezogen, aber sie sind auch nicht ausgeklammert. Die entscheidenden politischen Fragen spielen sich aus meiner Sicht nicht mehr bei der Abgrenzung von Kompetenzen zwischen Gemeinden, Kantonen und Bund ab, sondern im Spannungsfeld «staatlich» /»privat». Die Frage nach dem Stellenwert der nationalen Souveränität und der europäischen Integration ist für die politische Zukunft dieses Landes wichtig, aber die Option für oder gegen den einen EU-Beitritt ist nicht ausschliesslich prinzipiell zu begründen. Sie hängt auch von der künftigen noch offenen Entwicklung der EU ab, ist also nicht in erster Linie anhand von Grundsätzen, sondern von Prognosen, Hoffnungen und Befürchtungen zu beantworten, die wiederum mit Grundsätzen zu konfrontieren wären. Solche Kriterien würden zu völlig andern Übersichten führen.

Herausgeber: Auch die Schweiz hat die Probleme des Strukturwandels zu bewältigen. Kann man diese Probleme anhand von «Abgrenzungen» und «Leitsätzen», die z.T. noch aus dem vorletzten Jahrhundert stammen, tatsächlich lösen? Was bedeutet dies alles z.B. in der Arbeitsmarktpolitik, in der Gesundheitspolitik und in der Bewältigung des Mulitkulturalismus?

Autor: Ein grosser Teil dieser Probleme ist in erster Linie im Rahmen der Zivilgesellschaft zu lösen. Darum hat dieser Bereich in den Übersichten eine zentrale Stellung. Es braucht eine intensive Vernetzung zwischen Zivilgesellschaft und Wirtschaft, um tragfähige, tauglich Lösungen zu finden.

Die Politik hat zwar nicht völlig ausgespielt, aber sie kann lediglich günstige Voraussetzungen schaffen und – vor allem – wenn irgend möglich «nicht schaden». In den Abbildungen findet man zwar auch Hinweise auf Lösungsmuster, die von einem «Primat der Politik» ausgehen. Ich meine aber, dass sich die Politik auf einem Rückzug aus einem politischen «Problemlösungsstau» befindet. Dieser Rückzug sollte sich nicht als Flucht, sondern als geordnete Konzentration auf das Kerngeschäft abspielen.

1. Die Dreiteilung «Wirtschaft, Staat, Zivilgesellschaft»

1.1 Unterschätzte Zivilgesellschaft

Die Gesellschaft besteht aus einer unendlichen Vielzahl von Verbindungen und Vernetzungen. Wer sich darin orientieren will, muss vereinfachende Modelle zurückzugreifen. Jede Vereinfachung verfälscht aber die Realität und kann in die Irre führen. Schon in der Antike wurde zwischen «Politik», «Ökonomie» und «Ethik» unterschieden, und die neuere Politikwissenschaft unterscheidet drei «Subsysteme»: «Staat», «Wirtschaft» und «Sozio-Kultur», die in komplexer Weise wechselseitig aufeinander einwirken. In der politischen Debatte ist die Unterscheidung des Bereichs «Staat» vom Bereich «Wirtschaft» bedeutsam. Wirtschaft und Staat sind aufeinander angewiesen. Über den jeweiligen Vorrang (Primat) gibt es zwischen und innerhalb der politischen Parteien immer wieder Diskussionen.

Oft wird übersehen, dass es neben «Wirtschaft» und «Staat» noch einen weiteren Bereich gibt, in welchem sich ein grosser Teil der Lebensvorgänge abspielt: die Zivilgesellschaft. Der Begriff «Zivilgesellschaft» zeichnet sich dadurch aus, dass er praktisch kaum Streit auslöst. Es besteht zwar keineswegs Einmütigkeit darüber, was darunter verstanden werden soll, aber die damit verbundenen Vorstellungen bilden eine gute Basis für die Suche nach politischer Übereinstimmung. Die Zivilgesellschaft setzt sich ihrerseits aus einer Vielzahl von überlappenden Gemeinschaften zusammen, die unterschiedliche Ziele verfolgen, welche üblicherweise mit dem zusammengesetzten Adjektiv «sozio-kulturell» charakterisiert werden. «Sozio-kulturelles» kann sich auch mit Wirtschaftlichem vermischen, und es kann auch politisch gestützt und gefördert werden. Eine eindeutige Abgrenzung der Zivilgesellschaft von andern Gesellschaftsbereichen ist nur gegenüber dem Staat möglich, der als einzige Organisation legitimen allgemeinverbindlichen Zwang anwenden darf, während die Zivilgesellschaft wie auch die Wirtschaft auf grundsätzlich frei gewählten Vereinbarungen, Mitgliedschaften und Beteiligungen beruht. Nach einer, vor allem im angelsächsischen Kulturkreis weit verbreiteten Auffassung, sind demnach nur zwei grundsätzlich unterschiedliche Gesellschaftsbereiche zu unterscheiden: der Staat, der über Zwangsgewalt verfügt auf der einen und der ganze übrige Bereich auf der andern Seite. Der nicht-staatliche Bereich basiert auf freiwilligen Vereinbarungen, unabhängig davon, ob damit ein wirtschaftlicher, ein sozialer oder ein kultureller Zweck verfolgt wird. Obwohl die Grenzziehung zwischen dem Bereich «Wirtschaft» und dem Bereich «Zivilgesellschaft» aus dieser Sicht Schwierigkeiten bereitet, ist der Versuch einer Unterscheidung im Rahmen einer Auslegeordnung politischer Grundbegriffe sinnvoll. Die Schweiz hat durch das historisch verwurzelte Subsidiaritätsprinzip in Verbindung mit dem Föderalismus und der Gemeindeautonomie auch in ihrem politischen System zivilgesellschaftliche Elemente, wie dies in der Bezeichnung «Eidgenossenschaft» zum Ausdruck kommt. Dies macht eine begriffliche Auslegeordnung aufgrund klarer Kriterien noch komplizierter und anspruchsvoller. Das besondere Augenmerk, das hier auf die Zivilgesellschaft gerichtet wird, trägt der Tatsache Rechnung, dass es nach unserm Verständnis wichtige Belange der Gesellschaft gibt, die sich weder unter «Wirtschaft» noch unter «Politik» subsumieren lassen, weil tradierte kulturelle und soziale Wertvorstellungen im Zentrum stehen. Zu diesem Bereich gehören:

  • Familien und andere Kleingruppen,
  • Kirchen, andere religiöse Organisationen,
  • Vereine und andere private bzw. selbstorganisierte Gruppierungen mit ideellen, kulturellen, gemeinnützigen, sozialen (karitativen, geselligen, sportlichen oder freizeitbezogenen) Zielsetzungen, sowie
  • Sogenannte «Non-governmental Organizations» und «Non-Profit Organizations» (NGO und NPO).

Die Zivilgesellschaft steht im Spannungsfeld von Staat und Wirtschaft, und die Politik der nächsten Jahre und Jahrzehnte wird sich zentral mit der Frage beschäftigen müssen, welche Probleme durch den Staat oder durch die Wirtschaft oder eben durch die Zivilgesellschaft zu lösen sind, und in welchen Formen der Kooperation oder Abgrenzung. Die Begriffsdefinition hängt also hier sehr eng mit der Abgrenzung der Aufgaben in Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammen und mit den folgenden Fragen:

  • Was hat Vorrang?
  • Welcher Bereich ist gegenüber welchem Bereich subsidiär oder übergeordnet?
  • Wo und wovon braucht es «mehr», bzw. «weniger»?
  • Was tritt in einer neuen Aufgaben- und Ausgabenteilung an die Stelle von was?

Die Politik steht also vor folgendem Fragenkomplex:
Was ist zu verstaatlichen, was ist zu privatisieren und was von den «privaten Aufgaben» soll von rein wirtschaftlichen oder von zivilgesellschaftlichen Trägerschaften wahrgenommen bzw. übernommen werden?

1.2 Neun Leitsätze: Orientierungshilfe und Traktandenliste

Die Abbildung 1 stellt neun Leitsätze dar.

Hinweis: Die Formulierung geht auf eine Rede des deutschen Nationalliberalen Friedrich Naumann, 1860-1919, zurück, der allerdings als Politiker seine Grundsätze sehr flexibel interpretierte und immer wieder andere Kompromisse einging.

Die drei mal drei kurzen sowohl interpretationsfähigen als auch interpretationsbedürftigen Leitsätze können als «Koordinatensystem» für die Frage nach dem Wesen und den Grenzen der einzelnen Bereiche verwendet werden. Die Beantwortung der zentralen Frage nach der Gewichts- und Prioritätsverlagerung bei der Aufgabenteilung in und zwischen den drei Bereichen wird dadurch erleichtert.

  • Der Staat, das sind wir alle. Der Staat darf nicht alles. Der Staat kann nicht alles.
  • Die Wirtschaft, das sind wir alle. Die Wirtschaft darf nicht alles. Die Wirtschaft kann nicht alles.
  • Die Zivilgesellschaft, das sind wir alle. Die Zivilgesellschaft darf nicht alles. Die Zivilgesellschaft kann nicht alles.

Parteipolitische Positionsbezüge spielen sich in einer pluralistischen Demokratie in der Regel innerhalb dieser neun kurzen Aussagen ab, wobei sich die Unterschiede vor allem in der Gewichtung und bei den Prioritäten manifestieren.

Die Abbildung 2 vermittelt einen Überblick über die Zusammenhänge und Abgrenzungen zwischen den drei Bereichen. In der ersten Rubrik links werden auf dieser Grafik drei wesentliche Aspekte unterschieden:

  1. Die wesentlichen Merkmale, insbesondere die Antwort auf die Frage:
    Wer und was gehört dazu? Stichwort: Zugehörigkeit, d.h. Charakteristikum,
    steuernde Prinzipien, vorherrschende Aspekte und Grundwerte.
  2. Die Grenzen, welche erfahrungsgemäss beim Überschreiten zu Missbräuchen führen, insbesondere die Antwort auf die Frage: Was ist zu verhindern? Stichwort: Kompetenz.
  3. Die Grenzen, welche erfahrungsgemäss die Fähigkeit, Probleme zu lösen zum Ausdruck bringen, insbesondere die Antwort auf die Frage: Funktioniert es? Stichwort: Problemlösungsfähigkeit.

1.3 Zum Begriff «Zivilgesellschaft»

Die Geschichte der politischen Ideen und der Parteien wird von verschiedenen Fachdisziplinen untersucht. Philosophen, Historiker, Staatsrechtler, Soziologen, Ökonomen und Politologen haben dazu eigene Terminologien entwickelt, welche bereits innerhalb der jeweiligen Disziplinen kontrovers sind, und für die es interdisziplinär erst recht keine Übereinstimmungen gibt. Der allgemeinste Begriff, welcher gebräuchlich ist, wenn man das Zusammenleben von Menschen analysiert, ist «Gesellschaft». Mit guten Gründen ist allerdings die Abstraktheit dieses Begriffs und seine missverständliche Vieldeutigkeit schon kritisiert worden, unter andern von Margaret Thatcher «There is no such thing as ‚society‘», so etwas wie die Gesellschaft gibt es gar nicht. Wenn man aber Phänomene wie «Staat» und «Wirtschaft» und «Kultur» unter einen neutralen und ideologisch unbelasteten Oberbegriff stellen will, bietet sich «Gesellschaft» trotzdem als Lösung an. Auch «Gesamtgesellschaft» ist gebräuchlich, wenn das Bedürfnis besteht, wirklich eine zusammenfassende und übergeordnete Ebene zu bezeichnen. Um darzustellen, dass es einen Gesellschaftsbegriff gibt, der als Oberbegriff über Teilbereichen wie «Staat», «Wirtschaft» und «Kultur» steht, wird häufig zu einer logischen Hilfskonstruktion gegriffen. Man unterscheidet die «Gesellschaft im weiteren Sinne», die alle Bereiche umfasst, von einer «Gesellschaft im engeren Sinne», die als Begriff gleichgestellt neben «Staat», «Wirtschaft» und «Kultur» erscheint. Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies hat im letzten Jahrhundert versucht, die Unterschiede zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft zu analysieren, wobei er «Gesellschaft» als die wertneutrale Bezeichnung für alle Formen tatsächlichen und rational fundierten Zusammenlebens verwendete und «Gemeinschaft» für emotionale, wertbezogene durch Traditionen verbundene Gruppen. Der Begriff ist im 20. Jahrhundert durch die totalitäre Idee der «Volksgemeinschaft» diskreditiert worden, welche die nationalstaatliche Gemeinschaft unter Ausschluss alles «Fremden» und «Feindlichen» als die Gemeinschaft schlechthin verabsolutierte. Da aber ein Terminus für jene gesellschaftlichen Bereiche, die nicht in erster Linie «staatlich» oder «wirtschaftlich» sind, unverzichtbar ist, bürgerte sich in der Politologie der Begriff «Soziokultur» ein, eine Bezeichnung die wenig anschaulich ist und den ursprünglichen Gehalt des Begriffs «Gemeinschaft» nur unzulänglich wiedergibt. Im Englischen hat der Begriff «Community» im politischen Umfeld an Bedeutung gewonnen, seit sich zahlreiche Sozialwissenschafter, im Sinn einer Alternative zum Kapitalismus, zum liberalen Individualismus und zum zentralistischen Interventionsstaat, «Communitarians» d.h. Kommunitaristen nennen. Als politische Bewegung sind die Kommunitaristen allerdings sehr heterogen, und ihr Programm hat in der Parteienlandschaft Europas eigentlich kein Pendant, – am ehesten vielleicht noch bei Tony Blairs «New Labour». (Vgl. dazu Ziff. 5.7)

In den Abbildungen wird anstelle des historisch belasteten Begriffs «Gemeinschaft» und des aus der Fachsprache stammenden Begriffs «Soziokultur» der Begriff «Zivilgesellschaft» verwendet. Die Zivilgesellschaft basiert auf einem Netzwerk von autonomen Vereinbarungen, Mitgliedschaften und Partnerschaften, die vorwiegend durch das Zivilrecht und durch traditionelle gesellschaftliche Normen reguliert werden und keiner staatlich erzwingbaren Allgemeinverbindlichkeit bedürfen.

1.4 Dreieck, Kreis, Rechteck, die verwendeten Symbole

Der Staat wird mit einem gleichseitigen Dreieck symbolisiert, welches das Wechselspiel der Kräfte und die notwendigen hierarchischen Strukturen zum Ausdruck bringt. Jeder Staat hat eine Regierung, eine Staatsspitze. Die Dreizahl spielt bei der Gewaltenteilung und im Staatsaufbau eine wichtige Rolle.
Im Dreieck wird auch der parteipolitische Pendelschlag zwischen «rechts» und «links» veranschaulicht.

Die Zivilgesellschaft wird mit einem Kreis symbolisiert, welcher zentrifugale und zentripetale Kräfte zeigt, und der einen Innenbereich von einem Aussenbereich nach unendlich vielen Kriterien abgrenzt. Korrekter wäre eine Figur mit überlappenden Kreisen, welche den Pluralismus zum Ausdruck bringen könnte, dafür aber die Anschaulichkeit beeinträchtigen würde.

Die Wirtschaft wird durch ein Rechteck symbolisiert, eine Figur, welche bei der Darstellung ökonomischer Kräfte auf zwei Achsen eine wichtige Rolle spielt, rationale Bezüge darstellt und, im Wechselspiel von Länge und Breite, Eigentum, Vertrag und Austausch zum Ausdruck bringt.

1.5 Vom «Dürfen» zum «Können»

Anfangs des 20.Jahrhunderts standen die normativen, ideologischen Fragen im Zentrum, die Fragen nach der Identifikation, der Zugehörigkeit, der Mitbestimmung einerseits und nach dem Dürfen und Nicht-Dürfen im Sinn einer Abgrenzung der Zuständigkeiten anderseits. Nachdem dieses von ideologischen Grossexperimenten (mit schwerwiegendsten Folgen) geprägte Jahrhundert hinter uns liegt, sollte – in Auswertung dieser Experimente – die politische Fragestellung der Zugehörigkeit und des «Dürfens» (die Frage nach der Rechtfertigung, «richtig» oder «falsch», «gut» oder «schlecht», «gerecht» oder «ungerecht». «zuständig» oder «unzuständig») ergänzt werden durch die Frage des Könnens, bzw. der Tauglichkeit, zur kurz-, mittel- und langfristigen und relativ dauerhaften Problemlösungsfähigkeit, die Frage nach der Möglichkeit und der Effizienz: «funktionstüchtig» oder «nicht funktionstüchtig», «akzeptabel» oder «nicht akzeptabel», «praktikabel» oder «nicht praktikabel», «mit vernünftigem Aufwand realisierbar» oder «mit vernünftigem Aufwand nicht realisierbar». Aus diesem Grund wird in der Abbildung 2 die erste Frage nach der Zugehörigkeit und die zweite Frage nach der Kompetenzabgrenzung mit der dritten Frage nach der Eignung und dem Können ergänzt.

1.6 Was sollen wir tun?

Bergriffsanalysen, Lagebeurteilungen und Positionsbezüge sind in der Politik nur eine Vorstufe der eigentlichen Aktivität. Letztlich geht es immer darum, konkrete Entscheidungen zu treffen und die Frage: «Was sollen wir tun?» zu beantworten. Während die Abbildung 2 die Probleme ohne politische Bewertung aufzeigt, werden in der Abbildung 3 aus liberaler Sicht einige Schlüsse gezogen. In welchen Bereichen man welche Gewichts- und Prioritätsverlagerungen für notwendig hält, hängt von der jeweiligen politischen Überzeugung ab (Abbildungen 4 und 5).

1.7 Historische Dreibegriff-Programme

Die Dreiteilung der Gesellschaft lässt sich bis in die antike Philosophie zurückverfolgen, und die Dreizahl von Zielen spielt in der Ideengeschichte eine wichtige Rolle. Man denke an «Glaube, Hoffnung, Liebe» im Neuen Testament, an «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» in der Französischen Revolution, «Personalität, Subsidiarität, Solidarität» in der katholischen Soziallehre und an «Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung» in einem neueren Programm der christlichen Kirchen. Neuerdings wird im Zusammenhang mit Grosshappenings auch immer wieder die lustbetonte Formel «Friede, Freude, Eierkuchen» verwendet. Es ist eine reizvolle und anspruchsvolle Hausaufgabe für alle politisch Interessierten, die eigenen Ziele in einer solchen Dreierformel darzustellen. Meist stehen die drei Ziele in einem Verhältnis der gegenseitigen Bedingung und Ergänzung, aber auch in einem Spannungsfeld, bei dem das eine nur auf Kosten des andern vermehrt werden kann. Die Reihenfolge ist oft auch eine Rangfolge, und die Frage ob man beispielsweise die von den christlichen Kirchen lancierte Dreierformel mit «Friede» oder mit «Gerechtigkeit» eröffnet, ist nicht unwesentlich. Linksparteien setzen eher «Gerechtigkeit» an die Spitze und stellen damit das Friedenspostulat in Frage (denn Kriege und Konflikte entzünden sich ja gerade an verschiedenen Auffassungen über Gerechtigkeit). Marktwirtschaftlich ausgerichtete Rechtsparteien stellen die Friedensordnung an den Anfang, im Bewusstsein, dass es «herrschaftsfreien Tausch» auch unter relativ ungerechten Verhältnissen geben kann und dass die «vollkommene Gerechtigkeit» ohnehin eine Utopie bleibt. Auch im Bereich der politischen Ziele sind innere Widersprüche eher die Regel als die Ausnahme.
Abbildung 6.

1.8 Der Staat

Der Staat, das sind wir alle. Der Staat darf nicht alles.
Der Staat kann nicht alles.

Damit sind die drei Prinzipien moderner Staatlichkeit, «Demokratie», «Rechtsstaat», und «Wohlfahrtsstaat» angesprochen. Sie ergänzen sich und stehen aber auch in wechselseitiger Spannung. In der heutigen Situation ist wohl der zweite Satz («Der Staat darf nicht alles») aktueller als der erste, da Demokratie als Prinzip ziemlich unbestritten ist, aber wirksame politischen Rezepte für eine Begrenzung der Staatsgewalt («limited government»), der Staatsaufgaben und der Staatsausgaben fehlen. Der dritte Satz («Der Staat kann nicht alles») nimmt Bezug auf die Frage nach der «sozialen Gerechtigkeit», welche durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilung erreicht werden soll, aber immer wieder an die Grenzen der Realisierbarkeit stösst. Der Wohlfahrtsstaat hat die Tendenz, mehr zu versprechen als er halten kann. Dies führt zur Verschuldung und zur Verlagerung der Folgen auf die nächsten Generationen, welche sich weder demokratisch noch rechtsstaatlich dagegen wehren können.

Aus sozialdemokratischer und liberaldemokratischer Sicht hat der erste Satz Vorrang, aus radikalliberaler Sicht der zweite. Über den dritten Satz gibt es auch innerhalb der jeweiligen Gruppierungen Diskussionen. Der Grund, warum auch etwa ein Tony Blair für Privatisierung ist, beruht weniger auf Satz 2 als auf Satz 3, welcher die unideologische aber sehr aktuelle Frage nach der Effizienz des Staates, d.h. nach seiner Problemlösungsfähigkeit, stellt.

1.9 Die Wirtschaft

Die Wirtschaft, das sind wir alle. Die Wirtschaft darf nicht alles.
Die Wirtschaft kann nicht alles.

Im Zusammenhang mit der Aufgabe der Abgrenzung liegt hier das Kernproblem. Einmal ist es wichtig zu sehen, dass «die» Wirtschaft nicht nur die Produzentenseite, die Anbieter, die Arbeit- und Kapitalgeber umfasst, sondern auch die Nachfrager, Konsumenten, die Kunden, die Arbeitnehmer. «Staat» und «Wirtschaft» sind über das Steuer- und Sozialversicherungssystem, durch die Wirtschaftspolitik und durch die staatlich finanzierte Infrastruktur eng miteinander verknüpft. Diese tatsächliche Verknüpfung ist aber kein Grund, die prinzipiellen Unterschiede von staatlich-hoheitlichen Problemlösungen und von privatautonomen vertraglichen Problemlösungen nicht mehr zu unterscheiden, da viele entscheidende parteipolitischen Profile ausgerechnet bei der Beantwortung dieser Fragen hervortreten.

Die Zeiten in denen nur eine kleine Gruppe von Kapitalisten an den Finanzmärkten beteiligt waren, sind heute vorbei. Wir haben zwar in Europa noch keinen eigentlichen Volkskapitalismus wie in den USA. Mindestens in ihrer Eigenschaft als Rentenanwärter sind alle Versicherten und auch alle Sozialversicherten – indirekt – auch Anteilseigner, d.h. Share-holders, welche mit guten Gründen an der Börse auch diesbezügliche Interessen einbringen bzw. einbringen lassen. Die Abhängigkeit von einer prosperierenden Wirtschaft ist auch für jene wichtig geworden, welche diesem Bereich keinerlei Priorität einräumen wollen.

Wo finden wir nun die Kriterien für das, was die Wirtschaft nicht darf? Ziemlich unbestritten ist die Auffassung, dass sich die Wirtschaft an die geltende Rechtsordnung zu halten hat und den ordnungspolitischen Rahmen, das Zivilrecht, das Strafrecht, das Umweltrecht und auch das Steuerrecht zu beachten hat.
«Die Wirtschaft darf nicht alles». Dahinter steckt noch ein weiteres Problem. Man kann wirtschaftliche Aktivität in einem weiteren oder in einem engeren Sinn definieren. Für viele ist «Wirtschaft» gleichbedeutend mit Aktivitäten, die sich im Tausch gegen Geld abspielen: Wirtschaft gleich Geldwirtschaft. Dies ist eine mögliche, aber doch ziemlich enge Auffassung. Die Wirtschaft in diesem engeren Sinn kann wirklich nicht alles. Es gibt auch einen Tausch im Bereich der Ideen, und es gibt auch Kompensationen, die sich nicht in materiellen Werten messen lassen. Die meisten Menschen wollen nicht einfach dauernd mehr Geld, sondern sehnen sich auch nach Anerkennung, Wohlbefinden, Vertrauen, Geborgenheit, Verständnis, Zuwendung, Erholung, Entspannung, nach Abenteuern, Fitness, Schönheit, Ruhm etc., alles Güter, die gegen Geld nicht einfach zu kaufen sind, wenigstens nicht tel-quel. Die Begründung von Lebenssinn, die spontane Mitmenschlichkeit und die schöpferische Phantasie unterliegen nicht, bzw. nicht ausschliesslich, dem wirtschaftlichen Kalkül.

Solche Güter werden in der Zivilgesellschaft durch «Netzwerke» vermittelt. Ist das noch «Wirtschaft»? Ist das nicht viel mehr «Kultur», bzw. «Soziokultur»? Die Frage kann offen bleiben. Eine klare Grenzziehung ist nicht möglich und auch nicht so entscheidend wie die Grenzziehung zwischen Staat und Nicht-Staat. (Aus diesem Grund ist in der Abbildung 2 die Abgrenzung zwischen «Staat» und «Zivilgesellschaft» doppelt gezogen, zwischen «Zivilgesellschaft» und «Wirtschaft» nur gestrichelt).

«Wirtschaft», das ist der Inbegriff des Tauschens zwischen Menschen, die alle ihr überlegtes Eigeninteresse wahrnehmen wollen und dürfen, die den friedlichen Tausch in Verträgen dem gewaltsamen Kampf vorziehen. Wirtschaft ist aus dieser Sicht nichts anderes als Kommunikation. Eine flexible Grenze zwischen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Aktivitäten birgt allerdings die Gefahr, dass schliesslich alles verwirtschaftlicht ist, sie birgt aber auch die Chance, dass man die kulturellen und sozialen Komponenten des Wirtschaftens wieder mehr ins Zentrum rückt. Kulturelles und Soziales kann auch wirtschaftlich angeboten werden, aber das Wirtschaften im weiteren Sinn hat stets auch eine kulturelle und soziale Komponente. So ist beispielsweise Arbeit nicht nur einfach Broterwerb, sondern auch etwas eminent Soziales und Kulturelles, eine Verknüpfung von Kräften und Wegen, ein Bestandteil der Selbstverwirklichung. Arbeit in diesem Sinn, als vertragliche Dienstleistung, als Tätigkeit des schöner, angenehmer und besser Machens, wird uns nie ausgehen.

1.10 Die Zivilgesellschaft

Häufig wird in diesem Zusammenhang einfach der Begriff «Gesellschaft» verwendet, was nicht ganz unmissverständlich ist, weil ja «Gesellschaft» in einem weiteren Sinn auch das ganze Übergeordnete (Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft) bezeichnet. Unter «Gesellschaft im engeren Sinn» bzw. «Zivilgesellschaft» versteht man in der Regel jenen schwer abgrenzbaren Bereich, der weder «Staat» noch «Wirtschaft» im engeren Sinn ist.

Die Zivilgesellschaft, das sind wir alle. Die Zivilgesellschaft darf nicht alles.
Die Zivilgesellschaft kann nicht alles.

Die Zivilgesellschaft (als Inbegriff aller Vertragsgemeinschaften) hat eine Schlüsselfunktion. Der Bereich ist daher in der Abbildung 2 in der Mitte angesiedelt. Das Wort «sozial», wurde ursprünglich ganz neutral für alles Gesellschafts- und Gemeinschaftsbezogenen verwendet. Aber es zeigt sich hier eine terminologische, begriffsgeschichtliche Schwierigkeit: die Verwechslung von «sozial», «etatistisch» und «sozialistisch».

Eine klare Trennung von Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, kommt schliesslich allen Bereichen zugute. Während man an der Grenze von «Wirtschaft» und «Zivilgesellschaft» für Offenheit plädieren kann, gibt es gute Gründe, «Staat» und «Zivilgesellschaft» gegenseitig klar abzugrenzen. Wer diese Grenze nicht beachtet, hat schliesslich Mühe, die sozialen Aufgaben, die soziale Verantwortung noch von dem abzugrenzen, was in einem Staat obligatorisch vorgeschrieben und zwangsweise durchgesetzt wird. Die Grenze zwischen «Recht» (staatlich sanktioniert) und «Ethik» (soziokulturell sanktioniert) wird verwischt. Wer diese Grenze aufhebt und «sozial» mit «staatlich» gleichsetzt, läuft Gefahr, in den Totalitarismus abzugleiten und die Bereitschaft zum freiwilligen ethischen Engagement durch Zwang zu ersticken. Es gibt aber auch nicht-staatliche Zwänge, die sehr einschneidend wirken. Die in der Zivilgesellschaft privatautonom organisierten soziokulturellen Gemeinschaften dürfen aus diesem Grund nicht alles. Unvermittelt verwandelt sich sonst alles zu einem «Dienst nach Vorschrift» oder zu einem Dogma mit unkontrollierbaren sozialen Sanktionen, und nichts reizt bekanntlich mehr zum Übertreten, als ein Überschuss an moralisierenden Vorschriften. Darum kann die mit dem «Prinzip Tradition» und mit weltweiter diesbezüglicher Vielfalt verknüpfte, auf direkte persönliche Kontakte angewiesene Zivilgesellschaft auch nicht alle Probleme einer hoch arbeitsteiligen, technisch zivilisierten Welt lösen, sie braucht die auf Tausch beruhende Wirtschaft und ein wirksames staatliches Sanktionssystem.

1.11 Etatisten, Ökonomisten, Zivilgesellschaftler

Es liegt nun nahe, die politischen Parteien nach dem Kriterium einzuteilen, welchem von den drei Bereichen, bzw. welchem von den neun Grundsätzen sie Priorität einräumen, die berühmte Frage nach dem «Primat». Es gäbe somit Ökonomisten (Primat der Wirtschaft), Etatisten (Primat des Staates, der Politik) und «Zivilgesellschaftler» (Primat der Zivilgesellschaft/ Soziokultur). Leider ist der naheliegende Terminus für die letzte Gruppe, die «Sozialisten» durch die politische Ideengeschichte «anderweitig besetzt» worden.
Vergleiche dazu auch Abbildung 1 und die Definitionen in Ziffer 7.

2. Was hat Vorrang?

  • Primat der Politik?
  • Primat der Zivilgesellschaft?
  • Primat der Wirtschaft?

2.1 Istzustand, Sollzustand, Handlungsbedarf

Abgesehen vom Portieren von Mandatsträgern formulieren Parteien nicht nur Ziele, sondern auch Programme und Methoden zu deren Erreichung. Vernünftige Programme basieren auf einem Vergleich zwischen einem kritisch beurteilten Istzustand (Diagnose) und einem postulierten Sollzustand (politisch erwünschter, geforderter, «gesunder» bzw. «gerechter» Idealzustand). Dazwischen liegt der parteipolitische Handlungsbedarf. Möglicherweise sind sogar die Unterschiede in den Methoden der Gesellschaftsgestaltung (der gezielten Einflussnahme bzw. dem bewussten Laissez-faire in Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft) charakteristischer als die nur zum Teil unterschiedlichen Ziele. Möglicherweise besteht das Wesen der Parteipolitik hauptsächlich in der Methodik der Veränderung nach der Grundentscheidung «freiwillig» oder «erzwungen», durch «Anreize» oder durch «Abreize».

2.2 Prinzipabweichungen in Übergangszeiten

Das Dreierschema von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ermöglicht verschiedene Antworten zur Frage nach dem Primat. Es kann sehr wohl sein, dass die Vorstellung besteht, man müsse im Rahmen eines politischen Programms kurz- und mittelfristig (im Rahmen einer «therapeutischen Phase») andere Prioritäten setzen, um dann zur besseren Zielverwirklichung in einen «Idealzustand» überzugehen. Die Forderung, es müssten in einer «Opferphase» Abweichungen von Zielen toleriert werden, welche dann durch allgemein befriedigendere Verhältnisse in einer verheissenen Zukunft zu kompensieren seien, ist ein weit verbreitetes aber nicht unproblematisches Modell politischer Strategie.

Die Abbildung 3 versinnbildlicht in vereinfachter Form die vorherrschenden «Therapiemodelle» der drei «klassischen» Parteigruppierungen und versucht mit der Grösse der drei Symbole und der Anordnung als «übergeordnet» und «untergeordnet» eine Gewichtung anzudeuten.

2.3 Selbstbild, Fremdbild, Feindbild

Parteien profilieren sich nicht nur durch das Selbstbild der eigenen Zielsetzung, sondern häufig auch durch die Distanzierung von den andern. Nicht selten wird dabei ein positiv gefärbtes Selbstbild einem negativ gefärbten Feindbild der andern gegenübergestellt.

3. Warum das «Links-Rechts-Schema» fragwürdig geworden ist

(Abbildung 7)

3.1 Begriffswandel und Vieldeutigkeit der Begriffe als Realität und Chance

So sinnvoll eine solche Einteilung der parteipolitischen Programme nach dem jeweiligen Primat (Staat, Zivilgesellschaft, Wirtschaft) auch wäre, sie geht an der Realität und an der politischen Begriffsgeschichte vorbei. Der Anspruch, hier «endlich einmal definitiv Ordnung zu schaffen» ist zu ambitiös. Die politische Terminologie lebt von der Unschärfe, von der Fähigkeit zwischen Verständnis und Missverständnis zu lavieren, Kooperationen trotz verschiedener Auffassungen (oft durch «versteckten Dissens») zu erleichtern und Entwicklungen mit «sanften Übergängen» zu begünstigen. Nicht zufällig verwenden die meisten Parteien bei ihrer Selbstcharakterisierung kombinierte Adjektive oder Bindestriche. Dies gilt erst recht bei der Bezeichnung parteiinterner Flügel. Ohne diese «Bindestriche» wären Koalitions- und Konkordanzsysteme kaum funktionsfähig. Man hat daher Politik auch schon mit der «Kunst des Lügens» verglichen, was nicht ganz fair ist. Es geht in der pluralistischen Demokratie um den gemeinsamen Umgang mit Verständnissen und Missverständnissen, um das gemeinsam bewegliche Lösen gemeinsamer Probleme auf der Basis eines «Agreements to disagree», einer «Übereinkunft auf Abruf». Politik ist und bleibt die Kunst des Möglichen, die Suche nach dem gemeinsamen Nenner, der beim Fällen von Entscheidungen Mehrheitsfähigkeit verspricht.

3.2 Freund/Feind, Entweder/Oder

Die Festlegung eines parteipolitischen Koordinatensystems, das in Form von Symbolen und Kurzdefinitionen eine allgemein verständliche und allerseits akzeptierte Positionierung erlaubt, ist ein altes Postulat. Das in der Ideen- und Parteiengeschichte immer wieder auftauchende dialektische Freund/Feindschema soll überwunden werden. Dies wird möglich, wenn Politik eine argumentative Auseinandersetzung um Positionen wird, welche auch friedliche Übergänge, Koalitionen und Kooperationen auf Zeit ermöglicht, jenseits des reinen Machtkampfs, bei dem es nur Sieg und Niederlage gibt: jenseits von «entweder – oder».

3.3 Gründe gegen das Links-Rechts-Schema

3.3.1 Regierung und Opposition
Konkurrenzsysteme und «Zweierschema»

Eine Möglichkeit der Überwindung des feindseligen Zweierschemas ist das Konkurrenzsystem zwischen Regierung und Opposition, wo ein friedlicher Wettkampf durch Wahlen die Regierungsmacht auf beschränkte Zeit überträgt bzw. ablöst. Solche Regierungssysteme begünstigen ein dualistisches Parteiensystem, allerdings um den Preis, dass sich in Demokratien die spezifischen Merkmale der jeweiligen Regierungs- und Oppositionspartei überlagern und immer unschärfer werden. An beiden Polen bilden sich «Flügel», die sich ihrerseits überlappen oder bekämpfen. So ist es in den USA nicht einfach, die jeweiligen «linken»(progressiven) oder «rechten»(konservativen) Flügel der Republikaner und der Demokraten gegeneinander abzugrenzen. Es ist kein Zufall, dass sich dort eine weitgehende Auflösung parteipolitischer Definitionen abzeichnet. «Im Zweiparteiensystem bezichtigt die eine die andere Partei der Unfähigkeit, regieren zu können, und beide haben recht», hat der amerikanische Publizist H. L. Mencken schon vor über fünfzig Jahren festgestellt. Das Regierungs- und Parteiensystem der Schweiz beruht nicht auf der Dialektik von Regierung und Opposition, obwohl die Medien diese Art von Gegenüberstellung wegen ihres Unterhaltungswerts favorisieren.

3.3.2 Obsolet gewordene Unterscheidung zwischen Fortschritt und Konservierung

Die ursprüngliche Bedeutung des «Links-rechts-Schemas» war
«progressiv = links» und «konservativ = rechts».
Drei Fakten haben das Schema, das nach dem «Fortschrittlichkeitsgehalt» fragt, unbrauchbar gemacht.

Die Frage, was «Fortschritt» bedeutet, ist nicht wertfrei zu beantworten. Man kann sich aus verschiedensten Motiven als «fortschrittsfreundlich» bzw. «fortschrittsfeindlich» bezeichnen, solange nicht definiert ist, welches das Ziel des Fortschritts ist. Sind beispielsweise Grüne, bzw. Ökologisten «fortschrittsfreundlich» oder «fortschrittsskeptisch»?

Im Moment, wo ein Machtwechsel nach jeder Wahl möglich wird, ist jede Partei eine aktuelle oder potentielle «Partei des Wechsels», die davon ausgeht, dass es «anders» und «besser» werden müsse. Bei dem, was zu konservieren bzw. wiederherzustellen ist, muss man ebenfalls differenzieren. Es gibt Strukturkonservative und Wertkonservative, und das Ziel des jeweils zu Konservierenden kann diametral verschieden sein. Strukturkonservative wollen bestehende Macht- Organisations- und Verteilungs-, bzw. Umverteilungs-mechanismen bewahren, d.h. es geht ihnen darum ein bestehendes Organisationsgefüge gegen den äusseren Wandel abzuschirmen. In einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat nach sozialdemokratischem Muster tendieren daher die Sozialdemokraten zum Strukturkonservatismus. Die Basler Sozialdemokraten hatten insofern Recht, als sie sich in der Wahlpropaganda von 1998 mit dem Slogan «Wir sind die echten Konservativen» charakterisierten. Wertkonservative möchten an bestimmten Werthaltungen festhalten und sind darum gerade an jenem Wandel interessiert, der zur Verwirklichung ihrer Werte optimale Bedingungen schafft. In Zeiten des Wandels tendieren Wertkonservative immer dazu, durch eine Anpassung der Strukturen das Festhalten an Werten trotz tatsächlicher Veränderungen zu ermöglichen und zu gewährleisten.

Wenn also ein bestimmtes Interventionssystem (beispielsweise der Umverteilungsstaat) etabliert ist, sind eigentlich diejenigen, welche für den Ausbau bzw. die Stabilisierung kämpfen die Konservativen, und jene welche eine Reduktion bzw. einen Abbau wollen, die Progressiven, im Sinn eines «Fortschritts in eine andere Richtung». Mit den Begriffen «Ausbau», «Rückbau», «Umbau», «Aufbruch», «Rückkehr», «Marschhalt» sind nur noch relative Positionen markiert, die über mögliche Inhalte und Ziele nichts mehr aussagen.

3.3.3 Ökologismus zwischen «links» und «rechts»

Wegen der real existierenden rot-grünen Koalitionen werden jene Gruppierungen, welche das Nachhaltigkeitsprinzip und «die Erhaltung der Schöpfung» postulieren trotz ihrer natur-konservativen Ausrichtung «links» eingestuft. Es ist aber unbestritten, dass eine etatistisch-linke Umverteilungspolititik primär national und international den Konsum und die private Mobilität anheizt, sodass Umweltschutz und Umverteilung, ökologische und soziale Nachhaltigkeit in Kombination mit «mehr Wohlfahrtsstaat», in Widersprüche mündet, die man entweder durch ein komplexes Interventionssystem (links-grün: mehr Staat, mehr Verbote, mehr Kontrollen) oder durch eine neue Kombination von Eigentumsrechten und Marktpreisen für knappe Güter (rechts-grün: mehr Wirtschaft, Anreize statt Abreize) wieder auflösen könnte. Die linke, etatistische, interventionistische Spielart des Ökologismus steht heute parteipolitisch im Vordergrund.

Grüne Parteien spalten sich nicht nur in Etatisten (heute die Mehrheit!) und Anti-Etatisten (mit einem ökonomistischen und einem kommunitaristischen Flügel), sondern auch in Technophile (Technikfreunde) und Technophobe (Technikfeinde), wobei die Ökonomisten meist technikfreundlich und die Kommunitaristen eher technikfeindlich argumentieren, während die Etatisten diesbezüglich neutral, bzw. an beiden Flügeln vertreten sind.

3.3.4 Individuell – kollektiv

Es gibt ein weiteres Kriterium, das sich dem Links-Rechts-Schema widersetzt: der Stellenwert von Individuum und Gemeinschaft, d.h. die Frage nach mehr oder weniger Individualismus, bzw. mehr oder weniger Kollektivismus.

Ein beliebtes aber problematisches Unterscheidungsmerkmal von «links» und «rechts» ist das Bekenntnis für oder gegen das Individuum bzw. das Kollektiv. Ist der Staat für den Menschen da oder der Mensch für den Staat? Bildet der Mensch von sich aus spontan Gruppen, ist er ein von Natur aus geselliges kooperatives Wesen, oder sieht er in den andern primär Konkurrenten oder gar Feinde?

Traditionellerweise gelten «Liberale» (d.h. Mitte-rechts Politiker) als Individualisten und «Linke» als Kollektivisten. Diese Unterscheidung hält einer genaueren Analyse nicht stand. Hier gilt es zunächst zwischen den erklärten Zielen und tatsächlich bewirkten Entwicklungen zu unterscheiden.

Der umverteilende Wohlfahrtsstaat entlastet die Kleingruppen und ermöglicht dadurch in der Praxis mehr Individualismus, der durchaus auch in mehr Gruppenegoismus und Einzelegoismus münden kann. Immer mehr egoistische Individualisten, welche gegenüber der staatlichen Gemeinschaft ihre «Sozialrechte» einklagen und das Kollektiv zur Erfüllung ihrer eigenen Wünsche einsetzen (sogenannte Desolidarisierung), sind eine Folge des Wohlfahrtsstaats, die ihrerseits als Motiv für «noch mehr vom selben» verwendet wird. Der wohlfahrtsstaatliche Etatist wird den Satz, dass der Staat für den Menschen und speziell für den bedürftigen Menschen da sei, sofort unterschreiben und sich diesbezüglich nicht als Kollektivist profilieren. Bezahlen sollen «die Reichen», welche sich ihrerseits nach dem individualistischen Prinzip «sauve qui peut» verhalten. Im Effekt sind dies alles eher individualisierende als kollektivierende Prozesse. «Weniger Umverteilungs- und Wohlfahrtsstaat» schafft aber eine Nachfrage nach mehr gegenseitiger Hilfe, nach sozialen, gemeinnützigen Organisationen und kann dadurch eine gewisse privatautonome, d.h. freiwillige und nicht erzwungene und auch im gegenseitigen Einverständnis wieder auflösbare Kollektivierung bewirken.

Der arbeitsteilige Kapitalismus basiert auf einem komplexen Netzwerk von Vertragsgemeinschaften, die alles andere als «individualistisch» und «atomistisch» sind. Man denke an die gemeinschaftsstiftenden Institutionen des Privatrechts (juristische Personen!) mit all ihren Chancen und Risiken.

Die egalitäre Idee atomistischer individualistischer Selbstverwirklichung isolierter möglichst gleicher Individuen mit globalisierten auf «sozialen Menschenrechten» basierenden möglichst gleichen Ansprüchen an die politische Organisation (Recht auf…) ist eher etatistisch-sozialistisch inspiriert. Demgegenüber steht die tauschorientierte marktwirtschaftliche Idee der freien und wirtschaftlich organisierten Kooperation von unterschiedlich motivierten und begabten Menschen. Sie ist allerdings verbunden mit dem Risiko des Missbrauchs und des individuellen Scheiterns.

Der Hauptunterschied zwischen linken und rechten Parteien ist nicht «mehr Individualismus» oder «mehr Kollektivismus», sondern die Beantwortung der Frage: Wie freiwillig ist die Kooperation, beruht sie auf allgemeinverbindlichen Gesetzen (links) oder auf privatautonom geschlossenen Verträgen (rechts)?

3.3.5 Historische Altlasten und Feindbilder

Eine massive Belastung des Links-Rechts-Schemas ist die problematische Charakterisierung des Faschismus und des National-Sozialismus als «rechts». Sowohl die Faschisten als auch die Nationalsozialisten waren etatistische Kollektivisten, also nach heutigem Sprachgebrauch tendenziell «links». Sie propagierten den Wohlfahrtsstaat und die Umverteilung (Motto: «Gemeinnutz geht vor Eigennutz») und bekämpften den offenen Welthandel und den Privatkapitalismus. Abgesehen vom Rassenwahn, der mit Markt, Privateigentum und Welthandel grundsätzlich nichts zu tun hat, und vom Nationalismus, der sich zwar oft (zu oft) mit dem Liberalismus verbündete, grundsätzlich aber damit keineswegs verknüpft ist, unterscheidet sich der National-Sozialismus in vielerlei Hinsicht nicht vom International-Sozialismus. Sowohl der National-Sozialismus als auch der International-Sozialismus gaben dem politischen System, bzw. dem Staat oder einem zentralistischen Bündnissystem, mindestens für eine Zwischenzeit, höchste Priorität. Beide stellten politische Macht über den Freihandel. Beide befürworteten hierarchische Systeme zur Durchsetzung der ideologischen Ziele. Beide verachteten das Individuum, seinen Erwerbstrieb, seinen Hang zur individuellen Selbstverwirklichung und sein Bedürfnis nach Freizügigkeit und nach freier Meinungsäusserung ausserhalb der «sozialistischen Ziele». Es gibt daher keinen plausiblen Grund, bürgerliche Konservative und liberale Befürworter der Marktwirtschaft mit demselben Adjektiv «rechts» zu kennzeichnen, das man auch für Faschisten und Nazis verwendet. Mit der Gleichung <«anti-links» gleich «rechts» und «rechts» gleich «rassistisch und faschistisch»> ist (z.T. mit Absicht) schon viel Verwirrung gestiftet worden. Allerdings ist auch die Gleichung «links» gleich «stalinistisch» unfair. Stalinismus kann als Extremform oder als Degenerationsform der staatssozialistischen Phase auf dem Weg zum Kommunismus gedeutet werden. Die Sozialdemokratie hat sich von den totalitären Methoden und vom gewaltsamen Übergang in glaubwürdiger Weise distanziert. Es gibt in der real existierenden Parteilandschaft heute weder auf der linken noch auf der rechten Seite erklärte Feinde des Pluralismus, und die gegenseitig unterstellte Neigung zum Totalitarismus ist mehr polemisch als sachlich gerechtfertigt. (Vgl. dazu auch Ziff. 7, «faschistisch», «national-sozialistisch»).

4. Warum das «Links-Rechts-Schema» trotzdem unverzichtbar ist
(Abbildung 8) «Zwei linke und zwei rechte Flügel» (Abbildung 9).

4.1 Umverteilender Wohlfahrtsstaat: «Mehr», «gleich viel», «weniger»

Trotz den unter Ziffer 3 abgehandelten Vorbehalten hat die Unterscheidung «links» und «rechts» nicht ausgedient. Es hat sich neben der «progressiv»/ «konservativ»- Komponente im Lauf des 19. Jahrhunderts ein anderes Unterscheidungsmerkmal profiliert, das aktuell geblieben ist und – wenigstens in Europa – die parteipolitische Landschaft weiterhin bestimmt und bestimmen wird.

Zu beantworten ist die Frage nach «mehr oder weniger Staat», sowie die Folgefrage, wer denn sonst die Aufgaben übernehmen sollte. Die rein quantitative Betrachtungsweise ist zu primitiv. «Der Staat» ist heute ein komplexes Gebilde, das Freiheit schützt, Sicherheit und Ordnung gewährleistet, bestimmte Ziele fördert, Mitbestimmung ermöglicht, Chancengleichheit verspricht, öffentliche Güter und Dienstleistungen bereitstellt und materielle Güter umverteilt. Je nach dem spricht man von Rechtsstaat, Ordnungsstaat, Leistungsstaat, Lenkungsstaat, Interventionsstaat, Versorgungsstaat, Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat, Umverteilungsstaat (mit wechselnden und schwammigen Definitionen, z.T. polemisch, z.T. propagandistisch verzeichnend).

Die real existierende Linke ist heute tendenziell für mehr Wohlfahrtsstaat, mehr Umverteilung, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Steuern (für die Reichen), mehr Steuerprogression, mehr interventionistischen Umweltschutz, mehr aktive Gleichstellungspolitik und mehr internationale Solidarität, und ist bereit ihre Ziele durch eine aktive, intervenierende Politik zu unterstützen, welche das Privateigentum und die Vertragsfreiheit nur im Rahmen der jeweiligen sozialen Funktion schützt.

Als Rechte bezeichnen sich jene, welche aus verschiedensten Gründen den wirtschafts- und sozialpolitischen Interventionismus und Protektionismus bekämpfen, in ebenso vielen Spielarten gegen einen Ausbau des Wohlfahrtsstaates eintreten (und die – diesbezüglich – «weniger Staat» und «mehr Privatautonomie» wollen), generell aber den Nationalstaat als Hort des Rechts und traditioneller Werte und als unverzichtbaren Garanten von Privateigentum, Familie und Erbrecht anerkennen.

4.2 Etatismus

4.2.1 Linksetatismus

Das heute vorherrschende Staatsverständnis bei der Etatismusdiskussion ist der Wohlfahrts- oder Umverteilungsstaat. Wer hier für mehr eintritt, bezeichnet sich mit guten Gründen als «links», wer für weniger eintritt als «rechts». Bei dieser Entscheidung drängen heute viele Politiker zur Mitte und lavieren mit dem Motto «Umbau statt Ausbau», oder «Rettung des Bestehenden durch Plafonierung».
Umverteilung wird durch Abgaben finanziert, darum sind Umverteiler auch für höhere Zwangsabgaben, meist verbunden mit dem Postulat nach mehr Steuerprogression zu Lasten der Reichen.

Die Progressiven waren ursprünglich für mehr Staatsintervention, für mehr Gleichheit durch Umverteilung, für eine Erhöhung des Staatseinflusses und der Staatsquote. «Links» ist seither gleichbedeutend mit «mehr Umverteilung», «mehr Wohlfahrtsstaat», «mehr soziale Gerechtigkeit», «mehr Gleichheit», «mehr Steuern». Allerdings kann man «mehr Gleichheit» mit verschiedensten Methoden erreichen wollen. Darum gibt es nicht nur eine Linke, sondern «alte», «neue», «etatistische» «antietatistische», zentralistische und dezentralistische, bürokratische und basisdemokratische, rationalistische und spontanistische, kommunitaristische und individualistische, idealistische und materialistische, religiöse und antireligiöse, nationalistische und internationalistische Spielarten.

4.2.2 Rechtsetatismus

Es gibt aber auf der politischen Rechten ebenfalls «Mehr Staat»-Verfechter, welche Staat und Gesellschaft (nach unterschiedlichen Grundmustern) nicht mehr trennen möchten, was man mit gutem Grund als «rechtstotalitär» bezeichnen kann.

4.3 Antietatismus, weniger Zentralität und Bürokratie

Der Antietatismus beruht auf der gemeinsamen Skepsis gegenüber den zentralen, bürokratischen Staatsapparaten. Man könnte ihn, positiv gewendet, auch mit dem Anarchismus- oder Minarchismus (d.h. mit einem gemässigten Anarchismus, der ein Minimum an ordnungsstiftender staatlicher Herrschaft akzeptiert) in Beziehung bringen. Es gibt hier zahlreiche Abstufungen von Staatsablehnung, Staatsskepsis und Staatsbefürwortung, die sehr verschiedene Motive haben. Die Einordnung des Anarchismus auf der Links-rechts-Skala ist problematisch. Mit guten Gründen kann man ihn am extremen rechten oder extremen linken Flügel lokalisieren, je nach dem ob er individualistisch (Rechtsanarchismus) oder kollektivistisch (Linksanarchismus) inspiriert ist.

4.3.1 Rechter, marktwirtschaftlicher Antietatismus

Der marktwirtschaftliche Antietatismus wird in der Regel als «rechts» eingestuft. Er reflektiert die Wohlfahrtsstaatskritik und optiert für offene Märkte und gegen Protektionismus und Interventionismus. In seiner Ausrichtung auf Privateigentum und Vertrag ist er gegen zentrale Bürokratien und fordert «beschränkte Regierungsgewalt und limitierte moderate Besteuerung («Limited Government and Limited Taxation»). Er richtet sich sowohl gegen linke als auch gegen rechte Interventionisten und Protektionisten und entspricht dem, was in den USA «libertarian» genannt wird.

Dieser «rechte» marktwirtschaftliche Antietatismus hat aber mit dem ebenfalls «rechts» genannten Programm der nationalistischen, konservativen Etatisten wenig Gemeinsamkeiten, und ein grosser Teil der «Links-rechts-Polemik» basiert auf dieser absichtlichen Gleichsetzung. Natürlich gibt es Personen, welche zwischen diesen beiden «rechten» Programmen lavieren und einen Kompromiss anstreben; es gibt aber ebensoviele, die grossen Wert auf eine Unterscheidung legen.

4.3.2 Linker antiautoritärer Antietatismus

Vom rechten Antietatismus ist der heute eher etwas in Vergessenheit geratene linke Antietatismus zu unterscheiden. Er hatte und hat auch eine «grüne» Komponente. Seine Blütezeit war in den 68er Jahren. Die antietatistische Linke forderte Selbstorganisation, Dezentralität, Spontaneität, «Small is beautiful», gesellschaftliche Deregulierung, mehr Toleranz, weniger Repression und weniger gesellschaftliche und ökonomische Disziplinierung durch Leistungsprinzip, Rollenautorität und Konformitätsdruck. Eines seiner Ziele war auch die Konvivialität mit der Natur, die Aussöhnung zwischen Ökonomie und Ökologie. Die antietatistischen Linken sehen im Staat nicht wie die linken Etatisten den «Freund und Helfer», den ««Umverteiler» und «Problemlöser», sondern den Komplizen der wirtschaftlich und gesellschaftlich Mächtigen. Bezeichnend ist dafür ein Slogan der antiautoritären Linken «macht aus dem Staat Gurkensalat».

5. Neue «Störfaktoren» im Links-rechts-Schema

5.1 Das Kriterium Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie)

Xenophobie bedeutet nicht Fremdenhass, sondern Fremdenangst. Ein gewisses Ausmass an Fremdenangst ist anthropologisch bedingt und weltweit stark verbreitet. Je mehr eine Menschengruppe vom Handel und Aussenhandel abhängt, desto weniger kann sie sich Xenophobie leisten, denn wer darauf angewiesen ist anderenorts willkommen zu sein, muss selbst auch Offenheit offerieren. Nationen und Kontinente mit schwindender Bevölkerungszahl sind tendenziell früher oder später auf Einwanderung angewiesen, sodass der Abbau von Fremdenangst durchaus im längerfristigen Eigeninteresse liegen kann. Xenophobie ist ein quantitatives und ein qualitatives Problem. Je ähnlicher die Zuwanderer sind, desto leichter werden sie toleriert und integriert. Möglicherweise gibt es eine Höchstzahl von Zuwanderern, welche eine grundsätzlich relativ xenophile, d.h. fremdenfreundliche Bevölkerung in die Xenophobie kippen lässt. Es gibt daher auch für tendenziell Xenophile Gründe, die Einwanderungspolitik auf die real existierende Akzeptanz abzustimmen, um die Xenophobie insgesamt nicht eskalieren zu lassen. Auch die Frage, ob und inwiefern das Einwanderungsland die Mitbestimmung über Quantität und Qualifikation der potentiellen Einwanderer in der Hand behalten darf, ist offen. Eine klare Unterscheidung von temporär aufgenommenen Asylanten, temporären Aufenthaltern mit andern Motiven und von eigentlichen Einwanderern vermag Gegenstand der Gesetzgebung und einer diesbezüglichen politischen Debatte sein, die durchaus auch innerhalb der herkömmlichen Parteien polarisierend wirken kann.

5.1.1 Linke Xenophilie, rechte Xenophobie, Theorie und Praxis

Die internationalistische Linke wird traditionellerweise als fremden- und einwanderungsfreundlich definiert, was sie ideengeschichtlich auch für sich beanspruchen kann. Die Sozialisten des 19. Jahrhunderts haben sich für die Überwindung nationaler Gegensätze eingesetzt, indem sie die gemeinsamen Klasseninteressen über die nationalen Interessen stellten. Sie waren auch als Pazifisten mehrheitlich gegen die nationalen Kriege. Da die Kriegswirtschaft aber auch eine etatisierende und sozialisierende Wirkung hatte und Arbeitsplätze nach dem Prinzip der Zentralverwaltung gesichert wurden, hielt sich der sozialistische Widerstand gegen den kriegsbedingten Nationalismus in ganz Europa in Grenzen. Heute ist die Arbeiterschaft durch zahlreiche Sozialwerke und Schutzbestimmungen auf nationaler Ebene geschützt und sieht potentielle Zuwanderer eher als Konkurrrenten auf dem Arbeitsmarkt denn als «Genossen» im Klassenkampf.

Demgegenüber gibt es einen nationalistischen, konservativen Anti-Überfremdungs-Etatismus, der «mehr Staat» fordert, sowohl bei der Kontrolle der Einwanderung und des Asylwesens als auch bei der Förderung einheimischer Wirtschaft mit tendenzieller Skepsis gegenüber dem globalen Freihandel (nationalistischer oder regionalistischer Protektionismus).

5.1.2 «Faschos» und «Anti-Faschos»

Diese saloppe neue Zweiteilung in rechte, fremdenfeindliche (xenophobe) «Faschos» und linke, fremdenfreundliche (xenophile) «Anti-Faschos» ist zwar eine grobe Vereinfachung, aber sie betrifft ein in Europa zunehmend sensibles Problem, das möglicherweise die Wohlfahrtsstaatsproblematik an Aktualität überholen wird und daher auch parteipolitisch und terminologisch Beachtung verdient.

Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) bzw. Fremdenfreundlichkeit (Xenophilie) ist aber heute weniger eine Frage der Parteizugehörigkeit als ein schichtspezifisches Phänomen. Unterschichten und untere Mittelschichten neigen tendenziell eher zu xenophoben Reflexen, weil sie auch direkter und oft negativer von der Einwanderung betroffen sind. Xenophobie ist – leider – tendenziell populär und darum für alle zynischen Mehrheitssucher von rechts bis links – losgelöst von der eigenen grundsätzlichen Ausrichtung – parteipolitisch attraktiv.

5.1.3 Wer repräsentiert die sog. Unterprivilegierten, die Rechte oder die Linke?

Unter der traditionellen Linkswählerschaft der Unterprivilegierten gibt es vermutlich mehr tendenziell Xenophobe als unter den als «rechts» bezeichneten Bürgerlichen der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. Das Auseinanderklaffen von «linker Theorie» und Gefolgschaft in der traditionellen Anhängerschaft erklärt verschiedene Fehlprognosen und ist einer der Gründe, warum das Parlament mit seiner Übervertretung von intellektuellen Linken in vielen Fragen nicht repräsentativ ist. Kaum jemand bekennt sich in Umfragen offen zur Xenophobie.

Analoges liesse sich zu zwei weiteren Problemkreisen sagen, in denen die aktuelle Anhängerschaft sich in vielfältigster weise mit den traditionellen Parteischranken und dem diesbezüglichen Links-Rechts-Schema überlappt.

5.2 Linke und rechte Technophobie, linke und rechte Technophilie

Analog zur Fremdenfeindlichkeit, die eigentlich auf einer Fremdenangst basiert, und zur Fremdenfreundlichkeit, welche Offenheit, Kontaktmöglichkeiten, mehr Vielfalt und mehr Wettbewerb, mehr Innovation und mehr Risikobereitschaft voraussetzt und auch begünstigt, spielt auch die Grundeinstellung zur technischen Zivilisation in der Politik eine zunehmend wichtige Rolle. Die Abgrenzungen zwischen Technikfeinden und Technikfreunden ist nicht identisch mit dem unter 5.1 beschriebenen «Fascho/Anti-Fascho-Graben». Unter den Technophoben gibt es auch zahlreiche besorgte Skeptiker, welche vor allem das Tempo des technischen Fortschritts kritisieren und nach Marschhalten rufen.

Die Angst des Arbeiters vor der Technik war ursprünglich eine Angst vor der rationalisierungsbedingten Bedrohung von Arbeitsplätzen. Heute spielt die politische Auseinandersetzung mit diffusen Ängsten (Atomenergie, Gentechnologie, Elektrosmog) eine wichtigere Rolle. Solche Ängste treten ebenfalls unabhängig von traditionellen Parteizugehörigkeiten auf, wobei es zu Koalitionen von rechter (wertkonservativ motivierter) und linker (strukturkonservativ motivierter) Technikfeindlichkeit kommen kann.

Eine Koalition von marktwirtschaftlich-bürgerlich denkenden Technikfreunden mit technologiefreundlichen Linken ist nicht unwahrscheinlich. Denkbar ist auch ein
ad-hoc Zusammenwirken linker und rechter Technikfeinde.

5.3 Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Neuen, Angst vor dem Risiko, d.h. linke und rechte «Futurophobie», Sehnsucht nach Stabilität und Nachhaltigkeit

Ähnlich liegt der Fall bei einer generellen Beurteilung der Zukunftschancen. Es gibt hier auf den ersten Blick «widersinnige» Koalitionen zwischen wertkonservativen rechten Kulturpessimisten und strukturkonservativen wirtschaftsfeindlichen linken Etatisten, welche gemeinsam mit unterschiedlichsten Motiven technische Innovationen bzw. «Wirtschaftswachstum» bekämpfen können. Umgekehrt kann es auch zu Koalitionen linker und rechter Technologie-Optimisten kommen. Wer im Bereich der internationalen Zusammenarbeit die Chancen höher bewertet als die Gefahren, kann eine «Allianz der Mutigen, Experimetierfreudigen» bilden, welche allerdings von Fall zu Fall auch eine Allianz der Verblendeten, der Machbarkeitsgläubigen sein kann.

5.4 Globalisierung: rechte Befürwortung, linke Kritik

Am wenigsten untersucht und oft verdrängt wird die Kombination der Befürwortung des Umverteilungs- und Wohlfahrtsstaats mit nationalistischen oder kontinentalistischen Gruppenegoismen, die auch «Solidarität» genannt werden. Die Linke gibt sich gegen aussen immer internationalistisch und globalistisch, hat aber in ihrer traditionellen Anhängerschaft einen sehr harten nationalistischen Kern. Die Verbindung von Umverteilungspostulaten und ihre gleichzeitige Beschränkung auf den nationalen Rahmen und den Schutz der eigenen Arbeitnehmer und Rentner vor «fremder Konkurrenz» ist eine sehr häufige und sehr populäre Form von sozialdemokratischer, eigentlich sozial-nationaler Linkspolitik. Solidarität tendiert stets zur Abgrenzung gegen aussen, zum Ausschluss Dritter. Es gibt heute auch einen gruppenbezogenen Sozialismus europäischer Prägung (Euro-Sozialismus), der die Abwehr gegen Nicht-Europa zum Ziel hat und gegen den Welthandel und die Globalisierung polemisiert.

5.5 Supranationalität oder souveräner Nationalstaat?

Eine klare Antwort auf die Beurteilung der EU-Mitgliedschaft lässt nach dem Links-Rechts-Schema nicht finden. Linke Wohlfahrtsstaats-Etatisten sind Schulter an Schulter mit rechten Deregulierungsförderern und liberalen Ökonomisten dafür, und rechte Nationalisten und Traditionalisten sind gemeinsam mit globalistischen, radikalliberalen Interventionsskeptikern dagegen. Die Option «dafür» und «dagegen» hängt sehr stark von der wohlwollenden oder misstrauischen Beurteilung des schweizerischen und europäischen Status quo und mit der optimistischen oder pessimistischen Beurteilung möglicher Entwicklungen zusammen. Auch sprach- und regionsspezifische Mentalitäten spielen eine grosse Rolle. In Wahlen und Abstimmungen kommt es anhand von dieser zentralen Frage zu Ad-hoc-Koalitionen unter Gruppierungen, die in anderen Fragen ziemlich unterschiedliche Meinungen vertreten. Deswegen werden vor allem die intern gespaltenen Parteien Verluste erleiden, während die klar optierenden zusätzlichen Zuzug erhalten. Man wird dies als «Polarisierung» zwischen «links» und «rechts» bezeichnen, ein Befund, der aber auf einer unzulänglichen Analyse und einer unzulässigen Vereinfachung beruht.

5.6 Drogenmarkt/ Drogenpolitik

Der Drogenmarkt ist ein besonderer Markt. Trotzdem – oder gerade deswegen – gibt es eine grosse Zahl von radikalen Marktwirtschaftern (also von «Rechten» nach herkömmlicher Terminologie), welche die völlige oder teilweise Freigabe des Drogenhandels fordern unter bewusster Inkaufnahme der dadurch geschaffenen Nachteile (z.B. der Nobelpreisträger Milton Friedman). Diese Befürworter der Liberalisierung kommen trotz verschiedener Grundpositionen zu vergleichbaren Postulaten wie die linken Befürworter der sogenannten Entkriminalisierung, für welche der Schutz einer sozialen Randgruppe im Zentrum steht. Es gibt aber auch eine linke Drogenpolitik, die den Handel schärfstens kriminalisieren will, dafür aber die Konsumenten über staatliche «Gratisabgabe» versorgen möchte, nach dem Motto: verstaatlichen statt liberalisieren. Zahlreiche konservative Rechte möchten das Drogenelend durch konsequente Verbote und durch verschärfte Kriminalisierung von Anbau, Handel und Konsum bekämpfen. Das Schema «linke Interventionisten gegen rechte Liberalisierer» ist also in diesem aktuellen Politikbereich unzutreffend.

5.7 Rechter und linker Kommunitarismus

Der Kommunitarismus ist als kritische Bewegung gegen zwei unterschiedliche Trends entstanden. Er möchte einerseits eine Alternative zum egoistischen Individualismus bieten und anderseits zum bürokratischen Etatismus.

5.7.1 Kommunitarismus als Wohlfahrtsstaatskritik

Die konfuse Diskussion rund um den Kommunitarismus krankt daran, dass man diese Trennung von freiwilliger und erzwungener Kooperation nicht sorgfältig genug vollzogen hat. Kaum ein marktwirtschaftlicher «Rechter» ist grundsätzlich gegen Kooperation und gegen freie und offene Vetragsgemeinschaften, und die Erscheinungen der «Vereinzelung» der gegenseitigen Gleichgültigkeit und des Verlustes an Gemeinsinn, den die amerikanischen Kommunitaristen beklagen, wird, nach deren Analyse, durch zu viel erzwungene Umverteilung im Wohlfahrtsstaat verursacht. Ein grosser Teil der amerikanischen Kommunitaristen sind engagierte Kritiker staatlich zentral organisierter Umverteilung, Kritiker des Wohlfahrtsstaates, dessen Promotoren sich in den USA als «Liberals» bezeichnen. In Europa bezeichnen sich eher die Befürworter des Wohlfahrtsstaats als Kommunitaristen.

5.7.2 «Staatlicher Zwang» oder «Freiwilligkeit» als Hauptkriterium zwischen «links» und «rechts»

Es gilt also in der Kommunitarismusdiskussion klar zu unterscheiden, ob wir es mit politischen Zwangsgemeinschaften oder mit wirtschaftlichen und sozialen Wahlgemeinschaften zu tun haben und in welchem Verhältnis beide zueinander stehen. Entscheidend ist nicht die Beantwortung der Frage, wie solidarisch und wie unsolidarisch, sondern wie «freiwillig solidarisch» und wie «erzwungen solidarisch» sich die Menschen in einer Gemeinschaft verhalten. Ein Zuviel an Zwang kann durchaus auch eine generelle Rückbildung der Solidaritätsbereitschaft bewirken. Solidarität ist nicht einfach ein «linkes Ziel» und Egoismus ein «rechtes»; das zutreffende Unterscheidungsmerkmal ist: «politischer Zwang» oder «privatautonome Freiwilligkeit», wobei man natürlich für beide Optionen Gründe ins Feld führen kann. Man kann das eine – aus rechter Sicht – als «kontraproduktiv» und das andere – aus linker Sicht – als «naiv» und «unwirksam» bezeichnen.

6. Der Schweizerische «Parteienbaum»

Eine aufgrund dieser Auslegeordnung systematisierte Charakterisierung der Parteien in der Schweiz ist nicht möglich, weil es nicht nur verschiedene Strömungen und Flügel gibt, sondern auch markante Unterschiede zwischen den Kantonalparteien, die auf eidgenössischer Ebene in denselben Fraktionen zusammenwirken. Die Abbildung 10, welche an das Symbol eines Baumes anknüpft, bei dem Wurzeln, Stamm und Verzweigungen sichtbar sind, ist daher lediglich ein Versuch der Veranschaulichung von aktuellen Tendenzen und Veränderungen.

Zweiter Teil: Glossar

Die Begriffe werden in Anknüpfung an die Abbildungen umschrieben und lehnen sich teilweise an das «Wörterbuch zur Politik» von Manfred G. Schmidt, Stuttgart 1995 und an den Band 7 des «Lexikons für Politik», herausgegeben von Dieter Nohlen, München 1998 an. Da in der Tagespolitik Grundbegriffe häufig als Adjektive verwendet werden, basiert das Glossar ebenfalls weitgehend auf Adjektiven.

Achtundsechziger

Die antiautoritäre Studentenbewegung welche dem Gedankengut der Neuen Linken verpflichtet war.

anarchistisch

Bezeichnung für Anhänger der Herrschaftslosigkeit und der Abwesenheit von staatlichem Zwang. Ziel: Eine herrschaftsfreie Ordnung eines Gemeinwesens in welchem die Kooperation und die Koordination der Tätigkeiten der Gesellschaftsmitglieder ohne Dazwischentreten staatlicher oder sonstiger autoritativer Ordungen erfolgen. Man unterscheidet einen extrem individualistischen Anarchismus (Anarcho-Kapitalismus) und einen kollektiv-sozietären Anarchismus (Anarcho-Kommunismus, Anarcho-Syndikalismus).

autoritär

Syndrom von Einstellungen, die zu einem Regime führen, das sich straff und hierarchisch organisiert, das demokratische Mehrheitsprinzip nur im Dienst der eigenen Ziele akzeptiert und in der Regel polizeistaatliche Methoden anwendet. Die Wertvorstellungen der politisch dominierenden oder alleinherrschenden Partei oder Gruppe können einer im engeren Sinn politischen Ideologie entstammen oder eine bestimmte Vorstellung von gemeinsam verbindlichen Werten verabsolutieren.

bolschewistisch

(Vom russischen Bolschewiki = Mehrheitler, nach der Trennung von den gemässigten Menschewiki) Bezeichnung der von Lenin geführten sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und ab 1918 der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Bolschewisten nannten sich die Exponenten des leninistischen und später des stalinistischen Flügels der Sowjetkommunisten. Die Bolschewisten praktizierten die Diktatur des Proletariats durch ein extrem hierarchisches, militarisiertes, zur Politisierung sämtlicher Lebensbereiche tendierendes Staatsverständnis.

bürgerlich

Bezeichnung für eine Grundhaltung von Wirtschafts- und Staatsbürgern, welche folgende Werte ins Zentrum stellen: Menschen- und Bürgerrechte, Privatautonomie, politische Mitbestimmung, Arbeit, Leistung, Disziplin, Sparsamkeit, Ordnung und rationale Lebensführung.

christlich-demokratisch

Bezeichnung für bürgerliche Zentrumsparteien, die programmatisch gekennzeichnet sind durch Frontstellung gegen Individualismus, Kollektivismus und Materialismus, durch die Befürwortung einer mit christlichen Normen und Werten verträglichen Gesellschaftsordnung und das Eintreten für eine Marktwirtschaft mit sozialer Komponente in Kombination mit einer aktiven Wirtschafts- und Sozialpolitik.

christlich-sozial

Bezeichnung für bürgerliche Mitte-links Partei, die eine mit christlichen Werten verträgliche Gesellschaftsordnung befürwortet, für wohlfahrtsstaatliche Umverteilung und soziale Sicherheit eintritt und Marktwirtschaft und Privateigentum mit staatlicher Sozialbindung akzeptiert.

dirigistisch

Bezeichnung für das Verhalten von Staaten, welche durch zwangsweise Lenkungsmassnahmen im Hinblick auf bestimmte Ziele in eine grundsätzlich marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung eingreifen.

etatistisch

Bezeichnung für eine Grundhaltung, welche die entscheidenden Problemlösungen vom Staat erwartet und den Einflussbereich des Staates auf Wirtschaft und Gesellschaft auszudehnen versucht.

extremistisch

Als extremistisch bezeichnet man Überzeugungssysteme, die an sich vertretbare politische Ziele derart masslos anstreben, dass sie sich über die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung hinwegsetzen.

faschistisch, nationalsozialistisch

Faschismus war die an die Gruppensolidarität appellierende ständestaatliche und nationalistische Spielart des antidemokratischen Führerstaats. Er vertrat das Primat des Poltischen über «Wirtschaft» und «Gesellschaft» und wollte bestimmte soziokulturelle Werte durch staatlichen Zwang fördern. In Italien wurde der Faschismus von Mussolini, in Spanien durch Franco und in Portugal durch Salazar verkörpert. Privatautonomie war nur in dem Umfang zugelassen, als sie dem nationalen Interesse diente. In der kommunistischen Literatur wird «faschistisch» mit «nationalsozialistisch» gleichgesetzt. In der westlichen Ideengeschichte wird der Nationalsozialismus mit dem Hitler’schen Rassenwahn, dem Antisemitismus und dem Führungsanspruch der «deutschen Herrenrasse» gleichgesetzt.

fundamentalistisch

Als fundamentalistisch bezeichnet man Bewegungen und Ideologien, welche die eigene Überzeugung mit absolutem Wahrheits- und Überlegenheitsanspruch propagieren und gegenüber andern Gruppen aggressiv und expansiv reagieren.

grün/ökologistisch

(siehe Ziff. 3.3.3)

Bezeichnung für eine am ökologischen Gleichgewicht orientierte politische Bewegung. Die Bewegung ist heterogen und hat einen etatistischen und einen staatsskeptischen sowie einen marktwirtschaftsskeptischen und einen pro-marktwirtschaftlichen Flügel. Heute geben die interventionsfreundlichen wirtschaftsskeptischen Vertreter den Ton an, welche für direktdemokratische dezentrale Strukturen eintreten und sogenannt postmaterialistische Ziele anstreben.

interventionistisch

Als interventionistisch bezeichnet man das Verhalten von Staaten, welche in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung durch Verbote, Gebote, Förderungen, Unterstützungen sowie durch Umverteilung via Zwangsabgaben systematisch und wirksam eingreifen.

kapitalistisch

Als kapitalistisch bezeichnet man den Typus einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die gekennzeichnet ist durch Privateigentum an Produktionsmitteln und Privatautonomie sowie durch die private Verantwortlichkeit für Gewinne und Verluste, durch nonzentrale Abwicklung von Austauschprozessen zwischen den Wirtschaftssubjekten auf offenen Märkten. Eine zentrale Bedeutung haben für den Kapitalismus offene Finanzmärkte und die Bewertung von Kapitalgesellschaften an der Börse.

keynesianisch

Fachausdruck für die vom englischen Ökonomen John M. Keynes (1883-1964) begründete Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes und der hierauf beruhenden antizyklischen Wirtschafts-und Konjunkturpolitik, welche die Produktion durch eine Stimulierung der Nachfrage (im Sinn einer Globalsteuerung) ankurbeln soll. Im Unterschied zum klassischen Liberalismus bezweifeln die Keynesianer die Selbstregulierungsfähigkeit der Marktwirtschaft und befürworten politische Interventionen zur Erreichung und Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung. Die heutigen Keynesianer sind zum Teil interventionistischer und etatistischer als Keynes selbst, der Interventionen nur in zeitlich und inhaltlich beschränkter Form und nur zur Überwindung von Krisen befürwortete.

klassisch-liberal

Jene Spielart des Liberalismus, welche einen klar begrenzten Rechtsstaat zum Schutz des Privateigentums und der staatlichen Ordnung befürwortet. Die Beschränkungen sind aber als Ausnahme zu einer vorbestehenden und allgemein vermuteten Freiheit des Individuums gestalten, nach dem Grundsatz: Im Zweifel für die Freiheit. Staatliche Interventionen in die Wirtschaft und die Gesellschaft sind nur als Notbehelfe zulässig. Der Wohlfahrtsstaat wird abgelehnt. Die Freiheitsdefinition ist negativ.

konservativ

Sammelbezeichnung für politische Strömungen, welche bestimmte Werthaltungen, Einrichtungen, Traditionen, Verhaltensweisen, Sitten und Gebräuche gegen Veränderer aller Art, inbesondere gegen revolutionäre Denk- und Politikstile, schützen wollen. Konservatismus ist «die Partnerschaft der Toten, der Lebenden und der Ungeborenen» (Edmund Burke). Zur Unterscheidung von «wertkonservativ» und «strukturkonservativ» siehe Ziff. 3.3.2

kommunalistisch

Bezeichnung für eine politische Grundhaltung, welche in konsequenter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips das Schwergewicht zur politischen Problemlösung auf kommunaler Ebene setzt.

kommunistisch

Kommunistisch nennt man jene Ideen und Theorien die auf eine radikale Veränderung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung abzielen, indem sie das Privateigentum an den Produktionsmitteln abschaffen und Gemeineigentum einführen. Der Kapitalismus soll zunächst durch eine sozialistische Gesellschaft mit zentral verwalteter Wirtschaft abgelöst werden und nach deren Reifung in eine kommunistische Ordnung münden.

kommunitaristisch

(siehe Ziff. 5.7)

Sammelbezeichnung für eine bestimmte Position in der politisch-philosophischen Debatte um die gerechte und faire Ordnung, welche Gemeinschaftlichkeit über Individualität stellt. Es gibt einen etatistischen Flügel, welcher zur Erhaltung und Förderung gemeinschaftlicher Ziele auch staatliche Interventionen zulässt, und einen anti-etatistischen Flügel, der vor den gemeinschaftszerstörenden Tendenzen wohlfahrtsstaatlicher Strukturen warnt.

kulturliberal

Jene Spielart des Liberalismus, welche die kulturelle Vielfalt und die kulturelle Kreativität ins Zentrum stellt und bereit ist, zugunsten der diesbezüglichen Ziele auch Staatseingriffe in die Wirtschaft in Kauf zu nehmen.

leninistisch

Bezeichnung der Lehre, die sich auf die Theorie und Praxis Lenins (1870-1924) beruft. Es handelt sich um eine Adaptation des Marxismus an das Industriezeitalter und an die besonderen Verhältnisse in einer relativ rückständigen Volkswirtschaft. Auf Lenin geht das Konzept einer Avantgardepartei zurück, welche die Funktion hat, Arbeiterschaft, Intellektuelle und Bauern zusammenzuschmieden und die zu diesem Zweck – für beschränkte Zeit – diktatorische Gewalt ausüben darf.

liberal

Eine weltanschaulich-politische Richtung, welche sich auf die Selbstbestimmungsfähigkeit des Individuums durch Vernunft beruft, Privateigentum und Privatautonomie befürwortet und sich die Bändigung von politischer Herrschaft durch Verfassung zum Ziel setzt.

liberal-konservativ

Bezeichnung für einen Kompromiss zwischen liberalen und konservativen Wertvorstellungen.

libertär

In den USA gebräuchliche Bezeichnung für klassisch-liberale und radikal-liberale Strömungen, die wegen des Bedeutungswechsels beim Begriff liberal (american liberal = europäischer Sozialdemokrat) an Bedeutung gewinnt. Freiheit wird negativ als «Freiheit von» definiert.

linksliberal/sozial-liberal

Jene Spielart des Liberalismus, welche staatliche Interventionen zur Förderung der Freiheit («positive Freiheit») und Chancengleichheit befürwortet und die dem Wohlfahrtsstaat gegenüber positiv eingestellt ist.

Manchester-liberal

Mitte des letzten Jahrhunderts in England entstandene, ursprünglich sowohl anti-protektionistisch als auch sozial motivierte Bewegung, welche für die Aufhebung von Privilegien und Handelsschranken kämpfte, mit dem Ziel, Marktchancen auch für «kleine Leute» zu eröffnen. Die Bewegung wurde von ihren Gegnern auf der konservativen rechten Seite (die um ihre Privilegien bangte) und auf der linken Seite (die das Monopol für «soziale Anliegen» beanspruchte und die grundsätzliche Staatsskepsis ablehnte) schon früh diskreditiert. Der Begriff «Manchestertum» wurde schon unter Bismarck (mit anti-britischem Unterton) zu einem anti-freihändlerischen Kampfbegriff und zum Synonym für eine Grundhaltung, welche das ökonomische «Laissez-faire» ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen vertritt.

maoistisch

Maoistisch nennt man jene Spielart des Marxismus-Leninismus die Mao Zedong (1893-1976) speziell für die Verhältnisse in China konzipiert hat. Sie geht von einer Überlegenheit des Landes (der Bauern) gegenüber den Städten (Industriearbeiter und Spezialisten) aus. Eine zentrale Rolle spielt dabei die kulturrevolutionäre Dynamik, welche radikale Veränderung durch radikale Umerziehung und Selbstkritik erreichen will. Dieser pädagogische Machbarkeitsglaube hat in Verbindung mit der Kapitalismus- und Zentralismus-Kritik und der Verherrlichung des nicht durch Arbeitsteilung und Zivilisation «verdorbenen» Bauern zu jener weltweit feststellbaren Faszination des Maoismus bei einem Teil der linken Intellektuellen geführt.

marktwirtschaftlich

Bezeichnung für eine Wirtschaftsordnung, in der die Entscheidungen idealtypisch von selbständigen Produzenten und Konsumenten getroffen werden und die Austauschbeziehungen auf offenen Märkten durch horizontale Koordination in der Regel ohne staatliche Eingriffe erfolgen. Voraussetzungen dazu sind eine Rahmenordnung, Privateigentum und Vertragsfreiheit sowie ein offener Zugang zu den Märkten.

marxistisch

Bezeichnung der Lehre, die sich auf das Werk von Karl Marx (1818-1883) beruft. Im Zentrum steht eine radikale Kritik der bürgerlichen Gesellschaft die auf dem Privateigentum basiert, die gegenüber den Nicht-Besitzenden ihre Privilegien verteidigt und damit in der Organisation des bürgerlichen Nationalstaats eine Klassenherrschaft ausübt, aus der sich die Proletarier befreien müssen. Ziel ist die klassenlose Gesellschaft, welche nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel eine wirtschaftliche Produktion ermöglicht, bei welcher jeder nach seiner Neigung und jeder nach seinen Bedürfnissen ohne staatliche Herrschaft leben kann. Der Weg dazu ist der Aufstand der Unterdrückten gegen die Unterdrücker.

minarchistisch

Bezeichnung für Anhänger des Minimalstaates, eines Staates, der nur wenige eng umgrenzte Funktionen im Bereich der äussern und innern Sicherheit hat (Nachtwächterstaat). R. Nozick empfiehlt die Reduktion der Staatsfunktionen auf «Schutz gegen Gewalt, Diebstahl, Betrug und Ermöglichung der Durchsetzung von Verträgen», andere minarchistische Autoren empfehlen privatautonome Lösungen auch für die Sicherheitsproduktion.

national-liberal/rechtsliberal

Jene Spielart des Liberalismus, welche staatliche Interventionen in die Wirtschaft (zur Förderung der nationalen Unabhängigkeit) und in die Erziehung (zur Förderung einer traditionsbewussten staatsbürgerlichen Gesinnung) befürwortet.
Als rechtsliberal werden gelegentlich auch kompromisslose Befürworter der Marktwirtschaft, der Privatisierung, der Deregulierung und der Steuersenkung bezeichnet, welche den Nationalliberalismus ablehnen. (Vgl. dazu Ziff. 4.)

nationalsozialistisch/faschistisch

Faschismus war die an die Gruppensolidarität appellierende ständestaatliche und nationalistische Spielart des antidemokratischen Führerstaats. Er vertrat das Primat des Poltischen über «Wirtschaft» und «Gesellschaft» und wollte bestimmte soziokulturelle Werte durch staatlichen Zwang fördern. In Italien wurde der Faschismus von Mussolini, in Spanien durch Franco und in Portugal durch Salazar verkörpert. Privatautonomie war nur in dem Umfang zugelassen, als sie dem nationalen Interesse diente. In der kommunistischen Literatur wird «faschistisch» mit «nationalsozialistisch» gleichgesetzt. In der westlichen Ideengeschichte wird der Nationalsozialismus mit dem Hitler’schen Rassenwahn, dem Antisemitismus und dem Führungsanspruch der «deutschen Herrenrasse» gleichgesetzt.
Faschismus und Nationalsozialismus sind historisch gesehen verheerende verbrecherische Spielarten des totalitären Etatismus. Beide Bewegungen werden von der Linken als ihr Gegenpol und als «rechts» bzw. «rechtsextrem» bezeichnet. Mit guten Gründen kann man sie aber auch als eine Unterart des sozialistischen Kollektivismus deuten, welche den Klassenkampf durch ein nationalistisches bzw. rassistisches Element ergänzen. Die Verwendung des Begriffs «rechts» für eine historisch zu Recht diskreditierte Politik, stellt die faire Verwendung des «Links-rechts-Schemas» im Zusammenhang mit pluralistischen demokratischen Parteiensystemen in Frage. Dasselbe gilt analog auch für die von totalitären Linken zu verantwortenden Menschenopfer in der neueren Geschichte. Die Extremismen und Totalitarismen sollten mit guten Gründen als Spezialbereiche politischer Pathologie betrachtet werden, und nicht als Merkmale, welche tendenziell bestehende Gruppierungen charakterisieren. (Vgl. dazu Ziff. 4)

Neue Linke

Sammelbezeichnung für eine in den 60er Jahren entstandene antiautoritäre und antikapitalistische Protestbewegung, die sich auf Karl Marx, Sigmund Freud und Herbert Marcuse stützte und vor allem von Studenten getragen wurde. Ihr Ziel war eine repressionsfreie Gesellschaft, in welcher soziokulturelle Impulse wie Selbstverwirklichung, Phantasie und Kreativität die politischen und ökonomischen Strukturen ersetzen und den Weg zur Emanzipation öffnen sollten. Sie grenzte sich von der Sozialdemokratie und von den Gewerkschaften durch eine radikale antizentralistische Staatsskepsis und durch eine Ablehnung aller etablierten politischen Strukturen und soziokulturellen Traditionen ab. Die Neue Linke hatte einen Gewalt nicht ausschliessenden extermistischen Flügel sowie einen gemässigten, demokratischen, welcher ein schrittweises Vorgehen, d.h. «den langen Marsch durch die Institutionen» propagierte.

Neue Rechte

Sammelbezeichnung für teils politische und teils religiöse Strömungen, die einen soziokulturellen Traditionalismus befürworten, und die bestimmte Werthaltungen mit politischen Mittel durchsetzen wollen ohne in die Marktwirtschaft zu intervenieren.

neoliberal

Ursprünglich: Bezeichnung für eine Spielart des Liberalismus, welcher von einem positiven Freiheitsbegriff ausgeht und staatliche Interventionen in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich toleriert, wenn dadurch die Funktion von Märkten gewährleistet bleibt. Die Neoliberalen in diesem ideengeschichtlichen Sinn befürworten einen starken Staat und deuteten den Markt als einen vom Staat veranstalteten und überwachten Wettbewerb der Anbieter und Nachfrager. Aktive Wirtschaftspolitk im Sinn von Strukturpolitik, Konjunkturpolitik, Wettbewerbspolitik ist aus neoliberaler Sicht tolerierbar, sofern sie marktkonform bleibt und der «sozialen Marktwirtschaft» und der Förderung von Chancengleichheit dient. Der Neoliberalismus, der nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstand und zu dem auch die Schule des Ordo-Liberalismus gezählt wird, ist also im Vergleich zum klassischen Liberalismus staats- und interventionsfreundlicher.
Heute: In Abweichung und in Unkenntnis dieses ideengeschichtlichen Hintergrunds wird heute der Begriff «neoliberal» häufig polemisch verwendet. Man will damit das Fehlen jeglicher sozialen Sensibilität markieren und ersetzt damit den polemischen Gebrauch des Begriffs «Manchester-liberal». Es gibt auch einen unpolemischen Gebrauch des Adjektivs, der dann etwa dem Begriffsinhalt von «wirtschaftsliberal» «radikal-liberal» oder «libertär» entspricht.

ökoliberal

Jene Spielart des Liberalismus welche eine harmonische nachhaltige Entwicklung unter Einbezug der Umwelt, der Vorwelt, Mitwelt und Nachwelt ins Zentrum stellt und zugunsten diesbezüglicher Ziele auch Staatseingriffe in die Wirtschaft und in die sozialen Gemeinschaften in Kauf nimmt, bzw. fordert. Die Frage nach dem Stellenwert des Marktes wird innerhalb dieser Spielart unterschiedlich beurteilt, ebenso die Frage nach der positiven oder negativen Definition der Freiheit («Freiheit von» oder «Freiheit zu»).

ökologistisch/grün

(siehe Ziff.3.3.3)

Bezeichnung für eine am ökologischen Gleichgewicht orientierte politische Bewegung. Die Bewegung ist heterogen und hat einen etatistischen und einen staatsskeptischen sowie einen marktwirtschaftsskeptischen und einen pro-marktwirtschaftlichen Flügel. Heute geben die interventionsfreundlichen wirtschaftsskeptischen Vertreter den Ton an, welche für direktdemokratische dezentrale Strukturen eintreten und sogenannt postmaterialistische Ziele anstreben.

ordo-liberal

Bezeichnung für die Vertreter der sogenannten «Freiburger Schule» der Nationalökonomie, die von Walter Eucken (1891-1950) begründet wurde und dem Neoliberalismus zugerechnet wird. Die Vorsilbe «Ordo» (=Ordnung, Stand) markiert einen soziokulturellen traditionellen Rahmen, der teils staatlich, teils nicht-staatlich organisiert ist und gewährleistet, dass Märkte entstehen und sich entfalten können.

paläoliberal

Diskriminierender Begriff, mit welchem Linke die «Klassisch-Lliberalen» bezeichnen, welche – aus dieser Sicht – nicht einmal den Schritt zum interventionsfreundlicheren Neoliberalismus wagten.

populistisch

Vorwiegend negativ gefärbte Bezeichnung für eine volksnahe auf Popularität ausgerichtete Politik, welche durch Dramatisierung der Lage, gezieltes Anknüpfen an Vorurteile, Ängste und Emotionen Zustimmung der breiten Masse gewinnen will. Der Populismus überträgt die Formen des wirtschaftlich erfolgreichen Marketings auf die Politik. Positiv kann das Bestreben bewertet werden, die Probleme der «kleinen Leute» ernst zu nehmen und den Dialog mit dem Volk in seiner eigenen Sprache zu führen. Populismus ist eine Methode und ein politischer Stil, der unabhängig von der inhaltlichen Zielsetzung ist, weshalb populistische Politik sowohl «rechts» wie auch «links» praktiziert wird. Keine erfolgreiche Partei kann in den massenmedial beeinflussten Demokratien völlig auf populistische Praktiken verzichten, sodass Populismus nicht zu einer Frage des Prinzips, sondern zu einer Frage des Masses wird. Den Populismus des politischen Gegners nennt man Demagogie, den eigenen Populismus nennt man Volksnähe.

radikal

Radikal ist nicht zu verwechseln mit «extremistisch» und mit «totalitär». Die Bezeichnung ist zur Zeit der Studentenrevolte in Deutschland (1968) durch die «Radikalenerlasse» diskreditiert worden. «Radikal» bedeutet «von der Wurzel her», und es ist in der Parteipolitik keine Untugend, wenn es in jeder Gruppierung Personen hat, welche die Ideen ihrer Partei radikal durchdenken und «von der Wurzel her», d.h. prinzipiell und möglichst kompromisslos, weiter entwickeln.

radikal-liberal

Jene Spielart des Liberalismus welche die Eigenverantwortung des Individuums ins Zentrum stellt, staatliche Interventionen in die Wirtschaft und in die Gesellschaft nur im Sinn einer begründeten Ausnahme zulässt und die Begrenzung und Entgiftung von Macht als Hauptanliegen verfolgt. Freiheit wird negativ, als «Freiheit von» definiert. Der Wohlfahrtsstaat wird abgelehnt.

rechtsliberal/national-liberal

Jene Spielart des Liberalismus, welche staatliche Interventionen in die Wirtschaft (zur Förderung der nationalen Unabhängigkeit) und in die Erziehung (zur Förderung einer traditionsbewussten staatsbürgerlichen Gesinnung) befürwortet.
Als rechtsliberal werden gelegentlich auch kompromisslose Befürworter der Marktwirtschaft, der Privatisierung, der Deregulierung und der Steuersenkung bezeichnet, welche den National-liberalismus ablehnen. (Vgl dazu Ziff. 4.)

regionalistisch

Sammelbezeichnung für nach Form und Inhalt heterogene Ideen, Bestrebungen, Bewegungen und Organisationen, die darauf gerichtet sind, zumeist historisch tief verwurzelten kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Eigenheiten eines bestimten Gebietes – ohne Rücksicht auf bestehende administrative oder nationale Grenzen – zu wahren oder zurückzugewinnen.

sozial

Das Adjektiv wurde ursprünglich ohne Wertung synonym mit «gesellschaftlich», «gesellschaftsbezogen» verwendet. Später wurde es positiv wertend mit der Bedeutung «mitmenschlich», «zuwendend», «altruistisch» angereichert. Der populäre Begriff ist von den etatistisch inspirierten Sozialisten «besetzt» worden, verbunden mit der Suggestion «sozialistisch» bzw. «etatistisch-sozialistisch» sei identisch mit «sozial». Dies ist eine der folgenreichsten (und aus sozialistischer Sicht erfolgreichsten) terminologischen Prägungen und Umprägungen im Bereich der Begriffs- und Parteiengeschichte. Der neuere Ersatzbegriff «sozietär» hat sich ausserhalb der Fachsprache nicht durchgesetzt.

sozialdemokratisch

Sammelbezeichnung für politische Parteien, welche eine Verbindung von Demokratie und freiheitlichem Sozialismus anstreben. Ziel ist die soziale Gerechtigkeit, welche die generelle Gleichstellung und die umfassende Mitbestimmung ermöglicht und den Markt durch staatliche Wirtschaftspolitik einschränkt und kontrolliert, damit keine sozialen Härten entstehen. Durch Steuerprogression, Umverteilung und wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen soll die soziale Sicherheit für alle gewährleistet werden. Das sozialistische Ziel der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Umstellung auf eine zentral verwaltete Staatswirtschaft ist im Lauf der letzten Jahrzehnte in den sozialdemokratischen Parteien Europas sukzessive fallen gelassen worden.

sozialistisch

Der Begriff hat sich im Lauf der Ideengeschichte immer wieder an die jeweiligen parteipolitischen Konstellationen angepasst. «Sozialistisch» war in erster Linie ein Gegenbegriff zu «individualistisch», zu «bürgerlich» und zu «konservativ» und bringt vor allem eine Kritik am Privateigentum und an der Privatrechtsgesellschaft zum Ausdruck. In der marxistischen Terminologie bezeichnet der Sozialismus eine Zwischenstufe zum Kommunismus, jene Phase in welcher der Staat noch nicht abgestorben ist. «Sozialistisch» wurde dadurch zu einem terminologischen Treffpunkt, unter dem sich die Linke sammeln konnte, ohne ihre internen Kontroversen, z.B. zwischen Pazifisten und Befürwortern des gewaltsamen Klassenkampfs, zwischen evolutionären und revolutionären Sozialisten, zwischen Religiösen und Materialisten, zwischen Nationalisten und Internationalisten, zwischen Progressisten und Sozialromatikern, zwischen Befürwortern der totalitären Diktatur des Proletariats und Sozialdemokraten, zwischen Leninisten, Stalinisten, Trotzkisten, Maoisten etc., aufbrechen zu lassen.

sozial-liberal/linksliberal

Jene Spielart des Liberalismus, welche staatliche Interventionen zur Förderung der Freiheit («positive Freiheit») und Chancengleichheit befürwortet und die dem Wohlfahrtsstaat gegenüber positiv eingestellt ist.

stalinistisch

Bezeichnung der Lehre und Praxis, die J.W. Stalin (1879-1953) als Generalsekretär der KPdSU aus dem Marxismus-Leninismus weiterentwickelt hat. Im Zentrum stand ein exzessiver Personenkult und eine totalitäre Terrorherrschaft, die unter anderem mit dem Führungsanspruch und der Geschlossenheit der straff organisierten Partei und durch die kriegsbedingte Extremsituation gerechtfertigt wurde. Der Stalinismus wurde schliesslich auch von den meisten linken Intellektuellen ausserhalb der Sowjetunion verurteilt, welche ihn als Abirrung vom humanitären sozialistischen Gedankengut charakterisierten. Als positive Alternative wurde der «Reformkommunismus» bzw. der «Reformsozialismus» gegenübergestellt.

subsidiär

Gesellschaftliches Ordnungsmodell, das davon ausgeht, dass grundsätzlich die kleinere Ggemeinschaft für die Lösung gemeinsamer Probleme zuständig ist und die übergeordnete Einheit nur tätig werden soll, wenn die untergeordnete Ebene der sozialen und politischen Unterstützung bedarf. Der Staat ist aus dieser Sicht subsidiär, weil die Eigenhilfe, die Familienhilfe und die Gemeinnützigkeit vor der Hilfe durch den Staat Vorrang hat, und die kommunale Problemlösung vor der regionalen, kantonalen und nationalen.

totalitär

Als totalitär bezeichnet man eine umfassende, alle Lebensbereiche vereinnahmende Ideologie, welche bestimmte Grundwerte verabsolutiert, deren Verwirklichung ausschliessliche Priorität einräumt, und davon ausgeht, dass die Zwecke auch die Mittel heiligen.

wirtschaftsliberal

Jene Spielart des Liberalismus, welche Marktwirtschaft, Privateigentum und Privatautonomie ins Zentrum stellt und der Politik die subsidiäre Aufgabe zuweist, dafür günstige Bedingungen zu schaffen.

Dritter Teil: Politische Vorträge und Essays

1. Liberalismus ohne Adjektive

Unfrisierte Gedanken

Die Schweiz existiert seit über 700 Jahren. Unsere praktischen, politischen und ökonomischen Erfahrungen mit dem Liberalismus reichen erst etwa 150 Jahre zurück. Sie sind gut, trotz fehlender Adjektive und vielleicht gerade deswegen. 150 Jahre sind gegenüber den wenigen Jahren, die im ehemaligen Ostblock seit dem Neubeginn verstrichen sind, eine sehr lange Zeit. Gemessen an der menschlichen Entwicklungsgeschichte sind aber fünf Generationen wiederum relativ wenig. Auch in der Schweiz sind wir als Liberale Anfänger. Und auch wir sind eher mit den Kinderkrankheiten des Liberalismus konfrontiert als mit seinen Alterserscheinungen. Die Zeit von fünf Generationen ist zu kurz für irgendein anmassendes und abschliessendes Urteil über Erfolg und Misserfolg. Immerhin: Vor 150 Jahren war die Schweiz eines der ärmsten Länder Europas, ohne Rohstoffe, ohne Zugang zum Meer und ohne mächtige Freunde: Ein Auswanderungsland mit periodischen Hungersnöten. Heute gehört sie zu den reichsten Ländern der Welt. Vor allem im 19. Jahrhundert, in dem das Fundament zu diesem Erfolg gelegt worden ist, hat die liberale marktwirtschaftliche Ordnung, verbunden mit Leistungsbereitschaft und Sparwillen eine Art «Wirtschaftswunder» ausgelöst.

Im 20. Jahrhundert verdankt die Schweiz ihren Wohlstand der Weiterentwicklung dieser Eigenschaften in einer unentwirrbaren Verbindung mit dem Glück der Verschonung durch zwei Weltkriege. Erfolg hat stets mindestens drei Komponenten: «Rahmenbedingung», Leistung und Glück: Die ersten zwei kann man beeinflussen, auf die dritte muss man hoffen und die Gunst der Stunde sowohl erkennen als auch ergreifen. Liberale sollten die intellektuelle Redlichkeit haben, die Bedeutung des Glücks im Sinn der günstigen Konstellation und deren Einfluss in einer spontanen Ordnung einzugestehen. Der Wohlstand der Nationen beruht in einer marktwirtschaftlichen Ordnung und auch, aber nicht nur, auf der Tüchtigkeit ihrer Bürger.

Es geht aber im Folgenden nicht um die Geschichte des Liberalismus in der Schweiz. Es geht mir darum, einen praktischen Beitrag zur Klärung des Begriffs «Liberalismus» zu leisten, der sich weniger auf Theorien, als vielmehr auf Erfahrungen stützt. Ich verwende daher das Prinzip von Versuch und Irrtum, und ich masse mir nicht an, fertige Lösungen vorzuschlagen. Der historische Rückblick erlaubt einen optimistischen und einen pessimistischen Hinweis: Optimistisch stimmt uns, dass die liberale Marktwirtschaft Erfolg haben kann. Sie funktioniert erfahrungsgemäss gerade darum, weil sie kein geschlossenes System ist, sondern ein sich entwickelndes Phänomen, das auch Rückschläge und Verluste verkraftet. Pessimistisch kann uns stimmen, dass es zur Realisierung einer liberalen Marktwirtschaft sehr viel Zeit und sehr viel Geduld braucht.

Als Moses das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens ins Gelobte Land führte, beanspruchte die Wanderung durch die Wüste eine ganze Generation. Wichtig war dabei nicht nur Moses als Führergestalt. Wichtig waren die zehn Gebote und die arg strapazierte, aber durch das «Prinzip Hoffnung» immer wieder erneuerte Geduld. Es ist zu wünschen, dass beim derzeit aktuellen Exodus aus der Knechtschaft des totalitären Sozialismus diese wichtigen Voraussetzungen wenigstens zum Teil erfüllbar sind.

Es gibt zu viele Intellektuelle, die heute nach Mittel- und Osteuropa reisen, um gute Ratschläge zur Einführung der Marktwirtschaft zu erteilen, die sie zu Hause und gegenüber Dritten nicht praktizieren. Ich möchte nicht in diesen Chor einstimmen. Marktwirtschaft ist stets ein gemeinsamer Lernprozess, bei dem beispielsweise beidseitig Zölle und Einfuhrbeschränkungen abgebaut werden. Analoges gilt wohl auch im Austausch von Ideen.

Meine Ausführungen über den «Liberalismus ohne Adjektive» werden aphoristisch sein und nicht theoretisch, und ich beginne mit einem bösen, aber wahren Aphorismus von Friedrich Nietzsche, der sagt: «Der Schenkende, der Lehrende und der Schaffende sind Vorspiele des Herrschenden.» Daran sollte man denken, bevor man Geschenke, und Lehren annimmt und ich zähle darauf, dass meine «unfrisierten Gedanken» mit der nötigen Skepsis und Kritikbereitschaft aufgenommen werden.

Der Liberalismus ohne Adjektive braucht nicht neu erfunden zu werden. Ich bin überzeugt, dass der klassische Liberalismus zugleich auch der moderne und der postmoderne Liberalismus ist. Um dies zu belegen, führe ich zehn bedeutende Denker an, die aus meiner Sicht zur Entsehung des Liberalismus Wesentliches beigetragen haben: Zehn Namen, die auch für die Zukunft des Liberalismus etwas bedeuten. Die Auswahl ist natürlich persönlich gefärbt und hat auch etwas Willkürliches, Spielerisches wie die Frage nach den zehn Büchern, die man auf eine einsame Insel mitnehmen würde.

Es geht mir im Folgenden nicht darum, anhand dieser zehn Namen die ganze Ideengeschichte des Liberalismus nachzuzeichnen. Ein allgemeines Thema zwingt zur Vereinfachung, zur Verkürzung und zur subjektiven Auswahl. Ich habe – etwas spielerisch – versucht, bei jedem der genannten Autoren eine Quintessenz mit Bezug auf die Ideengeschichte des Liberalismus in wenigen Sätzen zusammenzustellen.

Hier das Resultat dieses Experiments:

Katalog wichtiger Erfahrungen und ideengeschichtliche Wurzeln des Liberalismus:

Aristoteles (384 – 322 v.Chr.)

Er hat die erste und beste Relativitätstheorie politischer Systeme geschrieben und ist der Begründer der auf Erfahrung gestützten Sozialwissenschaft sowie der Erfinder einer Synthese von Theorie und Praxis.

Thomas Hobbes (1588 – 1679)

Er hat das Wesen des Politischen, des Staates im modernen Sinn, ergründet und mit seiner Gegenüberstellung von Staatsmacht (Leviathan) und kirchlicher Macht (Behemoth) die Idee der Trennung von Kirche und Staat sowie von Staat und Gesellschaft vorbereitet.

John Locke (1632 – 1704)

Er hat auf den hohen Stellenwert des Privateigentums und der Persönlichkeitsrechte für die individuelle Freiheit aufmerksam gemacht und Voraussetzungen geschaffen für den verstandesmässig kontrollierten Umgang mit Macht und Ideologie. Menschenrechte, Menschenbildung und Toleranz haben in seinem Werk jene zentrale Bedeutung, welche den Liberalismus charakterisiert.

David Hume (1711- 1776)

Er hat die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens durchschaut und das Verfahren von ,,Versuch und Irrtum» bekannt gemacht, welches die Grundlage ist für den ,,Wettbewerb um die bessere Idee» und für die Verifikation von Standpunkten durch die Beobachtung ihrer Bewährung in der Praxis.

Adam Smith (1723 – 1790)

Er hat die Funktionsweise freier Märkte und die Fähigkeit zur Selbstorga¬nisation der Menschen durch intelligente Kombination von Egoismus und Altruismus nachgewiesen und weltweit bekannt gemacht. Er ist der grosse Kommunikator liberaler Grundsätze.

Edmund Burke (1729- 1797)

Er hat die Bedeutung der Evolutionsidee, der historischen und gesellschaftlichen Kontinuität durch Traditionen, durch gemeinsame Erfahrungen, Erleb¬nisse und Emotionen erkannt.

Alexis de Tocqueville (1805 – 1859)

Er hat die Chancen und Grenzen der Demokratie als Mehrheitsprinzip und das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und kollektiver politischer Entscheidung untersucht, und am Beispiel der USA dargestellt, wie die Zunahme der Gleichheit auf Kosten der Freiheit gehen kann und welchen Eigengesetzlichkeiten zentralistische Bürokratien unterliegen.

Ludwig von Mises (1881 – 1973)

Er hat den freien Markt als komplexes Phänomen und als Verbindung von Konflikt und Kooperation gedeutet und erkannt, dass die Zivilisation fortschreitet, indem sie die Prinzipien «Gewalt» und «Neid» durch die Prinzipien des Tausches und des sozialen Friedens zwischen Ungleichen ersetzt. Der gesellschaftliche Fortschritt besteht u.a. darin, dass die triebhafte Steuerung durch Gewalt abgelöst wird von reflektierter Interessenwahrung durch Verträge.

Friedrich August von Hayek (1899- 1992)

Er hat den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren gedeutet und den Wahn der sozialen Machbarkeit und der Planbarkeit des Gemeinwohls blossgelegt. Er hat auch das langfristig wirksame Entwicklungsprinzip der spontanen Ordnung entdeckt und beschrieben. Während der Einzelne unfähig ist, das allgemeine Beste zu erkennen, ist es in einer freiheitlichen Ordnung möglich, ohne unnötigen Zwang gemeinsame Lernprozesse zu absolvieren, ohne dass deren Inhalt je voll bewusst wird. Dadurch werden die Lebensverhältnisse mittel- und langfristig kontinuierlich zugunsten der Allgemeinheit adaptiert und optimiert. Hayeks Engagement für das Individuum mündet in eine Rechtfertigung der Gemeinschaft und ermöglicht daher die heute immer wieder angestrebte Synthese von individualistischer und kommunitaristischer Betrachtungsweise.

Karl Raimund Popper (1902 – 1997)

Er hat die Vorzüge einer offenen Gesellschaft erkannt, in der wir alle wissen, dass wir nichts wissen, und dies auch gegenseitig zugeben. Es gibt den sozialen Fortschritt – allerdings nur in kleinen Schritten. Gemeinsame Vorurteile lassen sich durch gemeinsam nachgeprüfte Erfahrungen (Falsifikation) überwinden, und die Übel in der Gesellschaft können – wenn nicht eliminiert, so doch minimiert werden.

Soweit mein persönlich gefärbter Überblick über den «Liberalismus ohne Adjektive». Auf diesem Hintergrund erscheinen auch feierlich verabschiedete Manifeste von liberalen und Parteien und internationalen Gremien samt allen Versuchen, den Liberalismus mit Adjektiven zu präzisieren und zu relativieren, als relativ unwichtig. Was ist auf diesem Hintergrund «modern», was ist überholt und veraltet? Ich meine, dass das Klassische immer aktuell bleibt. Alle erwähnten Denker haben wohl die Probleme ihrer Zeit behandelt. Da aber in der menschlichen Natur viel mehr Konstantes enthalten ist als gewisse Sozialwissenschafter heute annehmen, sind grundsätzliche Überlegungen dazu trotz dem Wandel in den äusseren Konstellationen von bleibendem Interesse, und sie taugen auch für die Lösung von neueren Problemen.

Treiben wir das intellektuelle Spiel mit den «besten Zehn» noch etwas weiter: Welches sind denn die zehn Autoren, die – unabhängig von der Ideengeschichte des Liberalismus – zu den persönlichen Favoriten zählen? In meiner aktuellen Liste figurieren darin auch zwei Polen, Liberale im weiteren Sinn, aber keine politischen Philosophen, keine Ökonomen und keine Gelehrten. Einer davon ist ein Emigrant. Ein Dichter in englischer Sprache, Joseph Conrad (eigentlich Teodor Jozef Konrad Korzeniowski). Der andere ist der Aphoristiker Stanislaw Lec. (Die weiteren acht sind zurzeit folgende: Pascal, Shakespeare, Voltaire, Goethe, Lichtenberg, Gottfried Keller, Jacob Burckhardt und Theodor Fontane). In den «Unfrisierten Gedanken» von Stanislaw Lec habe ich sehr viel liberale Substanz gefunden. Ein Muster: «Am Anfang war das Wort, am Ende die Phrase.» Das ist eine Warnung. Und ich hoffe, dass sie nicht als Motto über diesen Beitrag gesetzt werden kann.

Ein weiterer Aphorismus von Lec trifft ein Grundanliegen des Liberalismus: «Die Verfassung eines Staates sollte so sein, dass sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniere.» Schliesslich betrifft folgendes Zitat das Thema Modernität und die Suche nach dem jeweils «modernen» Liberalismus: «Menschen haben Spätzündung; sie begreifen alles oft erst in der nächsten Generation.» Dieser letzte Aphorismus ist vielleicht auch der Schlüssel für meine Skepsis gegen Adjektive und speziell gegen das Adjektiv «modern». Modern ist das, was in der nächsten Generation bereits durch «Postmodernes» überholt wird. Ich habe im Zusammenhang mit Staat und Politik auch keine besondere Vorliebe für das Adjektiv «sozial». Sozial sind für mich allenfalls Menschen, und sie sollen es sein. Aber ich habe Zweifel, ob Staaten wirklich mittel- und langfristig sozial wirken können, Wenn Sie mich klassifizieren wollen, so habe ich nichts gegen die Bezeichnung «liberal-konservativ». Ich meine, dass die Auswirkungen eines konsequenten Liberalismus durchaus sozialer sind,als viele vermeintlich sozial-liberale Programme.

Man kann ein Phänomen wie den Liberalismus nicht schematisch darstellen. Trotzdem möchte ich es mit einer Skizze versuchen. Karl Popper hat bei Phänomenen zwischen «Uhren» und «Wolken» unterschieden, und ich meine, dass der Liberalismus ein «Wolken-Problem» ist. Wir finden keinen zentralen Punkt, um den sich alles dreht, wie bei einem Rad, das Bestandteil eines Uhrwerkes sein kann. Gewiss spielt für Liberale die Idee der Freiheit eine zentrale Rolle, sie ist jene «Wolke» die nicht von innen definiert, sondern nur von aussen her – unter verschiedensten Aspekten – eingegrenzt werden kann.

Vor Jahren habe ich einmal den vermessenen Versuch unternommen, Freiheit mit Worten zu definieren. Ich bin natürlich gescheitert, aber ich trage hier das paradoxe Resultat trotzdem vor. «Freiheit ist jene Idee, die immer gleichzeitig unendlich bedroht und unendlich resistent ist». (Diese Umschreibung gilt auch für andere Grundwerte, ist aber bei der Freiheit besonders offensichtlich.) Die Polen haben im Lauf ihrer Geschichte beide Komponenten, die Verletzlichkeit und die Resistenz intensiv und schmerzlich miterlebt. Auch wenn dieses Land in den nächsten Jahren kaum an die Spitze der marktwirtschaftlichen Wohlstandsnationen vorrücken kann, so zweifle ich nicht, dass schon in naher Zukunft hier kreative und zukunftweisende Texte geschrieben werden über das Experiment «Freiheit» und über das Abenteuer der Umwandlung des Sozialismus in eine freiheitliche Ordnung nach dem Muster von Versuch und Irrtum; wir warten mit Spannung darauf.

Lassen Sie mich jetzt mit einigen Stichworten die «Wolke des Liberalismus», welche die Freiheit umgibt «von aussen her» durch zehn Stichworte eingrenzen.

Erstes Stichwort: Kontinuität

Jede Idee hat ihre Geschichte und die Tradition ist ein wichtiger Zugang zu ihrem Verständnis und zu ihrer Weiterentwicklung. Polen war beispielsweise im 16. Jahrhundert die liberalste Nation Europas, die bereits Toleranz praktizierte, als im übrigen Europa die blutigen Religionskriege tobten und Ketzer und Hexen verbrannt wurden. Wenn ich die Schweiz mit Polen vergleiche, so sehe ich Ähnliches und Verschiedenes. Vergleichbar ist der unausrottbare Drang zur Freiheit und Unabhängigkeit. Unterschiedlich ist die bereits erwähnte Rolle von «Glück und Unglück» in der Geschichte. Die Schweiz hat als Drehscheibe im Zentrum Europas mit vier Sprachen und zwei Konfessionen andere geschichtliche, geographische und ökonomische Voraussetzungen als das konfessionell homogene, aber als Grenzland zwischen Ost und West stets existentiell bedrohte Polen.

Zweites Stichwort: Vielfalt

Die Vielfalt ist in der heterogenen Schweiz eine geschichtliche Gegebenheit. Auch das homogene Polen kennt die Vielfalt, aber mehr als innere Vielfalt im Spannungsfeld politischer Schattierungen. Wie wenn die tatsächliche Homogenität kompensiert werden müsste, leisten sich die Polen eine grosse Meinungsvielfalt und hohe Differenzierungen in der ideologischen Diskussion. Dies führte und führt immer wieder zu Flügelkämpfen auch innerhalb derselben politischen Gruppierungen. Aus diesem Grund ist die Warnung vor Adjektiven im Zusammenhang mit «Liberalismus» auch von sehr praktischer Relevanz. Vielleicht lässt sich die Auseinandersetzung um Adjektive überwinden, wenn man vermehrt die gemeinsame Wurzel und den gemeinsamen Minimalkonsens in den Mittelpunkt stellt. Vielfalt ist ein Überlebenselement der Freiheit, aber sie darf die minimale grundsätzliche Übereinstimmung nicht vereiteln. Ein eindrückliches Symbol der Vielfalt ist nicht von einem liberalen Klassiker erfunden worden, sondern von einem deutschen Mathematiker: Es ist die berühmte Gauss‘sche Verteilungskurve. Sie hat aus liberaler Sicht auch eine politische Bedeutung, weil sie zum Ausdruck bringt, dass in einer Gesellschaft immer sowohl «Schurken» als auch «Heilige» leben. Der Versuch, die «Schurken» zu eliminieren endet leider oft damit, dass auch die «Heiligen» verschwinden. Auch in der Sozialpolitik spielt die Gauss‘sche Kurve eine Rolle. Es können nicht alle allen helfen – es sollen auch nicht alle allen helfen -, sondern man muss dafür sorgen, dass die Extreme auf der Seite des Reichtums ohne «Umweg» über staatlichen Zwang Mittel einsetzen für die Extreme auf der Seite der Bedürftigkeit.

Drittes Stichwort: Fortschritt

Die Länder des ehemaligen Ostblocks wurden unter sozialistischer Herrschaft während Jahrzehnten mit der Idee des sozialistischen Fortschrittes drangsaliert. Im Hinblick auf die Zukunft dieser Idee sollten die in der Gegenwart Lebenden auf ihre Freiheit und ihren Wohlstand verzichten. Stanislaw Lec hat dazu Folgendes geschrieben: «Es lebe der Fortschritt. Wenn geschrieben wird: ‘Es lebe der Fortschritt’, frage stets ‘Fortschritt wessen?’» Skepsis gegenüber der Fortschrittsidee ist zwar stets angebracht, aber sie sollte nicht dem blanken Zynismus geopfert werden. Wir drehen uns nicht einfach im Kreis. Es gibt eine Evolution zum Besseren, aber sie ist langsam. Das Menschengeschlecht ist zwar schwererziehbar, aber nicht völlig unbelehrbar. Fortschritt ist Evolution, ergänzt durch positive Innovation, ist Kontinuität, ergänzt durch kreative Spontanität. Die optimistisch gedeutete Evolutionsidee bringt vielleicht auch eine Entspannung des aktuellen Dilemmas zwischen Gradualismus und «Big Bang». Der Gegensatz zwischen dem Prinzip der schrittweisen Evolution und der sprungweisen Revolution ist eher graduell als prinzipiell.

Bekanntlich besteht ja auch die Evolution aus lauter kleinen Revolutionen. Die fortschrittsbezogene Evolutionsidee knüpft an die Vergangenheit an und bezieht sich auf Zukünftiges, sie stellt aber die Gegenwart nicht vollständig in den Dienst einer unbestimmten Zukunft. Damit unterscheidet sie sich von den utopischen Konzepten, welche stets die Gegenwart im Hinblick auf eine erwünschte Zukunft aufopfern – eine Zukunft übrigens, die ja dann doch nicht stattfindet. Dadurch wird die ohnehin stets knappe, aber notwendige Bereitschaft zu sinnvollen Opfern in dauernden Enttäuschungen erstickt.

Viertes Stichwort: Trennung von Staat und Gesellschaft

Unter dasselbe Stichwort gehört auch die Trennung von Staat und Wirtschaft sowie von Staat und Kirche. In arbeitsteiligen Gesellschaften sind diese Bereiche heute stark vernetzt. Gerade deshalb ist es wichtig, immer wieder daran zu erinnern, dass der Versuch einer Trennung ein klassisches liberales Anliegen ist. Ich zitiere in diesem Zusammenhang den Deutschen Friedrich Naumann, obwohl ich ihn nicht zu den grossen Liberalen zähle. Er ist ein exemplarisches Opfer des Adjektiv-Liberalismus, des nationalen Liberalismus und des sozialen Liberalismus in merkwürdigen Mischformen. In einer berühmten Rede hat er sechs Grundsätz formuliert, welche die Trennung und Verbindung der Subsysteme in der Gesellschaft betreffen: «Der Staat, das sind wir alle. Der Staat darf nicht alles.» (Präzisierend könnte man hier noch beifügen: «Die Demokratie, das sind wir alle, und die Demokratie darf nicht alles.») «Die Wirtschaft, das sind wir alle. Die Wirtschaft darf nicht alles», «die Gesellschaft, das sind wir alle. Die Gesellschaft darf nicht alles.»

Zum sozio-kulturellen, bzw. zivilgesellschaftlichen Bereich gehört neben der Familie auch die Kirche. Darum hat er gerade in ihrer heutigen Situation eine hohe Aktualität. Vielleicht wird aufgrund der sechs Naumann‘schen Sätze klar, wieso ich auch keine besondere Sympathie habe für eine Aufgliederung des Liberalismus in einen Staats-Liberalismus, einen Wirtschafts-Liberalismus und einen Gesellschafts-Liberalismus. Eines der wichtigsten Anliegen betrifft ja gerade den Mischbereich im Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn man den Liberalismus in Bindestrich-Liberalismen aufteilt, gehen ganz wesentliche Gesichtspunkte verloren. Im ganzen ehemaligen Ostblock stecken alle drei erwähnten Bereiche in einer Krise. Und die schwerste liegt wohl im Bereich der Sozio-Kultur. Ich bin überzeugt, dass der Mensch immer gleichzeitig «homo oeconomicus», «homo politicus» und «homo socialis» ist, dass er aber in diesen verschiedenen Rollen auch verschiedene Organisationsprinzipien verfolgen darf und soll.

Fünftes Stichwort: Anti-Etatismus

Zum Anti-Etatismus gehören die Forderungen nach weniger Staat, nach Deregulierung und nach Privatisierung. Verbunden mit der Forderung nach einem effizienten und starken Staat, ist der Anti-Etatismus ebenfalls ein liberales Anliegen. Der Staat ist als Rechtsstaat in erster Linie für die Rahmenordnung zuständig, und er soll sowohl die Grenzen des umverteilenden Sozialstaats als auch der populistisch-interventionistischen Demokratie beachten.

Bei allem Verständnis für einen gewissen Bedarf an staatlichen Hilfeleistungen und Interventionen im Zusammenhang mit einem Systemwechsel, sollten solche Aktivitäten letztlich doch stets als notwendiges Übel betrachtet werden.
Staatswirtschaft ist wie eine Drogensucht, von der man entwöhnt werden muss. In der Zeit der «Entwöhnung» braucht es vielleicht andere, ebenfalls schädliche Medikamente, aber letztlich sollte das Ziel darin bestehen, auch diese so rasch wie möglich abzusetzen. Auch wir in der Schweiz haben das zuträgliche Mass an «Wohlfahrtsstaat» überschritten, das heisst es sorgen alle für alle und niemand sorgt für den Steuerzahler und für die wirklich Bedürftigen. Der Staat kann nicht sozial sein, der Mensch muss sozial sein, und je vermeintlich sozialer der Staat ist, desto asozialer können Menschen werden. Auch wir stehen vor der Aufgabe, einen Rückweg oder Ausweg aus der Sackgasse des Wohlfahrtsstaates zu suchen. Die persönlich zu tragende und zu übernehmende Verantwortung ist in diesem Zusammenhang ein Schlüsselbegriff.

Sechstes Stichwort: Vertrauensprinzip

Die schlimmste Folge des real existierenden Sozialismus ist aus meiner Sicht nicht die Wirtschaftskrise, sondern die Vertrauenskrise, die aufgrund totalitären Strukturen entstanden ist. Es wird in Zukunft darum gehen, Vertrauen zu schaffen und Vertrauen wieder wachsen zu lassen. Ein taugliches Verfahren für die «Urzeugung» bzw. Selbsterzeugung von Vertrauen ist der Markt. In vielfältigen Tauschprozessen -speziell auch bei Krediten – lernt der Mensch den optimalen Umgang mit Vertrauen und Misstrauen. Tragfähige Vertrauensnetze werden durch wirtschaftlichen Erfolg belohnt und bilden schliesslich ein gemeinsames ökonomisches und soziales Wurzelwerk, das auf der Idee der Vertragstreue und der persönlichen Verantwortung beruht. Das Einstehen für die Folgen des persönlichen Handels und Verhaltens ermöglicht jene gemeinsam produzierte Verlässlichkeit, welche die eigene Freiheit mit der Freiheit der Mitmenschen verknüpft.

Siebtes Stichwort: Negative Freiheit

Der Begriff ist – wie alle Negationen – wenig aussagekräftig, aber ich kenne keinen besseren. Es gehört vielleicht zum Wesen der Freiheit, dass sie am besten «von der Gegenseite her» erkannt und beschrieben werden kann. Nach Hayek besteht die Freiheit aus drei Komponenten: In erster Linie aus der Friedensidee (Negation von Gewalt und Krieg, Gewalt nur aus der Defensive). In zweiter Linie aus der Gerechtigkeitsidee (Negation von Willkür – nicht mehr und nicht weniger) und in dritter Linie auf der Freiheitsidee (Negation des Zwangs – so wenig Zwang wie möglich).

Was Freiheit positiv, das heisst methodisch für die Politik bedeutet, hat Adam Smith mit seinen drei Voraussetzungen für ein prosperierendes Gemeinwesen klassisch folgendermassen definiert: Friede, mässige Abgaben, erträgliche Justiz. Es wäre ein lohnendes Anliegen für Historiker und für Ökonomen, zu untersuchen, wo Staaten wirklich aufgrund dieser drei Voraussetzungen floriert haben und wo nicht, Mindestens in der Schweiz käme man vergleichend auf positive Befunde. Eminent wichtig und in ihrer Bedeutung unterschätzt ist die Voraussetzung der mässigen Abgaben. Die dritte Voraussetzung ist pragmatisch formuliert: Eine «erträgliche Handhabung» der Gerechtigkeit verzichtet bewusst auf jeden Perfektionismus im Sinn eines «fiat iustitia, pereat mundus», d.h. des Durchsetzens von Gerechtigkeit, selbst um den Preis des Untergangs.

Achtes Stichwort: Marktwirtschaft

Marktwirtschaft ist kein System, sondern das, was sich abspielt, wenn wir die Menschen nicht dann hindern, ihre eigenen Zwecke zu verfolgen und gleichzeitig das Wohlergehen anderer im Auge zu behalten, Marktwirtschaft ist nirgendwo vollkommen verwirklicht – weder in der Schweiz noch in den USA. Sie befindet sich in einem kontinuierlichen Ausbau- und Umbauprozess, der zurzeit im ehemaligen Ostblock besonders dramatisch und dafür besonders lehrreich abläuft. Hier braucht es jetzt gewisse Kompromisse, das heisst «mehr Staat» als im Normalfall, aber aus Not und nicht aus Tugend. Das Gelingen des Umbaus hängt unter anderem davon ab, ob das «Prinzip Neid» überwunden werden kann (Dies ist auch der wichtige Inhalt des zehnten mosaischen Gebots). In diesem Zusammenhang möchte ich Ludwig von Mises zitieren: «Die Idee, es gäbe ein drittes System, ein System zwischen Sozialismus und Kapitalismus, das genauso weit vom Sozialismus wie vom Kapitalismus entfernt sei und die Vorteile beider übernähme, während es ihre Nachteile vermiede, ist reiner Unsinn. Menschen, die an die Existenz einer solchen mythischen Ordnung glauben, geraten förmlich ins Schwärmen, wenn sie die Segnungen des Interventionismus rühmen. Man kann dazu nur feststellen, dass sie sich irren. Die staatliche Einmischung, die sie so rühmen, führt schliesslich zu Verhältnissen, die sie selbst ablehnen.»

Ich bin überzeugt. dass wir bei der Umschreibung der Marktwirtschaft wie bei der Umschreibung des Liberalismus so wenig Adjektive wie möglich einsetzen sollten. Nur so kann der Konsens breit genug abgestützt werden. Das Ökologische und das Soziale sind meines Erachtens in einer konsequenten und radikalen Praxis des Liberalismus bereits enthalten. Was nicht ökologisch ist, ist auch nicht ökonomisch, und was nicht ökonomisch ist, ist – schon mittelfristig, und langfristig erst recht – auch nicht sozial. Der Mensch ist weder gut noch schlecht. Er hat den positiven Trieb zur Selbsterhaltung und den negativen Fluch der Selbstzerstörung. Der Liberalismus sagt ja zum Egoismus als intelligente Form der Selbsterhaltung. Er rechnet mit den Egoisten, aber er setzt und hofft auf die Altruisten und deren Verantwortungsbewusstsein.

Neuntes Stichwort: Spontane Ordnung

Nach Hayeks Vorstellung über die spontane Ordnung werden Gesellschaften und Staaten nicht überleben, in denen ausschliesslich Egoismus praktiziert wird. Es wird vielmehr eine Selektion geben zugunsten derer, die einen Ausgleich zwischen Individualismus und sozialer Verhaltensweise auf spontaner Basis immer wieder erfolgreich herstellen. In diesem Sinne heisst Darwins «survival of the fittest» nichts anderes als «survival of the best adapted», und «the best adapted» ist derjenige, der seine Individualität optimal einsetzt – für sich und für andere. Die sozialste Gemeinschaft besteht aus intelligenten Egoisten: Das ist keine populäre Aussage, aber als Politiker sollte man stets danach streben, nicht in erster Linie beliebt und populär zu sein, sondern offen und ehrlich. Offenheit und Ehrlichkeit sind nämlich nicht nur moralische Postulate, sondern auch taugliche politische Strategien. Die Wahrheit kann sich letztlich gegen die Lüge darum durchsetzen, weil die dauerhafte Aufrechterhaltung von falschen Versprechungen und Lügen früher oder später in jeder Beziehung zu kostspielig wird. Im ehemaligen Ostblock ist diese bittere Erfahrung teuer bezahlt worden.

Es trifft zwar zu, dass befreite Gefangene, zunächst die Wünsche aller «satten Sklaven» teilen. Sie vermissen ihre Gratis-Pritsche und ihre Gratis-Suppe. Freiheit ist anstrengend und die Sehnsucht darnach ist oft attraktiver als ihr Erwerb und Schutz. Ohne Leistung, Risikobereitschaft und freiwilliges Engagement ist Freiheit nicht zu haben. Diese beinahe «naturgesetzliche» Erfahrung hat Milton Friedman in einem Satz zusammengefasst, der zwar zynisch tönt, aber trotzdem wahr ist. (Er könnte die Erfahrung eines jener Tellerwäscher ausdrücken, der nicht Millionär geworden ist.) «There ain’t no such thing as a free lunch”.

Zehntes Stichwort: Humor

Bei dieser Gelegenheit sei noch ganz kurz auf einen Punkt hingeweisen, den ich persönlich für sehr wichtig halte: Es ist die Bedeutung des Humors im Zusammenhang mit der Idee der Freiheit. Doch dies wäre das Thema eines anderen Vortrags: «Über den Zusammenhang von Freiheit, Erfahrung und Humor». Der letzte Aphorismus in diesem Referat stammt von Aldous Huxley und bringt in humoristischer Weise die Quintessenz des Empirismus zum Ausdruck: «The proof of the pudding is in the eating and not in the cookery-book.» Dies gilt auch für den ,,Liberalismus ohne Adjektive».

2. Wege in die Freiheit

Sechs Szenarien aus dem menschheitsgeschichtlichen Erfahrungsschatz

Mit dem Exodus der Sowjetunion aus der Knechtschaft des real existierenden Sozialismus ist in einem welthistorischen Prozess ein weiterer Markstein gesetzt worden. Der Umbruch im ehemaligen Ostblock gehört zu jenen Ereignissen, die auch für politisch wache Zeitgenossen durchaus überraschend kamen, bei denen man sich aber – bei einer sorgfältigen, nachträglichen Analyse – die Frage stellen muss, ob sie nicht doch in der aktuellen Situation die zwingende Folge der gegebenen Voraussetzungen waren. Dass totalitäre Systeme, die ihrem Wesen nach auf die immer aufwendigere und immer unmöglichere Aufrechterhaltung von Lügensystemen angewiesen sind, eine begrenzte Überlebenschance haben, war ebenso bekannt wie die Tatsache, dass zentral verwaltete Kommandowirtschaften letztlich an ihrer mangelnden Lernfähigkeit scheitern müssen. Auch die Erfahrung, dass politische Macht durchaus mit Bajonetten errungen werden kann, dass sich aber auf Bajonetten schlecht sitzen lasst, gehört zu den kaum je bestrittenen historischen Gemeinplätzen.

Aus dieser Sicht war die Politik von «Glasnost» und «Perestrojka» der Anfang vom Ende des Sowjetkommunismus, obwohl sie eigentlich eine Strategie zu seinem Fortbestand sein sollte. «Öffentlichkeit des Öffentlichen» und «Veränderung» sind politische Prinzipien, die sich durch keine Mauer für immer zurückstauen lassen. Was gelegentlich als politische Pionierleistung mit historischen Dimensionen gedeutet wird, ist also nichts anderes als eine – sehr späte – Kapitulation vor den tatsächlichen Auswirkungen einer pluralistischen, weltweit vernetzten technischen Zivilisation. In einer solchen Informationsgesellschaft kann die Kommunikation auf die Dauer nicht mehr unter totaler politischer Kontrolle gehalten werden. Die Öffnung war daher eher ein Zusammenbrechen der Gegenkräfte, als ein Bahnbrechen neuer Ideen. Zunächst manifestierte sich die Forderung nach Reisefreiheit und Ausreiseerlaubnis, welche dann die Durchlöcherung des «Eisernen Vorhangs» in Ungarn und schliesslich den Fall der Berliner Mauer bewirkte. Beide Prozesse, die innere und die äussere Öffnung von realitätsstauenden Mauern haben die jetzige Situation des Aufbruchs ermöglicht.

All jenen, die das Scheitern des sozialistischen Experiments am eigenen Leib erlebt haben, ist nicht zu verargen, wenn sie nun nach der Öffnung mit Ungeduld auf das «gelobte Land» hoffen, in dem «Milch und Honig fliessen». Das Ziel wird wohl allgemein idealisiert, und der Weg und die Anstrengungen, die er verlangt, werden demgegenüber unterschätzt. Sicher nimmt aber die Frage nach dem schnellsten und besten Weg zu Recht eine zentrale Stellung ein.

Ein Teil der Betroffenen mag in der Auswanderung den schnellsten und direktesten Weg sehen, obwohl er mit beachtlichen Risiken und mit grossen persönlichen Opfern verbunden ist. Andere – hoffentlich ist es die grosse Mehrheit – wollen ihre Heimat nicht verlassen. Für sie stellt sich die Frage nach dem besten politischen Weg für den Exodus aus den Trümmern des Systems der Unterdrückung und des Mangels.

Soll man auf die Frage mit dem Gemeinplatz antworten, es gebe für historische Umwälzungen keine Rezepte, und es müsse nun der harte Weg des Suchens und Irrens eigenständig und ohne fremde Hilfe bestritten werden? Diese Antwort ist in verschiedenster Hinsicht unbefriedigend. Einmal sind «Aufbruch und Wende» nicht nur eine Angelegenheit der direkt Beteiligten. Sie betreffen auch die Bürger der «gelobten Länder», die mögliche Ziele des Exodus sind. Sie alle haben ein vitales Interesse daran, dass ein Auszug nicht allgemein tatsächlich und räumlich vollzogen wird. Der Exodus soll als Systemwechsel stattfinden und nicht als Völkerwanderung.
Damit stellt sich ein zweites Mal die Frage nach dem geeigneten Weg, und zwar vor dem Hintergrund handfester westeuropäischer Eigeninteressen. Die Suche nach Modellen und historischen Erfahrungen sollte nicht zu früh aufgegeben werden. Brauchbare Hinweise dazu finden sich allenfalls bei den Klassikern der Ökonomie, Staatstheorie und Politologie. Solche Texte sind allerdings für Praktiker nicht ohne weiteres verständlich und auch nicht direkt anwendbar. Häufig lassen sie den Leser genau dort im Stich, wo er gerne Genaueres wüsste. Etwas anschaulicher und allgemein zugänglicher ist das «Lehrbuch der Geschichte», in dem auch der Laie mit Gewinn blättert und liest. Es hat auch den Vorteil, dass es über tatsächliche Erfolge und Misserfolge Auskunft gibt, allerdings ohne zeitlos gültige Begründungen und Bewertungen.

Nach einem Wort von Jacob Burckhardt kann man zwar aus der Geschichte nie «klug für ein andermal« werden, wohl aber «weise für immer», wobei die Erwartungen nicht zu hoch angesetzt werden dürfen. Wir sind also alle eingeladen, unter dem Stichwort «Systemwechsel» nach dem zu suchen, was im Fundus historischer Erfahrungen an Weisheit darüber gespeichert sein könnte.
Eine wichtige Erkenntnis besteht wohl darin, dass die Aus¬gangspunkte für die einzelnen Staaten des ehemaligen Ostblocks sehr verschieden sind, und es darum verfehlt ist, nach einem einzigen und einzig richtigen Weg zu suchen. Vor allem die ehemalige DDR, die ihren Exodus unter dem Motto «Wiedervereinigung» bzw. «Zusammenwachsen» antritt, hat gewissermassen zwei welthistorische Probleme -«Revolution» und «Integration» – in einem Zug zu bewältigen. Der ungeheure Zeitdruck ist dabei gleichzeitig eine Gefahr und eine Chance. Es ist zu hoffen, dass wir am Ende dieses Jahrtausends nicht nur vom deutschen «Wirtschaftswunder», sondern auch vom deutschen «Vereinigungswunder» werden reden können, und dass wir nicht nur ein Tempo, sondern auch eine politisch-wirtschaftliche Qualität ansprechen.

Die in der Folge angestellten Überlegungen betreffen in erster Linie das historische Thema «Systemwechsel» und «Überwindung des nach-revolutionären Chaos». Ein weiteres «welthistorisches Thema», das zum aktualisierenden Vergleich herausfordert, die «Entkolonialisierung», bzw. die «Liquidation eines Imperiums», wird im folgenden nicht untersucht, obwohl eine solche Deutung nahe liegt und sicher interessante Perspektiven eröffnen würde.
Das «iberische Modell»

Stichwort: «Ent-Totalisierung»

Für den Exodus aus mehr oder weniger autoritären politischen Systemen könnte in jüngerer Zeit auf die Erfahrung in Spanien und Portugal verwiesen werden. Beide Länder haben in den letzten Jahren den Anschluss an die rechtstaatliche Demokratie und an eine auf- und ausbaufähige soziale Marktwirtschaft gefunden. Der Wandel ging schrittweise und nicht ohne Opfer und Rückfälle vor sich, und er ist wohl auch noch nicht völlig abgeschlossen. Entscheidend waren für beide Staaten glaubwürdige und charismatische Führerpersönlichkeiten, welche während der verschiedenen ökonomischen und politischen Durststrecken im Volk Hoffnung, Mut, Geduld und Vertrauen weckten und aufrechterhielten und doch den damit verbundenen Versuchungen des persönlichen Machtgewinns nicht erlegen sind. «Servir et disparaitre» lautet der ebenso erfolgreiche wie schwer erfüllbare diesbezügliche Führungsgrundsatz als mögliche Lehre aus dem «iberischen Modell». (Der spanische König ist zwar nicht von der Bildfläche verschwunden, er hat aber seine politische Führungsrolle selber radikal eingeschränkt.)

Nicht zu unterschätzen ist auch der Stellenwert der Stützung dieser Experimente durch internationale Wirtschaftshilfe und Investitionsbereitschaft, die in einem subtilen Spannungsverhältnis zu eigenständigen Anstrengungen stehen und bei denen sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel (vor allem letzteres) verheerende Folgen haben kann.

Die Grenzen dieses Modells als Erfahrungsspeicher liegen vor allem darin, dass weder die Franco- noch die Salazar-Diktatur eine totalitäre sozialistische Wirtschaftsplanung praktiziert haben, so dass diesbezüglich an bereits vorhandene marktwirtschaftliche Strukturen und Infrastrukturen angeknüpft werden konnte.
Solche Infrastrukturen fehlen aber auch in Osteuropa nicht ganz. Sie haben – glücklicherweise – als Schattenwirtschaft und Schwarzmarkt überlebt und damit – leider – zur Verlängerung der Agonie der Planwirtschaft beigetragen.
Das «Erhard-Adenauer-Marshall-Modell»

Stichwort: «Wirtschaftswunder»

Auch nach dem Zusammenbruch von Nazideutschland, der durch die Alliierten erkämpft worden ist, stellte sich die Frage nach dem «Weg aus der Knechtschaft». Es kann und soll im folgenden nicht das «Wirtschaftswunder» als wirtschaftlicher und politischer Aufstieg der Bundesrepublik Deutschland historisch nachgezeichnet und gedeutet werden. Das Beispiel ist zwar naheliegend, aber die Parallelen mit der heutigen Situation im ehemaligen Ostblock dürfen nicht überschätzt werden. Wer heute einfach einen Mega-Marshallplan fordert, unterschätzt wohl die Komplexität der Probleme und überschätzt die Möglichkeiten der «Hilfe durch Geld».

Dass sich die Bezeichnung «Wirtschaftswunder» eingebürgert hat, ist wohl ein deutliches Zeichen für eine gewisse historische Einmaligkeit. Wunder pflegen sich bekanntlich nicht zu wiederholen, und sie lassen sich auch nicht planen und nachvollziehen. Trotzdem sind die Erfahrungen des bundesdeutschen Wiederaufstiegs für die ehemaligen Ostblockstaaten nicht einfach wertlos. Beachtung verdient die Tatsache, dass es für die entscheidende Währungsreform keinen «tragenden Konsens» unter den damaligen Volksvertretern gab, und dass das Volk gewissermassen gegen seinen erklärten Willen in jenes Experiment hineingestossen wurde, das sich im nachhinein so schnell als erfolgreich erweisen sollte. Man darf nicht vergessen, dass die freie Marktwirtschaft als Theorie damals unter Fachleuten keine unbestrittene Position hatte, und ihre brillanten Vertreter (unter anderen F. A. von Hayek, W.- Rapke, W. Eucken und L. von Mises) zum Teil als weltfremde und überholte Aussenseiter galten. Die Demokratie hat nicht den Markt hervorgebracht, sondern der rechtsstaatlich geordnete Markt die Demokratie.

Pikant und lehrreich ist vielleicht auch das heute kaum mehr beachtete Detail, dass Ludwig Erhard unter anderem Schüler des unorthodoxen Marxisten Franz Oppenheimer war. Oppenheimer vertrat einen konsequenten Anti-Etatismus . Das politische System war für ihn ein Überbleibsel aus Zeiten der Eroberung und der Unterdrückung. Oppenheimers Forderung nach «weniger Staatsapparat» könnte auch für den heutigen Exodus aus gescheiterten Systemen eine Schlüsselrolle spielen. Der starke, aber schlanke Rechtsstaat ist der bessere «Weg in die Freiheit» als die populistisch wuchernde Demokratie – mehr Liberalisierung, weniger Demokratisierung, könnte die Devise sein.

Das Entscheidende am «Wirtschaftswunder» war vielleicht gerade jene praktische «Verifizierung durch Erfolg» der auf dem Markt aufbauenden ökonomischen Theorien. Deren Gegenstück, die Theorie der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft, hat sich nun, 50 (bzw. 70) Jahre später, in langen und leidvollen Experimenten durch Misserfolg praktisch diskreditiert.
Über die Einführung der Marktwirtschaft ist am Anfang des «Wirtschaftswunders» eher ökonomisch als politisch abgestimmt worden, und der ausserordentlich rasch spürbare Erfolg hat dann die breite politische Zustimmung nachträglich ausgelöst. Was bei einer etwas längeren «Durststrecke» politisch passiert wäre, lässt sich nicht rekonstruieren.

Das Tempo war vielleicht eine Komponente des «Wunders». Entscheidend bleibt, dass jenes erfolgreiche Experiment primär als eine Eigenleistung erlebt und gedeutet wurde und nicht als Folge eines «Hilfsprogramms» der Siegermächte.
Das «Code-civil-Modell»

Stichwort: «Privatrechtsgesellschaft»

Die Umwälzungen im ehemaligen Ostblock werden mit guten Gründen als Revolution gedeutet. Das feudalismus-ähnliche «ancien régime» des real existierenden Sozialismus ist in vielfältiger Art und Weise beseitigt worden – mit Ausnahme von Rumänien und Jugoslawien – ohne Blutvergiessen. Welche Wege führen nun nach dieser gewaltlosen Revolution vom feudalistischen Staatssozialismus zur bürgerlich-marktwirtschaftlichen Ordnung?

Die äusserst gewaltsame Französische Revolution ist nur sehr bedingt mit den heutigen Umwälzungen vergleichbar. Immerhin gibt es wichtige Berührungspunkte und – auch hier – brauchbare Lehren.

Die Abschaffung bzw. Auflösung der alten Ordnung hinterliess ein Chaos. Vor allem die Eigentumsfrage war nach der Ent¬feudalisierung und Säkularisierung zunächst ungelöst – man stand vor dem Problem der Privatisierung. Zwei Strategien kennzeichnen die Politik Napoleon Bonapartes: Die Flucht aus den Sackgassen innenpolitischer Probleme in die aussenpolitischen Expansion und die Etablierung einer neuen bürgerlichen Ordnung auf der Basis des Privatrechts.

Das totalitäre Überspielen der nachrevolutionären inneren Zerrissenheit durch den Export der Revolution und im gemeinsamen Kampf gegen äussere Feinde brachte seinem Regime zwar den nötigen Popularitätsschub, aber es trug auch den Keim des Scheiterns in sich. In der heutigen Situation kann diese aggressive nationalistische Strategie höchstens noch als abschreckendes Modell dienen. Jede nationale Einigung und je¬der Systemwechsel, der auf Kosten irgendwelcher Sündenböcke erfolgt, ist gleichzeitig verwerflich und unstabil.

Interessanter ist die Art und Weise, wie er sich mit der Kirche aussöhnte, indem er ihren Fortbestand im Rahmen der Glaubensfreiheit gewährleistete, ohne die Säkularisation der Klöster und Kirchengüter rückgängig zu machen. Die bleibende Errungenschaft der nachrevolutionären Zeit ist aber der Aufbau einer zivilen Rechtsordnung. Sie ist in der heutigen Situation sehr bedenkenswert und nach wie vor modellhaft. Es war wohl nicht allein die neue Staatsverfassung, welche nach der Revolution den Grund zu einer neuen bürgerlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung legte und das Chaos beendete, sondern auch der «Code Napoléon». Dieser wurde von Napoléon (d.h. von den Juristen, die er einsetzte) nicht neu geschaffen, sondern in Anknüpfung an vorhandene römisch-rechtliche und gemeinrechtliche Traditionen innoviert, renoviert und restauriert.

Die Privatrechtsordnung ist ihrem Wesen nach eine Friedensordnung, in welcher die Idee des Friedens gegenüber der Utopie der Verteilungsgerechtigkeit Vorrang hat. An dieser Einführung und Wiedereinführung des Privatrechts und Privateigentums und der Verabschiedung des Gleichheitsideals liegt heute sehr viel. Es ist wohl ein lohnendes und keineswegs überflüssiges Unterfangen, das Modell der Einführung und Implementierung des «code civil» und der Zivilgerichtsbarkeit zu studieren und dessen Anwendbarkeit auf eine heutige Situation zu überprüfen. Das Privatrecht ist aufgrund seiner Struktur auf die Selbsterzeugung von Vertrauen ausgerichtet, und nichts in der heutigen Situation notwendiger als ein neues Fundament von «Treu und Glauben» und ein Sachenrecht, welches Eigentum verlässlich definiert. Unsere Privatrechtsordnung ist ein historisch gewachsenes Kulturgut ersten Ranges; sie verkörpert die gesellschaftliche Entwicklung, welche vom Gewaltprinzip zum Vertragsprinzip geführt hat und weiterhin führt.

Persönlichkeit, Selbstorganisation, Konsensehe, Familie und Erbrecht, Eigentum, Vertrag, Verantwortlichkeit, organisierte Kooperation, Geld – und Kreditwesen sind alles Marksteine auf dem Weg von der Gewalt zum Vertrag – der liberale Weg, der gleichzeitig auch die liberalen Ziele enthält. Dieser Weg bildet keine Gerade, sondern eine Spirale, bei der immer wieder alle Bereiche in neuen Zusammenhangen und Spannungsfeldern auftauchen. Das Eigentum der natürlichen Person bleibt beispielsweise stets mit dem Erbrecht und damit wenigstens zum Teil – mit der Institution der Familie verknüpft.

Die Institute des Privatrechts garantieren wegen der inhärenten Widersprüche keine automatische Konfliktfreiheit. Sie basieren von ihrer Entstehungsgeschichte her nicht auf dem politisch konfliktträchtigen Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit, sondern auf dem Prinzip der flexiblen Handhabung eines Friedensschlusses nach dem Verzicht auf Gewaltanwendung.

Napoleons Ordnungs-Strategie für die Überwindung des Revolutions-Chaos war gleichzeitig aggressiv-expansiv (Aussenpolitik) und konservativ-restaurativ (Kulturpolitik). Seine im Effekt freiheitsfeindliche, masslose europäische Machtpolitik überschattet seinen innenpolitisch konstruktiven Beitrag bei der Kodifikation des bürgerlichen Rechts, bei der Aussöhnung mit der Kirche und bei der Etablierung einer Privatrechtsgesellschaft.
Das «Calvin-Modell»

Stichwort: «Reformation»

Auf der Suche nach historischen Beispielen für folgenreiche und in mancherlei Hinsicht sicher auch erfolgreiche Reformen und Systemwechsel gelangt man notwendigerweise zur Reformation. Insbesondere der Calvinismus bedeutete nicht nur in religiöser Hinsicht eine radikale Umwandlung. Nach der – nicht unbestrittenen – These von Max Weber steht Calvins Lehre auch am Anfang jenes ökonomischen und sozialen Prozesses der Säkularisierung und der Rationalisierung, welcher den modernen Kapitalismus hervorgebracht hat.

Der im ehemaligen Ostblock stattfindende Reformprozess kann mit guten Gründen ebenfalls als Säkularisierung der sich auf Marx, Lenin und Stalin berufenen «Religion» des kommunistischen Sozialismus gedeutet werden. Zahlreiche seiner Anhänger haben in den letzten Jahren jene Glaubenskrisen durchgemacht, die mit der Abkehr vom allgemeinverbindlichen «rechten Glauben» und mit dem Austritt aus der Partei als seiner «Kirche» durchaus vergleichbar sind. Aufgrund seiner Deutung des Zusammenhangs von Calvinismus und Kapitalismus ist Max Weber auch zur klassisch gewordenen geistesgeschichtlichen Gegenposition zum historischen und dialektischen Materialismus gelangt : Nicht das (ökonomische, materielle) Sein bestimmt das (gesellschaftliche und politische) Bewusstsein, sondern das Bewusstsein bestimmt das Sein: Mit Ideen und Überzeugungen kann also die Realität massgeblich beeinflusst werden. Vàclav Havel hat davon nicht nur gesprochen, er beweist es auch durch sein Vorbild.

Die aktuelle ideengeschichtliche Bedeutung dieser funda¬mentalen Überzeugung für das Funktionieren einer freiheitlichen Demokratie und einer Marktwirtschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Mensch wird dadurch zu einem Wesen, das zur willentlich ethischen Anstrengung, zur ökonomischen und sozialen Leistung und zu selbstbestimmter Askese befähigt ist und sich frei dafür entscheiden kann. Leistung und Verzicht sind aus dieser Perspektive keine magischen Mittel der Heilssuche im Hinblick auf ein Jenseits, und auch keine individuelle Vollstreckungshilfen im Rahmen eines historisch gesetzmässigen Prozesses mit der Verheissung diesseitigen zukünftigen, kollektiven Glücks. Das sind bittere Wahrheiten, die beim Zusammenbruch jedes alten Glaubens erkennbar werden. Säkularisierung bedeutet immer auch Enttäuschung. In diesem Zustand der Enttäuschung wachsen die beiden grossen, einander entgegengesetzten ethischen Bedrohungen des resignierenden Menschen: der Mangel an Vertrauen und das Übermass an Vertrauen – Das calvinistisch-puritanische Mittel dagegen heisst Leistungsprinzip und Lernprinzip: Erziehung zur Arbeit, zur Verantwortung und zur Verzichtbereitschaft; Bildung und Arbeitskultur als bestimmte Grössen für Wirtschaft und Politik. Die an Calvin orientierten Puritaner predigten ihren Anhängern zur Überwindung aller Formen der Resignation den Wert der persönlichen Arbeit als Quelle des ausgewogenen Selbst- und Gottvertrauens. So heisst es etwa bei John Baxter: «Gott erhält uns zum Handeln und für unsere Tätigkeiten. Arbeiten ist das moralische und natürliche Ziel« sowie «Nur Gott dürft ihr arbeiten, um reich zu sein«. Arbeit wird aus der Sicht zu jener Praxis der auf Gott und den Nächsten bezogenen erlaubten und gebotenen Selbstliebe.

Die ethischen Forderungen nach wirtschaftlicher Eigenleistung und nach persönlichem Sparwillen sind in einer technisch-zivilisierten Konsumkultur ebenso notwendig wie unpopulär. Beliebter ist in Ost und West die hedonistische Forderung nach «Brot und Spielen», die im Rahmen eines wohlfahrtsstaatlichen Systems möglichst ohne persönliche Opfer – und «subito» – an möglichst viele Nutzniesser verteilt und umverteilt werden sollen.

Der real existierende Sozialismus hat die Appelle zu Leistung und Verzicht als Begleiterscheinung der «Durststrecke» zum klassenlosen Paradies derart strapaziert und diskreditiert, dass die individuelle Frustrationstoleranz im Hinblick auf gemeinsame Ziele sehr klein geworden ist. Die Ideologie, welche Solidarität predigte und verhiess, hat diese bis auf kleine, aber heute entscheidende Restbestände aufgebraucht und zerstört. Um so wichtiger ist es heute beim Aufbau einer funktionierenden Markt- und Geldwirtschaft, die simple wie unpopuläre Tatsache in Erinnerung zu rufen, dass es ohne Fleiss keinen Preis gibt. Es geht um den Versuch einer Anknüpfung an die noch vorhandene ethisch motivierte Leistungs- und Verzichtbereitschaft und um deren Neu- und Wiederbelebung. Dass dabei auch in¬dividuelle Eigeninteressen eine Rolle spielen dürfen und sollen, erhöht die Chancen dieses Modells.

Das sogenannte «Calvin-Modell» kann heute als Leitidee in der Ausdeutung von Max Weber unabhängig von seiner theologischen Verankerung in der Prädestinationslehre und auch unabhängig von konfessionellen Vorstellungen und kirchlichen Gruppierungen allgemein wegweisend sein. Wie der französische Historiker Fernand Braudel aufgezeigt hat, sind idealistische Konzeptionen durchaus auch mit materialistischen Komponenten dialektisch zu verbinden. Es gibt die Möglichkeit einer kombinierten idealistischen und materialistischen Geschichts- und Lebensauffassung. Die Idee der Freiheit und Selbstverantwortung soll auch für jene akzeptabel sein, die an metaphysische, biologische oder historisch sozio-kulturelle totale oder partielle Vorausbestimmtheit des Menschen glauben. «Sein» und «Bewusstsein», Materie und Geist wirken gegenseitig aufeinander ein, und verschiedene Vorstellungen über »letzte Fragen» verhindern einen Konsens über Zweitletztes keineswegs. Sie können koexistieren und einander wechselseitig positiv beeinflussen. Darin liegen die Chancen des ideologischen Pluralismus und der Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Es ist vielleicht nicht überflüssig zu sagen, dass Calvin und auch die anderen Reformatoren nicht im entferntesten daran gedacht haben, den Kapitalismus zu begründen oder zu rechtfertigen. Im Gegenteil – insbesondere bei Luther – finden sich zahlreiche Hinweise auf eine grundsätzliche Kritik an der damaligen Geldwirtschaft.
Aber vielleicht gehört es zu den Geheimnissen ihres Funktionierens, dass ihrer Tendenz zur Selbstzerstörung dauernd mit konstruktiver Kritik entgegengewirkt wird, sowie auch mit dem Hinweis auf die Bedeutung jener ethischen Werte, die jenseits von Angebot und Nachfrage liegen. Diese Erfahrung ist eine überkonfessionelle Errungenschaft, welche die Reformation und die katholische Reform gemeinsam vermittelt haben. Das hier beschriebene Modell ist also durchaus nicht konfessionell zu verstehen.
Das «Moses-Modell»

Stichwort: «Exodus«

Mit dem Begriff Exodus wird an den Auszug des «Volks Israel» aus Ägypten unter der Führung von Moses angeknüpft. Es ist dies «der menschheitsgeschichtliche Exodus» aus der Knechtschaft in die Freiheit schlechthin. Thomas Jefferson soll deshalb seinerzeit die Durchschreitung des Roten Meeres durch die Kinder Israels als Symbol für die Flagge der Vereinigten Staaten vorgeschlagen haben . Der Aufbruch, welcher die eigentliche Auswanderung, die Entbehrung und Lernprozesse der Wanderschaft durch die Wüste, den Bund mit Gott am Sinai und schliesslich die Inbesitznahme des «Gelobten Landes» umfasst, ist im 2. Buch Mose beschrieben, das allerdings nicht als Geschichtsquelle im modernen Sinn angesprochen werden kann.

Dieser Text enthält aber derart viel an historisch-anthropologisch interessanten und an aktuell interpretierbaren Erfahrungen, dass hier – losgelöst vom religiösen Gehalt im engeren Sinne – das Wagnis einer aktualisierenden Deutung unternommen werden soll, welche an die grosse Zahl von bisherigen Interpretationen und Fehlinterpretationen anschliesst. Diese Deutung erfolgt aus persönlicher Sicht und speziell um Hinblick auf die Problemlage beim Auszug aus der Knechtschaft des real existierenden Sozialismus. Sie beschränkt sich auf die «Zehn Gebote». Andere Passagen sind aber unter dem hier gewählten Aspekt ebenfalls höchst interessant, etwa der Kollektivierungsversuch des privaten Schmuckgoldes, der «Tanz ums goldene Kalb» und dessen «Reprivatisierung» durch Pulverisierung und Vermischung mit dem Trinkwasser. Sowohl der Ausbruch aus einer real existierenden und damit bekannten Situation als auch der Aufbruch zu neuen, teilweise unbekannten Zielen, ist notwendigerweise mit Hoffnungen und Ängsten verbunden. Der Weg aus der ägyptischen Knechtschaft ins Gelobte Land führte durch eine Wüste der Not und der Entbehrungen, und er dauerte mehr als nur eine Generation. Moses, der geistige Führer des Exodus, wird uns weder als König bzw. als politischer Stammesfürst noch als Priester oder religiöses Oberhaupt geschildert. Er ist in erster Linie ein Vermittler zwischen einer Glaubensüberzeugung und einer gesellschaftlich-wirtschaftlichen Realität: Als übrigens nicht durchwegs erfolgreicher – Kommunikator, wie man heute sagen würde, hatte er einen gemeinsamen Grundkonsens zu schaffen. Seine Botschaft war der Monotheismus und die damit verknüpfte Kernidee des Bündnisses. Er brachte die Eid-Genossenschaft zwischen Gott und seinem Volk zustande. Damit hat er jenes hohe Gut vermittelt und vermehrt, das im Chaos jedes Aufbruchs am knappsten ist: das Vertrauen. Er hat Vertrauen geschaffen, ohne allerdings Misstrauen auszuräumen. Das methodisch und inhaltlich nach wie vor höchst aktuelle vertrauensbildende Mittel waren die Zehn Gebote, jene Verfassungsgrundsätze, welche als Bedingungen Gottes an seine Verbündeten überliefert worden sind.

Das erste Gebot, »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben» sieht auf den ersten Blick «pluralismusfeindlich» und doktrinär aus. Es erinnert an «den einen und einzig richtigen Weg» und an «die eine und einzige ewige Wahrheit und Gerechtigkeit», die es gemeinsam und zwingend verbindlich zu glauben gilt. Aus
dieser Sicht wäre das erste Gebot völlig ungeeignet, um den befreienden Weg aus den Dogmen des Marxismus-Leninismus-Stalinismus zu eröffnen. Dieses erste Gebot kann aber erst in Verbindung mit dem zweiten Gebot verstanden werden, mit dem Bildnisverbot, das unter anderem auch die Gefahr eines neuen Dogmatismus bannt und den Weg zum Pluralismus und Individualismus öffnet.

Eines der grossen menschheitsgeschichtlichen Verdienste des personenbezogenen Monotheismus ist vielleicht – so paradox dies tönt – die prinzipielle Ermöglichung des Zweifels und des Atheismus. Die Öffnung individueller Wege zu einem individuellen Gottesverständnis ermöglicht auch den Schritt der Ablehnung als radikale Antwort auf Zweifel. Das von christlichen Inquisitoren und Ketzerverbrennern am meisten missverstandene und verletzte Gebot ist das Bildnisverbot als absolute Schranke für die allgemeinverbindliche Dogmatisierung persönlicher Glaubensinhalte. Der »eine lebendige Gott» darf nicht durch ein menschliches Fixieren an Dogmen zum Schweigen gebracht werden, und die Dialektik des inneren und äusseren Diskurses um letzte Fragen soll nicht durch ein endgültiges totes Symbol oder Idol unterbrochen sein. Dass sich »der lebendige Gott» als Bündnispartner ganzheitlich ewig und als Einheit zu erkennen gibt, schafft erst die Basis des Vertrauens, und die Voraussetzung für ein persönliches individuelles und vielfältiges Gottesverständnis, welches auch Skepsis und Verneinung – das Hadern mit Gott- zulässt, ohne dass Zweifler und Ungläubige aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden müssten.

Das erste und das zweite Gebot begründen das Prinzip der Treue als Basis sozialen Verhaltens und das Prinzip der lebendigen Vielfalt als Basis individuellen Bekennens. Beide Prinzipien sind in der Exodus-Situation kollektiv und individuell überlebenswichtig. Über das Prinzip der Treue hat der polnisch-englische Dichter Joseph Conrad, der selber erlebt hat, was »Exodus» bedeutet, in seinen Erinnerungen folgendes geäussert: «Wer mich gelesen hat, kennt meine Überzeugung, dass die Welt, die vergängliche Welt, auf einigen wenigen, sehr einfachen Gedanken ruht, Gedanken von einer solchen Einfachheit, dass sie so alt sein müssen wie die Berge. Sie ruht unter anderem sehr merklich auf dem Gedanken der Treue .»

Beim dritten Gebot, «Du sollst den Namen deines Gottes nicht missbrauchen»«, ist vor allem an die Gefahren des neuen Aberglaubens und des auf magische Praktiken abgestützten Sektierertums aller Arten zu denken. Die Abkehr vom sozialistischen Materialismus könnte allenfalls zu neuen kollektiven und wahnhaften totalitären religiösen Gruppierungen führen. Das dritte Gebot versucht diese Gefahr zu bannen.

Im vierten Gebot der Sabbatheiligung ist vielleicht ein Hinweis auf die Grenzen des Leistungsprinzips (und der calvinistischen Leistungsethik) enthalten und auf die Bedeutung von Musse, Fest und Feier, Tradition und Geselligkeit und auf den ganzen seelisch-geistig-kulturellen Bereich «jenseits von Angebot und Nachfrage» und jenseits des Kampfs um die materielle Existenz. Das Gebot richtet sich natürlich vor allem auch an westliche «workaholics», und es enthält vielleicht für manchen, welcher der verlorenen Gemütlichkeit planwirtschaftlicher Ineffizienz nachtrauert, einen gewissen Trost. Es geht bei diesem Gebot nicht um eine untergeordnete Kontroll-Vorschrift über die zeitliche Arbeitsorganisation, sondern um ein fundamentales Prinzip, das auf eine hohe Stufe der Werthierarchie gehört.

Vom fünften Gebot, «Du sollst Vater und Mutter ehren«, hängt der Fortbestand einer Gesellschaftsordnung ab. Es ist die Basis des Generationenvertrags, der nicht nur den engeren Kreis der Familie betrifft, aber doch auf diesem aufbaut. Entscheidend ist, dass mit dem Begriff «ehren» durchaus mehr gemeint ist als nur die finanzielle Versorgung, durch kollektiv erarbeitete Renten. Die persönliche Rücksichtnahme und die menschliche Sorge sind ein wesentlicher Bestandteil der Lebensqualität älterer Menschen. Die wirtschaftliche und soziale Sicherheit der Eltern und Älteren (die Rentenfrage, aber auch die menschliche Rücksichtnahme) ist eines der grossen praktisch zu lösenden Probleme beim Exodus aus dem real existierenden Sozialismus. Es gehört auch heute und gerade heute zu den entscheidenden Traktanden.

Bei den folgenden Geboten sechs bis neun geht es um das Verbot des Mordens, des Ehebruchs, des Diebstahls und der Verleumdung. Der aktuelle Gehalt in der heutigen Exodus-Situation unterscheidet sich nicht signifikant vom allgemeinen und überzeitlichen Gehalt der Menschenrechte. Es soll in diesem Zusammenhang noch einmal der hohe Stellenwert des Zivilrechts und des zivilrechtlichen Vertrauens- und Eigentumsschutzes in Erinnerung gerufen werden, der unter dem »Code-civil-Modell« dargestellt worden ist.

Das wirklich Entscheidende und für den Erfolg oder Misserfolg dieses Exodus in eine marktwirtschaftliche Ordnung ist wohl das zehnte Gebot, das einen dringenden Appell zum Verzicht auf alle Arten des Neides enthält. Der Sozialismus ist auf Grund seines klassenkämpferischen Gleichheitspostulats mit gewissem Recht schon als «Philosophie des Neides» charakterisiert worden. Beim Übergang zur Marktwirtschaft ist es sowohl unvermeidlich als auch notwendig, dass grosse Einkommens- und Vermögensunterschiede entstehen. Wird eine an die «Gleichheit im Mangel» gewöhnte Bevölkerung diese Ungleichheiten sozial- und individualpsychologisch verkraften? Nicht dass Ungleichheit in Vermögen und Einkommen in den ehemaligen Ostblockstaaten etwas Neues wäre. Mit Empörung wurden und werden heute die Vermögensverhältnisse der ehemaligen «Nomenklatura» enthüllt. Aber bald werden erfolgreiche Geschäftsleute und Mitbürger ebenfalls über überdurchschnittliche Einkommen und Vermögen verfügen, und das ist eine latente Gefahr für den sozialen Frieden und für den Fortbestand des gemeinsamen Glaubens an eine soziale und ökologische Marktwirtschaft.

Während die durch ausserordentliche Arbeitsleistung erworbenen ausserordentlichen Einkünfte mehrheitlich als «gerechter Lohn» durchaus noch toleriert werden, stösst die Akzeptanz von hohen Kursgewinnen oder von Erträgen aus der sogenannten Spekulation schnell einmal an ihre Grenzen übrigens auch in durchaus «marktwirtschaftsgewohnten» Verhältnissen. Solche Gewinne gelten gerade für puritanisch-leistungsorientierte Wettbewerbsteilnehmer als «unverdient». Trotzdem gehören sie notwendigerweise zum Kapitalismus. Sie sind gewissermassen ein Bestandteil seines »Systempreises», der in Form von Ungleichheit zu bezahlen ist, was häufig als «sozial ungerecht» empfunden wird.
Nach dem Grundsatz «pour vivre bien vivons cachés» haben erfolgreiche Kapitalisten darum immer wieder versucht, solche Herausforderungen der Ungleichheit nicht zu strapazieren und einen Lebensstil zu praktizieren, der einerseits soziale Provokation vermeidet und andererseits zur freiwilligen Unterstützung sozialer und kultureller Anliegen bereit ist. Ob wohl die neue Klasse der wirtschaftlich Erfolgreichen diese überlebenswichtigen Klugheitsregeln rechtzeitig wahrnehmen wird?

Das kurz und prägnant gefasste zehnte Gebot ist der Prüfstein für die Aufrechterhaltung einer sozialen Friedensordnung. In der gemeinsamen Not der Knechtschaft sind alle Betroffenen gleich. Die Neid- und Rachegefühle richten sich nicht gegen ihresgleichen, sondern gegen das verhasste Regime. Nach gemeinsam durchgestandener Not und nach gemeinsamem Umherirren in der Wüste folgt der Einzug ins (vielleicht allzu hoch) gelobte Land der Marktwirtschaft, in dem die Vielfalt der Einkommens- und Eigentumsverhältnisse schnell einmal zu grossen Unterschieden führt – selbst wenn es allen – auch den Ärmsten – besser geht. Wenn durch Steuern und «Umverteilung» gleich alle Einkommens- und Vermögensunterschiede zwangsweise zum Verschwinden gebracht werden, zerstört der Staat nicht nur die Vermögensbildung und das neue eigenständige Investitionspoten¬tial, sondern auch die sozial überlebenswichtigen Anreize zur Eigenleistung und zum Sparen als Verzicht im Hinblick auf selbstbestimmte Ziele.
An diesem Punkt muss sich das gemeinsame Vertrauen bewähren: Der gemeinsame Friede im Wettbewerb des Marktes muss vor der gemeinsamen Realisierung einer ausgleichenden Gerechtigkeit generell den Vorrang haben. Das Mittel dazu ist der Verzicht auf Neid und das Akzeptieren von Unterschieden einerseits, sowie der Verzicht auf Missbrauch wirtschaftlicher Macht und die Bereitschaft zum freiwilligen kulturellen und sozialen Engagement andererseits: Das Programm der zehn Gebote, das seit dem ursprünglichen Exodus zu den grossen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Menschheit gehört.

Der Exodus hat nicht nur eine kulturhistorische Dimension, sondern auch eine anthropologische. Der Mensch lebt ursprünglich im Zustand naturbedingter Knechtschaft und bleibt darin auch räumlich gefesselt. Als Nomade begibt er sich auf die Wanderschaft, indem er sein Schicksal gemeinsam aktiv mitzubestimmen beginnt. Schliesslich erlangt er eine neue Sesshaftigkeit in der nachhaltigen Kultivierung der Natur.
Das «Schöpfungsmodell»

Stichwort: «Genesis»

Nachdem in der Weltgeschichte fünf mögliche Wege des Übergangs von einer bisherigen in eine neue Ordnung und fünf Brücken der Überwindung des zwischenzeitlichen Chaos erkundet worden sind, soll abschliessend die Grenze zwischen Geschichte und Mythos definitiv überschritten werden. Jede Revolution hat auch restaurative Tendenzen, und darum verdient das Schöpferische und Spontane besondere Beachtung. Beim Exodus aus dem real existierenden Sozialismus geht es um einen Aufbruch zu neuen Ufern und damit um mehr als eine Rückkehr ins Bürgertum des 19.Jahrhunderts. Es ist zu hoffen, dass vor allem in Westeuropa das Schöpferische und welthistorisch Neue an diesem Prozess erkannt und richtig gewürdigt wird. Nur dann wird der Erfahrungsschatz der Geschichte um ein global wertvolles und auch wegweisendes Experiment bereichert.

Ein besonders eindrückliches Modell für schöpferische Prozesse schlechthin ist die Erschaffung der Welt nach dem ersten Kapitel des Alten Testaments. Dieser Text spricht für sich selbst, und es sollen hier lediglich noch ein paar wenige Andeutungen dazu vermerkt werden. Am ersten Schöpfungstag wird der Himmel (das Geistige, Ideelle) und die Erde (das Materielle) geschaffen, und das Licht der Wahrheit bricht hervor. Als Zweites erscheint der Wasserkreislauf zwischen den «oberen und unteren Wassern» als Sinnbild der Kommunikation und des Kommunizierens. Als Drittes taucht das Festland auf, als Ort heimatlicher Verwurzelung, als «Boden unter den Füssen». Am vierten Schöpfungstag werden die Himmelskörper geschaffen, welche als zeitlich-örtliche Orientierungspunkte Kultur und Tradition sowie Geschichtsbewusstsein ermöglichen. Am fünften Tag erscheinen Fische und Vögel, die seelische Tiefen und geistige Höhen beleben und als Letztes und Sechstes wird der Mensch gemeinsam mit den Tieren des Landes und in Verbindung mit natürlicher Umwelt, Mitwelt und Nachwelt erschaffen. Der siebte Tag gehört der schöpferischen Musse, jener Freiheit, die gleichzeitig Anfang und Voraussetzung aller weiteren schöpferischen Prozesse ist.

3. Weniger Staat – mehr Sicherheit, Recht und Ordnung

Das politische System im Spannungsfeld rationaler und emotionaler Ansprüche

«Mach dir nichts aus Widersprüchen. Sie sind gut. Sie beweisen, dass der Geist der Gerechtigkeit noch in uns waltet.” (Johannes Urzidil)

Die Formel «Weniger Staat mehr Sicherheit, Recht und Ordnung” ist kennzeichnend für die teilweise Widersprüchlichkeit vorherrschender politischer Wunschvorstellungen. Eine Analyse einzelner Komponenten zeigt, dass dahinter nicht einfach propagandistische Verlogenheit, sondern ein echtes Malaise steckt, das allerdings mit den Stichworten «Konsensknappheit” bzw. «Legitimationskrise” nur unzulänglich charakterisiert ist. Knapp ist beim Bürger heute der «Konsens mit sich selbst”, die persönliche Balance zwischen Emotionen und Verstand. An der Wurzel des Malaises können drei wesentliche Defizite diagnostiziert werden ein Emotionalitätsdefizit, ein Rationalitätsdefizit und ein Integrationsdefizit. Die drei Defizite lassen sich nicht gegeneinander ausspielen, auch wenn dies im politischen Parolenkampf immer wieder geschieht. Es droht stets die Gefahr einer Flucht aus dem einen ins andere Defizit.

Alle «therapeutischen Bemühungen” sollen sich darauf konzentrieren, in den erwähnten Bereichen gleichzeitig Ausgleiche herzustellen. Aus liberaler Sicht ist das Emotionelle (seine Chancen und Gefahren) im privaten, kleinen Kreis am besten aufgehoben, wahrend das Rationale global zu verankern und in seinen Gefahren durch die Öffentlichkeit zu bannen ist. Um dies zu ermöglichen, ist in verschiedener Hinsicht eine Umkehr von Tendenzen notwendig, die persönliche Anstrengungen auf allen Ebenen erforderlich macht.

3.1 Staatsverdrossenheit, Sicherheitsbedürfnis und Ordnungssehnsucht
Wahlslogans als politische Stimmungsbarometer

Widersprüche und Sprüche gehören schon seit je zur parteipolitischen Programmatik und auch zur Tagespolitik. Kaum jemand erwartet von der Politik die Erfüllung aller Versprechungen, und die Meinungsvielfalt in der Demokratie bietet mannigfache Möglichkeiten, die Verantwortung für das Nichterreichen von Zielen den andern, dem politischen Gegner, den wirtschaftlichen Umständen, den technischen Sachzwängen oder den Wählern und Stimmbürgern selber aufzubürden. Dies führt zum Abbild und Zerrbild des gewiegten Politikers, der zwar für alles zuständig, aber an nichts schuld sein möchte und der aus diesem Grund einen Staat braucht, der für nichts zuständig, aber an allem schuld ist. Es wäre allerdings zu billig, alle politischen Zielkonflikte und alle Orientierungsschwierigkeiten, die heute feststellbar sind, mit dem Hinweis auf die möglicherweise positiven Auswirkungen eines «Marktes der Widersprüche” abzutun.

Sicher gehört es zum «goldenen Schatz” der individuellen Lebenskunst, mit Widersprüchen leben zu lernen, es darf aber mit guten Gründen bezweifelt werden, dass Widersprüche automatisch den «Geist der Gerechtigkeit” anzeigen. Ein voreiliges und blindes Akzeptieren widersprüchlicher Forderungen kann sehr wohl in jene Sackgasse der Verlogenheit und der Selbstlüge führen, aus der keine Kompromissbereitschaft mehr heraushilft. Der erfolgreiche und vielzitierte Slogan «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung – weniger Staat” wurde 1979 in den Nationalratswahlen von der Freisinnig-demokratischen Partei der Schweiz lanciert. Sie löste damit ein grosses Echo in der Öffentlichkeit aus. Hans Rudolf Leuenberger schreibt dazu : «Das Postulat vermochte offensichtlich breite Volksschichten anzusprechen, die gegenüber der ständigen Ausweitung der Staatstätigkeit ein Unbehagen empfinden, und die eigenen Leute für den Urnengang zu mobilisieren, die sich von der ebenso kurzen wie prägnanten Aussage dieser Parole intuitiv angesprochen fühlten. Die integrierende Wirkung des Leitspruchs, der neben andern Aussagen der Partei in den Vordergrund gerückt wurde, hat auch wesentlich zum guten Wahlergebnis beigetragen. Die noch heute gereizten Reaktionen des politischen Gegners – aber auch die Hoffnung weiter Kreise auf dessen Konkretisierung – bestätigen dessen Schlagkraft vollends.”

Der Titel des vorliegenden Aufsatzes ist in dieser paradoxen Form nie auf einem Wahlplakat erschienen, aber er charakterisiert meines Erachtens eine weit verbreitete Grundstimmung: Staatsverdrossenheit verbunden mit Sicherheitsbedürfnis und Ordnungssehnsucht. Es soll im folgenden untersucht werden, ob in dieser Grundstimmung der «Geist der Gerechtigkeit” reelle Chancen hat, sich zu entfalten, oder ob das Spannungsfeld gleichzeitig unerfüllbare Wünsche einen Teufelskreis der Selbsttäuschung, der Täuschung und der Enttäuschung bewirkt.

Die Formel «Weniger Staat” erscheint wie erwähnt erstmals 1979 in der freisinnigen Wahlkampagne. Der Verfasser dieser Zeilen hatte aber schon 1970/71 in einer ausführlichen internen persönlichen Stellungnahme zur Leitbilddiskussion der FDPS auf die von ihm vermutete Attraktivität und Aktualität der «Weniger-Staat-Reflexe” hingewiesen. Ein Auszug aus diesem Text sei hier wiedergegeben, weil darin der Versuch zum Ausdruck kommt, in der bereits damals starken «Law-and-order”-Stimmung einen liberalen Gegenakzent zu setzen, der nach wie vor aktuell ist.

3.1.1 «Weniger Staat” als Verzicht und als «Fortschritt in eine andere Richtung”

«Die Idee des Marktes ist für den Liberalismus grundlegend. Nach liberaler Auffassung ist Politik u. a. ein Markt für den öffentlichen Meinungsaustausch. Auf diesem Meinungsmarkt sollen verschiedenste Ideen – auch unkonventionelle Gedanken und Vorschläge – eine Chance haben. Den Aussenseitern kommt sogar eine wichtige und für die Zukunft entscheidende Funktion zu, denn der Markt lebt von der Vielfalt und Offenheit, und diese entsteht nicht durch die Angebote und Nachfragen des Durchschnittes, sondern in schöpferischen Prozessen abseits der Mitte. Darum sollten als Grundwerte des Liberalismus Vielfalt, Offenheit und schöpferische Phantasie im Vordergrund stehen und nicht Ruhe und Ordnung.
Mit «Law-and-order”-Parolen kann sich jede politische Partei zwar einen grossen Stimmenanteil sichern, sie verliert dabei aber auf lange Sicht den kreativ-kritischen Nachwuchs. Man sollte sich darüber Rechenschaft ablegen, dass der Liberalismus auch eine gesellschaftskritische, systemverändernde Komponente hat, vor allem wenn man davon ausgeht, dass unsere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität in zahlreichen Belangen den Idealen der Freiheitlichkeit nicht entspricht. Den Liberalismus gilt es also in der Wirklichkeit nicht gemäss der Formel «nach wie vor” zu konservieren; man muss ihm in mancher Hinsicht heute erst zum Durchbruch verhelfen. Die wirtschaftlichen und bildungsmässigen Voraussetzungen für einen glaubwürdigen und wirksamen Appell an den Willen zur Selbständigkeit, zur Selbstverwirklichung und Selbstbeschränkung, d. h. zur Autonomie des mündigen Menschen, waren im letzten Jahrhundert nur bei einer Minderheit gegeben. Das Ideal der Freiheitlichkeit war und blieb zum Teil ein Luxus für diejenigen, die eine gewisse materielle Sicherheit genossen. Die «grösstmögliche Zahl”, für welche «grösstmögliche Freiheit” gefordert wurde, blieb erschreckend klein. Man erkannte aber, wie die Formel zeigt, schon früh, dass Freiheit zwar nicht nur, aber auch ein Verteilungsproblem ist. Heute sind nicht zuletzt dank Koalitionen im rechts- und sozialstaatlichen Kompromiss in der Schweiz grundsätzlich die materiellen Voraussetzungen für das Postulat nach «möglichst viel Freiheit für alle” in hohem Mass gegeben. Der Liberalismus wäre also nicht nur salonfähig, sondern auch werkstatt- und küchengerecht. Die Verteilung von Freiheit und Sicherheit muss nicht mehr so erfolgen, dass dem Starken die Freiheit und dem Schwachen die Sicherheit zufällt. Jedermann (und jede Frau!) sollte bereit und in der Lage sein, ein selbstgeschnürtes «Multipack” an Freiheit und Sicherheit zu übernehmen und zu (er)tragen. Allerdings darf man dabei nicht vergessen, dass Freiheit und Sicherheit des einen eben oft des andern Unfreiheit und Unsicherheit zur Folge hat. Das Problem der Freiheit auf Kosten anderer stellt sich heute primär gegenüber der Dritten Welt, aber auch gegenüber künftigen Generationen. In diesem Spannungsfeld erweist sich die starke Diskrepanz zwischen liberalen Idealen und der Wirklichkeit, jene Spannung, welche dem Liberalismus eine hohe und immer wieder neue Aktualität verleiht. Also nicht: «Liberalismus – nach wie vor”, sondern: «Liberalismus eine unerfüllte Herausforderung für die Zukunft”.

Freiheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Der Wunsch nach mehr Freiheit kommt in den heute immer stärker spürbaren Reflexen gegen die Staatsmacht zum Ausdruck. Breite Kreise wollen heute weniger Bürokratie, weniger Leistungs- und Lenkungsstaat und einen Stopp der Aufgaben- und Ausgabenexplosion beim Staat. Die Bereitschaft zu den damit verbundenen Verzichtleistungen ist wohl latent stärker vorhanden als etablierte, teilweise von falschen Versprechungen lebende Interessenpolitiker meinen. Schlagworte wie «Weniger wäre mehr”, Appelle an Bescheidung («Es muss anders werden”), an das Erkennen von Grenzen (« Bis hierher und nicht weiter”), an Umkehr und Einkehr hätten wohl mehr Attraktivität als die herkömmliche Mischung von Fortschritts- und Bewahrungsideologie, welche eine gemässigt fortschreitende Bedürfnisbefriedigung aufgrund des eingespielten politischen Kräfteparallelogramms propagiert. Gerade dieses Fortschreiten im Sinn des «Weiterwurstelns” kann nach weit verbreiteter Ansicht und Grundstimmung zu einer fatalen allgemeinen Krise fuhren.”

3.1.2 Sicherheit statt Freiheit?

Die unter Ziffer 2 auszugsweise zitierte Stellungnahme ist nicht in die Parteigeschichte eingegangen, sie ist aber geeignet, jene Wurzeln aufzuzeigen, aus denen Wahlslogans als bunte Blüten hervorspriessen, die dann – leider oft genug – nur spärliche Früchte tragen.

Es geht nun nicht darum, ein weiteres Kapitel der FDPS-Parteigeschichte zu schreiben , und folgende Hinweise mögen genügen. Die «Zielsetzungen ,71’” appellierten weder an die antistaatlichen Reflexe noch an latente und manifeste «Law and order”-Wünsche. Sie stellten das Leitbild der humanen Schweiz und einen gemässigten Fortschrittsoptimismus in den Mittelpunkt. In den «Zielsetzungen ,75”‘ kommt das Eingehen auf Sicherheitswünsche schon deutlicher zum Ausdruck. In der Einleitung heisst es dort: «Die einen sind durch die rasche technische und industrielle Entwicklung und die mit ihr verbundene Überbeanspruchung natürlicher Lebensgrundlagen, durch weltweite Bevölkerungsexplosion und den Raubbau an Rohstoffen beunruhigt; andere beklagen den Verlust an Gemeinschaftssinn, sozialer Geborgenheit und der Überblickbarkeit vertrauter Verhältnisse; schliesslich wird die Frage nach der Freiheit in einer mehr und mehr organisierten und fusionierten Welt aufgeworfen und vor einer Überbeanspruchung von Staat und Wirtschaft gewarnt.” Auch das für die siebziger Jahre kennzeichnende Modewort «Verunsicherung” fehlt nicht. «Zweifel sind aufgetaucht, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind [… ] Angesichts dieser Verunsicherung ist das Bedürfnis nach einer Neubesinnung auf Grundsätze und Ziele des Liberalismus erwacht.” Zur Verteidigung der rechtsstaatlichen Demokratie hält das Programm fest: «Der liberale Staat darf kein schwacher Staat sein, wenn es um die Sicherheit der Freiheit jedes einzelnen, seiner demokratischen Institutionen und um die Gewährleistung der Wettbewerbsordnung geht.” In den «Zielsetzungen 1979/83” erscheint erstmals die Formel «Weniger Staat”, allerdings verbunden mit nachdrücklichen Hinweisen auf die Bejahung des leistungsfähigen und nach innen und aussen abwehrbereiten starken Rechtsstaats.
Man könnte nun versucht sein, die programmatische Akzentsetzung im Zeitablauf als ein Schwinden der Freiheits- und ein Zunehmen der Sicherheitskomponente zu deuten. In den sechziger Jahren wäre aus dieser Sicht die Freiheitsidee in Verbindung mit dem Postulat der «Bildung für alle” und der «Emanzipation” im Vordergrund gestanden. Nach der Bildungseuphorie der sechziger Jahre könnte man eine Umwelt- und Lebensqualität-Euphorie der siebziger Jahre feststellen, die dann in die konservative Welle und die diffusen Sehnsüchte der achtziger Jahre überleitet. Diese verkürzende und unzulässig vereinfachende Betrachtungsweise ist verfehlt.
Sicher geben erfolgreiche Wahlslogans einen gewissen Einblick in die geistige und politische Situation der Zeit. Eine sozialpsychologische und empirisch untermauerte Untersuchung über die propagandistische und tatsächliche Wirksamkeit politischer Slogans und Versprechungen wäre ausserordentlich interessant. Politische Modebegriffe haben kurze Halbwertzeiten. Das Wesentliche am Spannungsfeld «Weniger Staat – mehr Sicherheit, Recht und Ordnung” zeigt sich nicht in der grob vereinfachenden historischen Betrachtungsweise. Im Mittelpunkt steht das Problem des Konsenses, das seinerseits eng mit der Regierbarkeit verknüpft ist.

3.2 Konsensknappheit oder Malaise: Wenig Chancen für «weniger Staat”

Das Auseinanderklaffen zwischen Anforderungen und funktionalen Möglichkeiten im demokratischen Leistungsstaat ist auch für die Schweiz schon verschiedentlich beschrieben worden. Bereits 1969 hat Kurt Eichenberger in seiner Basler Rektoratsrede darauf hingewiesen, dass die Strukturen, Verfahren und Arbeitsweisen unseres Staates auf die Dauer den Erwartungen und Forderungen der Bürger nicht gewachsen seien. Er erwähnt zwei Möglichkeiten, die Überforderung abzuwenden: die Reduktion des Staatlichen und Änderungen im Bereich des Organisatorisch-Funktionellen. Das Hauptaugenmerk legt er auf letzteres. Es klingt wie eine vorweggenommene ebenso grundsätzliche wie auch realitätsnahe Kritik der Forderung nach «Weniger Staat”, wenn er die Reduktion des Staatlichen in festere Grenzen als das «Unerhöhrte einer restaurativen Revolution” bezeichnet, die eine «Verinnerlichung des Menschen und eine radikale Neubesinnung” voraussetzen würde. In einem weitern 1980 verfassten Aufsatz ist dann – wohl nicht ohne Seitenblick auf den FDP-Parteislogan – von «wunderlichen Versuchen zur Rückkehr in den Minimalstaat” die Rede.

Eine optimistischere Beurteilung der «Weniger-Staat-Idee” findet sich bei Hans Herbert v Arnim . Er schreibt zunächst über die auf den ersten Blick paradox anmutende Erscheinung, dass eine Eindämmung staatlicher Kompetenzen eine Stärkung des Staates im Hinblick auf seine Fähigkeit, dem Gemeinwohl Rechnung zu tragen, bewirken kann. Da der demokratische Staat aufgrund des sogenannten Verhandlungsparadoxons vor allem starke Gruppeninteressen berücksichtigt, hat eine Ausweitung seiner Kompetenzen indirekt eine weitere Verstärkung dieser Gruppeninteressen auf Kosten des Gemeinwohls zur Folge. Die Beschränkung der rechtlichen Kompetenzen des Staates bewirkt zwar auch seine Schwächung bei der Bekämpfung von Fehlentwicklungen. Dafür wird dem Staat die Möglichkeit genommen, selber Fehlentwicklungen zu initiieren. Wörtlich führt er dazu aus: «Selbst wenn man zugibt, dass das sich selbst überlassene wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräftespiel durchaus nicht zum Optimum tendiert und staatliche Massnahmen – theoretisch – durchaus eine Verbesserung bewirken könnten (was der Liberalismus übrigens auch bestreitet) kann man für eine Zurückdämmung des Staates plädieren mit der Begründung: die Chance, dass die theoretisch richtigen Massnahmen in der praktischen Politik durchgesetzt würden, sei zu gering.” Wer davon ausgeht, dass der Staat im Hinblick auf das Gemeinwohl viel Unrichtiges tut, muss konsequenterweise gegen die Erweiterung staatlicher Kompetenzen und für deren Beschränkung optieren.

Eine wirksame «Weniger-Staat-Politik” wäre in der Schweiz nur möglich, wenn es zu einer Koalition der verzichtbereiten radikal Neubesonnenen (Eichenberger) mit den unterrepräsentierten Unzufriedenen (v. Arnim) käme. Dies ist im schweizerischen Parteiengefüge generell kaum denkbar, wobei allerdings die Referendumsdemokratie ein ad-hoc Zusammenwirken verschiedenster Gruppierungen stets möglich macht.

In der Bundesrepublik wurde die hier angesprochene Problematik unter den beiden Stichworten «Legitimationskrise” und ,,Konsensknappheit” abge¬handelt. Der von Habermas verwendete Begriff «Legimationskrise” wird nicht von allen Seiten akzeptiert, weil Umfrageergebnisse über die Zufriedenheit mit dem Staat den Begriff «Krise” kaum rechtfertigen. Wenn unter «Krise” lediglich die Herausforderung zu Entscheidungen gemeint ist, so wird dadurch allerdings das Wesentliche am hier abgehandelten Thema charakterisiert: Der Bürger kann nicht gleichzeitig hohe Freiheits- und Sicherheitsforderungen an den Staat richten und sich den Wunsch nach weni¬ger Steuern, weniger Beamten und weniger Gesetzen uneingeschränkt erfüllen.

Paul Noack diagnostizierte für die Bundesrepublik, dass unsere Zeit durch Tendenzen dominiert werde, die sich eigentlich ausschliessen müssten: «Das Bedürfnis nach Hierarchie und Führung hier und der Wunsch nach
Partizipation und Selbstbestimmung dort; Globalismus, Nationalismus und Tribalismus zugleich; Ökonomismus und Wertbewusstsein, Ablehnung von Religion und Suche nach metaphysischem Halt.” Für die Schweiz hat Ruedi Schatz auf diese Erscheinung im Zeitgeist hingewiesen.

Der Begriff ,,Konsens” wird in der politologischen Literatur sehr unterschiedlich verwendet. Es mag dahinter u. a. auch ein Übersetzungsproblem stecken. Der englische Begriff «consent” im Sinne von «Zustimmung” ist ein Grundbegriff der Demokratietheorie und der Politikwissenschaft schlechthin , während der Begriff «consensus” lediglich für die Bezeichnung der allseitigen Zustimmung gebräuchlich ist. Eine wörtliche Übersetzung aus dem lateinischen «consensus” zeigt als sprachliche Wurzel das gemeinsame Fühlen auf. Das Verständnis, welches eine Folge inhaltlicher Übereinstimmung von Willenserklärungen ist, basiert offenbar auf einem durch die Sprache vermittelten gemeinsamen Gefühl. Der Begriff des Konsenses spielt in der Rechtswissenschaft im Zusammenhang mit dem Obligationenrecht eine zentrale Rolle. Er bezeichnet dort die Übereinstimmung von Antrag und Annahme. Die Privatrechtswissenschaft hat sich eingehend mit den Problemen befasst, die bei mangelhafter Willensbildung auf der einen oder auf beiden Seiten entstehen. Was nun im politischen Zusammenhang als interpersonelle Konsensknappheit gedeutet wird, ist wohl in zahlreichen Fällen die direkte oder indirekte Folge mangelhafter innerpersoneller Willensbildung. Der heutige Bürger ist in vielerlei Hinsicht uneins mit sich selbst, indem er eine Fülle von Wünschen und Forderungen an den Staat mit sich herum trägt, die sich gegenseitig ausschliessen. In dieser Situation ist der Mensch unfähig, echte Autonomie wahrzunehmen, weil der «autos” (das Selbst), der sich «nomoi” (Gesetze) geben soll, mit sich selbst weitgehend im Streit liegt. Die Vermutung liegt nun nahe, dass man in dieser Situation, die einem mehr oder weniger vertraut sein mag, gerne die interne Konsensknappheit, d. h. das «Uneins-Sein-mit-sich-selbst» nach aussen projiziert und die Schuld an dieser Art von «Knappheit” bei andern sucht.

Die äussere Arbeitsteilung und das differenzierte Rollenverständnis haben offensichtlich die Tatsache begünstigt, dass der Bourgeois als Konsument staatlicher Leistungen und der Citoyen als Gesetzgeber und als Wähler sowie der Steuerzahler, der zwischen (unter oder über) den beiden Rollen steht, oftmals mit sich selbst in schwer lösbare Konflikte verwickelt ist. Auch der «homo oeconomicus», der «homo politicus» und der «homo socialis/religiosus» erleben oft starke Spannungen auf dem internen Forum der Person. Ins gleiche Kapitel geht die generell-abstrakte Befürwortung von Grundsätzen (z. B. bezüglich Toleranz oder Umweltschutz) und die individuell-konkret abweichende Praxis sowie das sogenannte St. Floriansprinzip und das Schwarzpeter-Prinzip.

Diese «interne Konsensknappheit” hat wohl gerade im Zusammenhang mit dem Problem der Regierbarkeit einen wichtigen Stellenwert, der vielleicht bisher noch zu wenig beachtet wurde. Allerdings trifft hier weder der Begriff Konsensknappheit noch der Begriff Legitimitätskrise zu. Max Imboden hat schon 1964 vom «Helvetischen Malaise” gesprochen und damit sehr treffend am tiefenpsychologischen Befund des Unbehagens angeknüpft. Das Unbehagen ist seit Freud (1930) und Imboden (1964) auch in der Schweiz nicht kleiner geworden. Wo es in begrenztem Ausmass auftritt, gehört es wohl zum Menschen unserer Zeit, wo es aber für die Beteiligten und die Betroffenen schwer erträglich wird, muss nach Diagnosen und Therapien Ausschau gehalten werden, welche über die lokale und temporäre Schmerzbetäubung mit Schlagworten hinausgehen. /

3.3 Die drei wesentlichen Defizite der achtziger Jahre

3.3.1 Das Emotionalitätsdefizit

Das Unbehagen der achtziger Jahre äussert sich u. a. darin, dass in mannigfachster Art die Suche nach verlorener Emotionalität stattfindet. Die «Neuen Verweigerer” sind zutreffend nicht primär als Staatsverdrossene‘ sondern als zivilisationsverdrossene Rationalitätsverweigerer mit ungestilltem Hunger nach Emotionen aller Art charakterisiert worden. Ein wesentliches Motiv für die Teilnahme an verschiedenen Demonstrationen ist wohl das Bedürfnis nach spontan erlebbarer Gemeinschaft. Aus demselben Grund haben auch Selbsterfahrungsgruppen, Sensitivitätstrainings und religiöse Bewegungen regen Zulauf. Die Forderung nach gemeinsam verwalteten autonomen Jugendhäusern hing wohl ebenfalls mit Geborgenheitsdefiziten zusammen. Die sogenannten Jugendunruhen und die darauf erfolgten Reaktionen lassen sich nicht abschliessend als Konflikte zwischen anarchistischem Frei¬heitsdrang einerseits und konservativen Unterdrückungsreflexen anderseits charakterisieren. Die Formel «Hier Freiheitsliebe – hier «Law-and-order” geht nicht auf. Die Deutung, dass in den sogenannten Jugendunruhen und in den Reaktionen darauf verschiedene Geborgenheitsbedürfnisse und verschiedene Spielarten des letztlich gleichen Emotionalitäts- und Integrationsdefizits manifest geworden sind, hat vieles für sich.

Wenn in bürgerlichen Wahlslogans und auf antibürgerlichen Wandaufschriften gelegentlich gleiche Anliegen («weniger Staat”, «mehr Wohnlichkeit”, «mehr Selbstverantwortung”, bzw. «Autonomie”) – allerdings in unterschiedlicher Darstellungs- und Ausdrucksweise – erscheinen, so steckt dahinter nicht einfach Paradoxie oder Zynismus. Man kann darin durchaus einen Hinweis erkennen, dass die Wurzeln des Unbehagens im gemeinsamen Boden stecken. /

Die Suche nach dem «richtigen Verhältnis” von Rationalität und Emotionalität beim Erziehen von Menschen ist ein Grundanliegen der pädagogischen Theorie und Praxis. Die politische Relevanz des Emotionalitätsdefizits ist ein Hinweis darauf, dass das Erzieherische vom Politischen nie ganz zu trennen ist, und dass darum die Politikwissenschaft gut daran tut, Beziehungen zur Erziehungswissenschaft zu pflegen. Fröbel weist auf die zwei Bereiche hin im Zusammenhang mit den «Gaben”, welche dem Kleinkind als Spielzeug dienen sollen: Kugel und Kubus können als Symbol für Emotio und Ratio aufgefasst werden, wobei die Kubatur der Kugel auch in der Erziehung so unmöglich bleibt wie die Quadratur des Kreises.

Immer noch aktuell bzw. wieder aktuell sind die Bemerkungen, die C. S Lewis 1943 zum Problem von «Herz und Hirn” geschrieben hat: «Das Gefühl auf Grund eines abgedroschenen Rationalismus abtakeln, das kann fast jeder. Gewisse Erzieher sehen, wie die Welt ringsum von gefühlstriefender Propaganda überschwemmt wird – sie kennen die gängige Anschauung, Jugend sei sentimental – und ziehen den Schluss, das beste, was sie tun könnten, sei die jungen Leute gegen das Gefühl zu stählen. Meine eigene Erfahrung als Lehrer bezeugt mir das Gegenteil. Auf jeden Schüler, den man vor einem leichten Überschwang an Empfindsamkeit bewahren muss, kommen drei die es aus dem Schlummer kalter Gefühlslosigkeit zu wecken gilt. Die Aufgabe des modernen Erziehers besteht nicht darin, Dschungel auszuhauen, sondern Wüsten zu bewässern. Die richtige Abwehr gegen falsche Gefühle besteht in der Vermittlung echter. Wenn wir das Empfindungsvermögen unserer Schuler verkümmern lassen, machen wir sie zu einer um so leichteren Beute für Propagandisten. Denn die ausgehungerte Natur rächt sich, und ein hartes Herz ist kein unfehlbarer Schutz vor einem weichen Hirn.”

3.3.2 Das Rationalitätsdefizit

Wer ein Emotionalitätsdefizit feststellt, könnte versucht sein, gleichzeitig Rationalitätsüberschüsse aufzuspüren und deren Abbau zu propagieren. / Tatsächlich geht die Rechnung nicht so einfach auf. Alle Feldzüge gegen die Rationalität, wie sie heute von verschiedenen Gruppierungen und Bewegungen geführt werden, verwechseln in verhängnisvoller Weise Wunsch und Wirklichkeit. Wir leben in einer technischen Zivilisation, die einen hohen und wachsenden Rationalitätsbedarf hat. Auch ein geordneter Rückzug aus verschiedenen Bereichen zunehmender technischer und wirtschaftlicher Komplexität – ja gerade ein geordneter Rückzug – verlangt ein hohes Mass an rationaler Einsicht und an gegenseitigem Einverständnis. Die Aufrechterhaltung, Weiterentwicklung und auch die teilweise Umorientierung technisch-zivilisierter Entwicklungsprozesse ist auf Rationalität angewiesen.

Die Bürokratie- und Planungsverdrossenheit beruht aus dieser Sicht auf fragwürdigen Feindbildern. Es kann in diesem Zusammenhang an die verhängnisvolle Bürokratiekritik des Faschismus erinnert werden. Das Unbehagen im Leistungsstaat und die Einwände gegen den überforderten und überfordernden Sozialstaat sollten nicht in blinde Planungsfeindlichkeit und in grundsätzlichen Anti-Rationalismus umschlagen. Die Folge davon könnte sehr wohl sein, dass die materielle Eingriffs- und Lenkungstätigkeit des Staates kaum eingeschränkt wird, dass sich aber dadurch der Spielraum für persönliche Willkür und Behördenwillkür vergrössert. Rationalität bewirkt Berechenbarkeit. Je unberechenbarer der Staat wird, desto mehr sind ihm vor allem die Schwächeren ausgeliefert.

Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sind heute höchst komplexe Gebilde, die in subtilster und nur teilweise erkennbarer Weise aufeinander einwirken. Je komplexer Kollektive werden, desto mehr bedürfen sie auch der Rationalität. In der politikwissenschaftlichen Literatur wird auch das hier aufgezeigte Rationalitätsdefizit als Konsensknappheit bzw. als Legitimationskrise der technischen Zivilisation beschrieben. Von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes «Konsens” her ist die Bezeichnung unglücklich. Es geht hier nicht um das Fehlen von Zusammen-gehörigkeitsgefühlen, sondern um die schwindende gemeinsame vernünftige Einsicht im Hinblick auf den kleinsten gemeinsamen Nenner des für notwendig Erachteten.
In der Terminologie von Tönnies wäre ein gemeinschaftsbedingter (emotionaler) und ein gesellschaftsbedingter (rationaler) Konsens zu unterscheiden, wobei letzterer sprachlich richtiger mit «Konszienz” bezeichnet würde. Eine weitere begriffliche Schwierigkeit geht darauf zurück, dass Max Weber seinen Begriff der Rationalität nicht differenziert und einheitlich aufgeschlüsselt hat . In seiner Lehre von den drei Typen legitimer Herrschaft verwendet er ihn hauptsächlich im Zusammenhang mit der Bürokratie. / Dass auch die Demokratie durch ihre nicht-hierarchischen Verfahren (durch das «reasoning”) in der Lage ist, wenigstens eine bestimmte Spielart von Rationalität zu vermehren bzw. zu erzeugen wurde erst später schlüssig nachgewiesen.

Geht man allerdings von einer Basisdemokratie ohne jegliche hierarchischen Strukturen aus, so sind Zweifel an der Entstehung bzw. an der Erhaltung von Rationalität bzw. an der Existenzfähigkeit auf die Dauer nicht von der Hand zu weisen, wie die unstrukturierten Massen an Vollversammlungen aller Art immer wieder gezeigt haben. In Bezug auf die Bedeutung des «reasoning” in sozialen Organisationen kommt P. Diesing zu folgendem Fazit: «Reason is in a sense itself a creature of the order it creates. There is a circular relation between reason as order and reason as creativity, each producing the other.” […] Individual creativity is not a transcendent, self-contained substance; it is strictly limited by an dependent on the order in which it occurs, an in this indirect sense one can say that creativity is a product of order.” Dieses Statement bildet vielleicht ein bedenkenswertes Gegengewicht zu allen Lobliedern auf die schöpferische Kraft des emotionalen und auch des ökonomischen Chaos.

3.3.3 Das Integrationsdefizit

Wie im Bisherigen zum Ausdruck gekommen ist, hängen Rationalitätsdefizit und Emotionalitätsdefizit direkt miteinander zusammen. Dass sich die Politik aus emotionalen und aus rationalen Komponenten zusammensetzt ist sicher keine neue Erkenntnis Die Erhöhung der Rationalität wird in der Politik allgemein meines Erachtens zu Recht als Tugend angesehen. Nichtsdestotrotz sieht sich jeder Politiker gern in der Rolle des Aktiven, Initiativen. Nach weit verbreiteter Auffassung soll Politik aktiv gestaltend sein; das bloss reaktive Verhalten gegenüber dem Zufall oder dem Trend wird oft kritisiert. Jeder ist gerne Aktivist; «Reaktionär” ist auch bei uns ein Schimpfwort. In dieser Haltung steckt ein Widerspruch. Rationales Verhalten ist immer reaktiv. Nach einem Wort von Bernard Shaw ist es immer das Gefühl, welches das Denken anregt und nicht das Denken, welches das Fühlen bewirkt. Das Denken ist also eine bestimmte Art des Reagierens. Die philosophische Frage, inwiefern es überhaupt aktives menschliches Verhalten gibt, mag offenbleiben, actio und reactio sind wohl letztlich nur aus ihrem wechselseitigen Bezug heraus zu begreifen. Es gibt aber gute Gründe, das Denken als dauernde Reflexion nicht ausgerechnet als «actio” zu deuten. Schon eine rein historisch-genetische Betrachtungsweise verbietet diese Deutung. Rationalität und planvolles Verhalten sind Errungenschaften, welche erst in einer späten Phase der Entwicklung auftreten (wenn überhaupt. . . ), und die immer mehr oder weniger abhängig bleiben von den primären Erlebnissen, von Emotionen aller Art. Ob es möglich ist, die Ratio ganz aus ihrer Verstrickung mit Emotionen zu lösen, ist zu Recht umstritten.

Der für die Politik wesentliche Gegensatz heisst nicht aktiv (Gestaltung) oder passiv (Anpassung), sondern «Reagieren” oder «Treibenlassen”. Ob das Treibenlassen überhaupt eigentliche Politik ist oder nicht, kann hier offen bleiben. Beim Reagieren ist es sinnvoll, zwei grundsätzlich verschiedene Typen zu unterscheiden: die emotionale Reaktion und die rationale Reaktion. Wenn der reaktive Zug im politischen Verhalten einmal erkannt und eingestanden wird, ergeben sich neue interessante Fragestellungen. Auch in diesem Zusammenhang ist nicht die Unterscheidung ,,aktiv” und «passiv” entscheidend, sondern die Frage, wer auf wen und was wie reagiert. Aktivität und Passivität können auch ineinander übergehen. Entscheidend bleibt die jeweilige rationale Begründung, welche das in der Demokratie unerlässliche vernünftige Argumentieren und den gemeinsamen Lernprozess ermöglicht. Politisch von höchster Relevanz und auch von höchster Brisanz ist die Frage, wie in der Politik die beiden menschlichen Grundfunktionen rationaler und emotionaler Reaktion miteinander zusammenhängen bzw. verbunden werden. Diese Verbindung kann im innerpersonellen und im interpersonellen Bereich entstehen oder vollzogen werden; in beiden Fällen spielen individual- und sozialpsychologische Komponenten eine entscheidende Rolle.
Als Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang kann das Selbst bezeichnet werden. Selbstwerdung wird in der Psychologie von C G. Jung mit der Integration von Unbewusstem und Bewusstem verbunden. Das Selbst (griechisch: autos) erscheint aber auch in einem Grundbegriff der Staats- und Politikwissenschaft: in der
Autonomie.

Autonomie und Integration bedingen sich gegenseitig. Beide Begriffe bezeichnen nicht in erster Linie Zustände, sondern Prozesse, die aufeinander bezogen sind. Der Begriff «Autonomie” ist vieldeutig. Im Hinblick auf das Individuum (Selbstgesetzgebung als Selbstverwirklichung) bedeutet er etwas anderes als im Hinblick auf ein Kollektiv (Selbstgesetzgebung als Selbstorganisation). Autonomie im Sinn von Selbstgesetzgebung des Individuums (der natürlichen Person) wird auch als personale Autonomie bezeichnet, und beinhaltet die Fähigkeit des Menschen, aus einem Repertoire an Wertvorstellungen und Verhaltensmustern das persönlich Bevorzugte auszuwählen und sozialem Druck zur Konformität auszuweichen. Autonomie im Sinn der Selbstgesetzgebung und -organisation eines Kollektivs (juristische Person) wird auch als soziale Autonomie bezeichnet und beinhaltet die Fähigkeit eines dem Staat eingegliederten, von ihm aber organisatorisch abgehobenen Verbandes zur internen Regelung seiner Angelegenheiten. Personale Autonomie basiert auf einer wechselseitigen Anpassung verschiedener Kräfte im Innern des Menschen.

Entscheidend ist dabei die persönlich zuträgliche Kombination rationaler und emotionaler Kräfte. Wenn diese gelingt, so resultiert daraus Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Selbständigkeit, die ihrerseits wieder zur Stütze der Autonomie werden. Organisatorische, soziale Autonomie basiert auf der wechselseitigen Anpassung verschiedenartiger Menschen im Sinn einer interpersonellen Integration. Sie wird durch verschiedenste teils rationale, teils emotionale Komponenten der Zusammengehörigkeit begründet. Preis der personalen Autonomie im Sinn der Selbstverwirklichung ist die mögliche Entfremdung des Individuums von der Gemeinschaft, Preis der sozialen Autonomie im Sinn der Selbstorganisation ist die Entfremdung vom eigenen Selbst. Soziale Autonomie kann nur dann funktionieren, wenn ein strukturiertes, stabilisiertes «Selbst” als Träger entstanden ist, das die Spannungen der wechselseitigen Selbst- Mit- und Fremdbestimmung wenigstens zum Teil integriert.

Die von der sogenannten Jugendbewegung erhobene Forderung nach «autonomen Zentren” war darum so attraktiv und explosiv, weil darin die zwei teils entgegengesetzten Konzeptionen von Autonomie aufgehoben waren: Die Sehnsucht der 30 – 60-jährigen nach personaler Autonomie, verbunden mit dem Wunsch zu führen, zu erziehen und Geborgenheit zu vermitteln und die Sehnsucht der 15 – 30-jährigen nach sozialer Autonomie, nach Selbstorganisation‘ verbunden mit dem Wunsch nach Geborgenheit, Ein- und Unterordnung. Beide Autonomie-Sehnsüchte stimmen nur dem Wort nach überein, und dieser Widerspruch ist wohl für das Scheitern der autonomen Zentren ein ebenso wichtiger Faktor wie der äussere Widerstand. Verdrängende Möchte-gern-Eltern (mit ihrem Helfersyndrom) und verdrängende Möchte-gern-Kinder (mit ihren Autoritätskomplexen) ergeben zusammen keine autonomiefähige Grossfamilie.

Die kollektive, öffentliche Herstellung von Gefühlen in der «bewegten Masse” ist ebenso fragwürdig wie die individuelle, privat-versponnene Verstandesbetätigung im Elfenbeinturm. Aus liberaler Sicht ist das Emotionelle im privaten, kleinkollektiven Bereich besser aufgehoben und das Rationale muss sich in der Öffentlichkeit global bewähren. In der Terminologie von Ralf Dahrendorf wären emotionelle Ligaturen im Kleinen und rationale Optionen im Grossen zu suchen. Wenn heute oft der umgekehrte Weg beschritten wird, muss man sich eigentlich nicht wundern, dass Frustration und Resignation in beiden Bereichen beängstigend zunehmen. Oder in den Begriffen von Tönnies ausgedruckt: Wer in der (rationalen) Gesellschaft das Gemeinschaftserlebnis sucht und in der (emotionalen) Gemeinschaft die Vorteile der Gesellschaft, wird beides nicht finden.

Die moderne Kleinfamilie als Kleinkollektiv ist allerdings restlos überfordert, wenn man sie als alleinigen Hort für erlaubte Emotionalität hochstilisiert. Nach Karl Kraus ist das Familienleben ein Eingriff ins Privatleben. Der Mensch braucht wohl auch Freiräume für private Emotionalität, die unabhängig sind vom kleinfamiliären Gruppenegoismus. Das politische System oder die unstrukturierte Massenveranstaltung sind aber beide ungeeignet, das Erbe aller Funktionen der Grossfamilie und des Nachbarschaftsverbandes zu übernehmen. Die drei hier aufgezeigten Defizite sind alle innerhalb der Kleinfamilie auch feststellbar; und vielleicht ist dort das Rationalitätsdefizit bisher zu wenig beachtet worden.

3.4 Mögliche konkrete Folgerungen: Optimierung statt Pessimierung organisatorischer Mischformen

Die vorwiegend abstrakten und theoretischen diagnostischen Darlegungen zu den Komponenten gegenwärtigen Unbehagens, sollen im Folgenden wieder verknüpft werden mit möglichen praktischen Folgerungen, die allerdings politischen Bekenntnischarakter haben. Im Rahmen der Feststellung von drei wesentlichen Defiziten wurde eine Lanze gebrochen für «Mehr Emotionalität”, für «Mehr Rationalität” und für «Mehr Integration” durch «Mehr echte Autonomie”. Sind dadurch nicht einfach die im Titel dieses Aufsatzes steckenden Widersprüche ins Unend¬liche ausgeweitet worden.

Das an Fröbels Kugel und Kubus erinnernde Schema soll mögliche Wege aus der drohenden Verstrickung in Gegensätze aufzeigen. Ohne Vereinfachungen und ohne persönliche Wertungen geht dies allerdings nicht. Die Quadratur des Zirkels zwischen Ratio und Emotio bleibt ungelöst. / Das Schema 1 versucht die weit verbreiteten Prima-vista-Fehl- und Vorurteile gegenüber den Max Weber’schen Typen legitimer Herrschaft abzubauen. Die positiven und negativen Bewertungen bei einzelnen Komponenten sollen die einseitige Option für einen Idealtypus erschweren. Max Weber selber soll sich einmal dahingehend geäussert haben, man müsse Demokratie und Bürokratie «gegeneinander organisieren”. / . Es geht also um die Kombination der Vorteile und um die Vermeidung der Kumulation aller Nachteile. Nichts anderes deutet das Schema an. Gesucht ist die bestmögliche Kombination der hellen Seiten, die allerdings notwendigerweise verknüpft sind mit ihrem Schatten. Diesen gilt es zu kompensieren, ohne ihn zu negieren und zu verdrängen. Auf die Tatsache, dass solche Unterfangen nicht ohne innerpersonelle und interpersonelle Anstrengungen möglich sind, wurde bereits hingewiesen. Eine Integration, bei welcher die Kombination der Vorteile anstelle der Kumulation der Nachteile erfolgt, hat in einer sozialen Organisation nur dann Chancen, wenn die Gesichtspunkte auch auf dem «internen Forum” der Person (d. h. im oft sträflich vernachlässigten politischen Selbstgespräch) immer wieder neu erwogen werden können. Die Forderung nach «Mehr Emotionalität” darf nicht allein Sache der anarchistischen Spontis und der konservativen Heimattümler sein; «mehr Rationalität” sollen nicht nur fortschrittsgläubige Technik-Fans und sozialstaatliche Planungsfetischisten verlangen, «mehr Autonomie”, bzw. «mehr Integration” darf nicht allein Wahlspruch von Dialektikern der unüberbrückbaren Interessengegensätze bzw. der opportunistischen Korporationisten sein. Die hier karrikierend bezeichneten Gruppierungen sind heute in allen Parteien anzutreffen. Die Gefahr, dass sich die jeweiligen Flügel durch ihre unterschiedlichen Motivationen gegenseitig lähmen ist nicht zu übersehen. Andererseits steckt dahinter auch eine Chance für neue Koalitionen vielfältigster Art.

Schema 2. Mögliche Kombinations- und Integrationsformen dezisionistischer (emotionaler) und rationaler Organisationstypen

Gemeinschaft!
kleine Organisation
Emotionale Umfriedung, in welcher die Rationalität ihren Platz haben muss Gesellschaft!
grosse Organisation
Rationaler Rahmen,
in welcher die Emotionalität ihren Platz haben muss

3.4.1 Bereiche mit offenen Therapiemöglichkeiten

Die schematische Darstellung zeigt, in welcher Richtung die persönlichen und gemeinsamen Anstrengungen zur Überwindung der drei Defizite gehen könnten. Welche konkreten Bereiche der Politik dabei eine Rolle spielen, sei im Folgenden aus liberaler Sicht anhand von drei Beispielen gezeigt.

Beispiel 1: Das Stadt/Land-Problem, bzw. das Spannungsfeld Zentrum/Peripherie

Das Überhandnehmen rein städtischer Lebensformen und Wertvorstellungen führt zu einem Verlust der Vielfalt. Der Wert des «Nebeneinander” von verschiedenen, prinzipiell gleichrangigen Weltanschauungen und Lebensstilen kann aus liberaler Sicht nicht genug betont werden. Es sollte versucht werden, die traditionell antistädtischen Reflexe in liberalem Sinn politisch fruchtbar zu machen. Das Selbstbewusstsein des Landes gegenüber der Stadt muss gefördert werden. In mancher Beziehung steckt nicht «das Land” in einer Krise, sondern die städtische Agglomeration. «Die Stadt” sollte lernen, das Land nicht als unterentwickeltes Gebiet zu sehen. Die Stadt ist ein Problemgebiet, welches im ländlichen Bereich wertvolle Anstösse zur Bewältigung seiner Probleme finden könnte.

Umgekehrt kann das Land von der Stadt wertvolle Impulse empfangen. Vor allem urbane Toleranz und Achtung vor der Vielfalt möglicher Lebensstile sind auf dem Land teilweise knapp. Das Stadt/Land-Problem ist nicht etwa identisch mit dem Ratio/Emotio-Problem. Die Stadt ist nicht zum vorneherein rational und das Land emotional ausgerichtet. In der Stadt ist das Verhältnis zur Kultur eher rational und zur Natur eher emotional; auf dem Land ist das Umgekehrte vorherrschend. Diese verschiedenen Kombinationen machen gerade das schöpferische Potential aus, das zum Teil noch brach liegt.

Beispiel 2: Föderalismus

Die europäische und die gesamtschweizerische Solidarität ist auch aus liberaler Sicht zu befürworten. Es ist aber nicht zu übersehen, dass der grössere Verband in einem Konkurrenzverhältnis zum kleineren, untergeordneten Verband steht und dass vom Gesichtspunkt der Freiheit und Selbständigkeit her gesehen «gesunde Abwehrreflexe” der kleinen Gemeinschaft positiv gewertet werden müssen. In einer stufenweise aufgebauten Kompetenzordnung ist festzustellen, dass bei Kompetenzstreitigkeiten auf unterer Stufe, z. B. zwischen Kanton und Gemeinden, häufig der übergeordnete Verband die Rolle des «lachenden Dritten” übernimmt.
Gegenüber der Tendenz, eine Regionalisierung nach wirtschaftlichen, bzw. «planerischen” Kriterien (Arbeitsmarktregionen, Pendlerregionen usw.) durchzuführen, ist daher Skepsis angebracht. Die Regionalisierung durch Einführung eines vierten Hoheitsträgers (die Region) könnte dazu führen, dass die Kantone dadurch einen politischen und finanziellen Substanzverlust erleiden und dass somit die einzigen handlungsfähigen und historisch tatsäch¬lich konstituierten Regionen, nämlich die Kantone, geschwächt würden, wobei dem Bund die Rolle des «lachenden Dritten” zufiele.

Beispiel 3: Milizprinzip
Die Milizidee beruht auf dem Bekenntnis, dass jeder Bürger bereit sein soll, gewisse Dienstleistungen gegenüber dem Gemeinwesen unentgeltlich zu erbringen. Durch die Milizidee wird ermöglicht, dass gewisse Bereiche von der Kommerzialisierung und von der Arbeitsteilung und Spezialisierung ausgenommen bleiben. Je mehr Bürger sich im Sinne einer «Elite des Dienens an der Gemeinschaft” betätigen, desto weniger Zwang ist in vielen Bereichen notwendig. Eine grosse Rolle spielt hier das Vorbild. Qualifizierte und gut ausgebildete Bürger sollten einen wesentlichen Teil ihres Leistungswillens nicht ausschliesslich kommerziellen Zwecken widmen.
In einer liberalen Gesellschaft hat jedermann eine ihm zusagende Mischung von Arbeit, Freizeit und «Dienst” (oder «Gemeinwerk”, oder wie immer man es nennen will …) zu suchen, wobei der Dienst-Bereich eben nicht nur über finanzielle Zuwendungen an den Staat (Steuern), sondern auch durch persönliche Leistung abzugelten ist. Ein Einkommens- und Konsumverzicht zugunsten des Gemeinwesens soll dabei nicht vorwiegend jenen gepredigt werden, die auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung eben erst in den Genuss gesteigerter Konsummöglichkeiten gekommen sind, er soll von jenen praktiziert werden, die tatsächlich ein «Verzichtpotential” haben.

Die Idee des «Gemeinwerks” ist nicht so utopisch, wie sie auf den ersten Blick anmutet. Die Forderung nach dem Ausbau von freiwilligen Zivildiensten ist gewiss moderner als alle Forderungen, die höhere Steuern bewirken. Differenzierte Arten des Zivildienstes (im umfassenden Sinn) sind zu befürworten, selbstverständlich nicht als Alternative, sondern als Kumulative zum Militärdienst. Eine Befreiung einzelner Gruppen von der Militärdienstpflicht würde der Idee des Milizsystems zuwiderlaufen. Die Last der schwersten und unangenehmsten Dienstpflicht am Gemeinwesen muss nach dem demokratischen Gedanken der Lastengleichheit von allen gleichmässig getragen werden. Die Idee des Milizsystems bildet ein aus liberaler Sicht notwendiges Korrektiv zur Arbeitsteilung, welche in ihren Auswüchsen die Selbständigkeit des Individuums und damit auch seine Freiheit aushöhlt.

3.5 Zusammenhang mit der Frage nach der Regierbarkeit

Die Möglichkeiten zur Verbesserung der Regierbarkeit liegen im Abbau der drei erwähnten Defizite. Wie dies in der Praxis möglich ist, wurde anhand eines Schemas aufgezeigt und anhand von Beispielen erläutert. Die Beispiele zeigen, dass Regierungen zur Verbesserung der Regierbarkeit selber nur wenig aktiv beitragen können. Die Hauptaufgaben und die Hauptchancen liegen bei den Individuen und den kleinen Gemeinschaften. Der Staat und seine Regierung sollen jedoch bestmögliche Voraussetzungen schaffen und – in erster Linie: nicht schaden. In einem höchst lesenswerten Essay beschreibt der ehemalige französische Justizminister Alain Peyrefitte Gegenwartsprobleme der Justiz auf dem Hintergrund einer allgemeinen politischen Lagebeurteilung. Er benützt dabei als Metapher die Geschichte von den Pferden, die im russisch-finnischen Krieg auf der Flucht vor dem brennenden Wald den Tod im Eis des Ladogasees fanden. Das Sinnbild vom Dilemma zwischen dem tödlichen Feuer und dem tödlichen Eis berührt den Kern des Ratio/Emotio-Problems. Zwischen Feuer und Eis liegt jene behagliche Temperatur, welche allein in der Lage ist, ein Klima zu erhalten und zu schaffen, in dem die drei Defizite gleichzeitig abgebaut werden können. Nicht der politische Parteien- und Flügelkampf bis aufs Messer zwischen «Feurigen” und «Eisigen” (die es in allen Parteien gibt…), nicht die opportunistische Indifferenz der Grundsatzlosigkeit, sondern die kultivierte rationale und emotionale Reibung ist es, die Wärme erzeugt. Es ist hoffentlich nicht auszuschliessen, dass der im Titel dieses Aufsatzes vorhandene Widerspruch Reibungen in dieser Art erzeugt hat und erzeugen wird.

4. Staat und Geschlechterrollen und im Wandel

Eine Anstiftung zu privatautonomen Vertragsverhandlungen

Feminismus ist eine politische Strömung, welche in den Bereichen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bzw. in einem oder zwei dieser Bereiche eine Diskriminierung der Frauen feststellt und als Ziel die Gleichberechtigung bzw. Gleichstellung anvisiert. Selbstverständlich gibt es verschiedenste Spielarten, die bezüglich «Diagnose» und «Therapie» wesentlich differieren. Unterschiedlich sind auch die Vorstellungen vom Ist-Zustand und vom Soll-Zustand der gesellschaftlichen Rollenverteilung zwischen «Mann» und «Frau». Gemeinsam ist aber allen das Postulat, es müsse endlich etwas getan werden. Ziemlich vielfältig sind auch die Antworten auf die Frage, wer als Mann oder Frau was in Zukunft zu tun bzw. zu unterlassen habe und wer als Individuum oder Personengruppe in welchem Subsystem (Wirtschaft, Staat, Sozio-Kultur) wie aktiv werden müsse. Handelt es sich primär um ein wirtschaftliches oder um ein politisches oder um ein sozio-kulturelles oder gar um ein anthropologisches, ethologisches bzw. sozio-biologisches Problem? Muss die Politik, kann die Politik mit dem Mittel des gesetzlichen Zwangs aktiv dafür sorgen, dass im Bereich Wirtschaft und Sozio-Kultur Änderungen eintreten? Worin besteht der Handlungs- bzw. Unterlassungsbedarf? Haben wir bezüglich feministischer Postulate zu wenig, zu viel oder die falschen gesetzlichen Regulierungen?

4.1 Kontraproduktiver Aktivismus

Viele Frauen haben gegenüber Männern eine natürliche Abneigung. Anderen sind Männer gleichgültig oder unverständlich, alles nachvollziehbare Gründe, um gegen die Männerlastigkeit politischer und wirtschaftlicher Strukturen zu klagen und sie zu kritisieren. Wieder andere wenden sich aufgrund von negativer Erfahrungen und Erlebnissen im «heiligen Zorn» dem Feminismus zu. Eine grössere Zahl von Frauen empfindet und entdeckt in der Geschichte und in der Gegenwart zu Lasten der Frauen immer wieder alte und neue Ungerechtigkeiten, ohne dass dies konkreten Personen angelastet würden. Gelegentlich ist auch ein «Hadern mit der Natur» spürbar, verbunden mit einer Art von Selbstmitleid oder Selbsthass, die möglicherweise eine Folge von sexistischen Erziehungspraktiken oder von kollektiven sozio-kulturellen Vorurteilen sind. Die Frage, was aus einer übergeordneten Sicht «gerecht» sei, was in dieser Welt zwischen verschiedenen Geschlechtern gleicher sein soll als es ist, was ungleich sein darf und soll, und was nach Massgabe seiner (welcher?) Ungleichheit auch ungleich zu behandeln wäre, ist nicht immer einfach zu beantworten. Jedenfalls sollten diesbezügliche Probleme nicht allzu hitzköpfig und ungeduldig, «cum ira et studio» angegangen werden, sie wurzeln nämlich sehr tief in anthropologischen Gegebenheiten, die, wenn man sie allzu eingriffsfreudig-«chirurgisch» angeht, möglicherweise das Problem verschärfen. Für die Rollenteilung der Geschlechter, wird nie jemand die definitive, generelle und einzig richtige Lösung ermitteln können, darum sind auch jene «Sofortprogramme» kontraproduktiv, welche nach irgendeinem gegenwärtigen Stand des wissenschaftlichen Irrtums formuliert werden. Auch der Feminismus kennt seine internen Richtungskämpfe und radikalen Kehrtwendungen, beispielsweise bei der Beurteilung der Koedukation.

Es gibt allerdings klar messbare Gegebenheiten, etwa im Bereich der Muskelkraft und des damit verbundenen Gewaltpotentials. Möglicherweise haben aber die Frauen im Lauf der Entwicklungsgeschichte bereits Mechanismen und Organismen entdeckt und entwickelt, welche ihr Defizit an physischem Gewaltpotential kompensieren, und die wir nur in unserer Gegenwartsblindheit zu Ungunsten der Frauen verzerrt wahrnehmen. Sind das alles nur faule Ausreden von Männern, die mit ihrem sophistischen Argumentarium ihre Privilegien verteidigen?

4.2 Langfristige Perspektiven

Das Problem der Geschlechterrollen gibt es wohl seit Tausenden von Jahren. Wer hier an langfristigen Lösungen langfristiger Probleme arbeiten will, braucht eine langfristige Perspektive. «Subito» lässt sich hier zwar Vieles verändern, aber die Gefahr der Verschlechterung durch kontraproduktive Aktivismen ist gross. Man kann natürlich einwenden, dies sei lediglich ein männerlastiges Abwiegeln, um die «schöne Zeit» männlicher Bevorzugung noch ein wenig zu verlängern: Peace for our time. Einiges, aber nicht alles, spricht dafür, dass sich die Männer die besseren Rollen gesichert haben und nun die Machtpositionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dazu missbrauchen, um diese zu konservieren. Man sollte hier aber in langfristigen und ziemlich komplexen Dimensionen reflektieren und argumentieren. Die ganze Frage der «Rollenbilder» und der sogenannten «Diskriminierung» und der «Frauenemanzipation» ist viel komplizierter und weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick scheint. Frauenemanzipation hängt mit Männeremanzipation enger zusammen, als dies die Terribles-simplificatrices unter den Feministinnen glauben. Es geht hier nicht um ein Nullsummenspiel bezüglich tatsächlicher politischer, wirtschaftlicher und soziokultureller Machtverteilung in der Gesellschaft, sondern um das liberale Grundthema der Zivilisationsgeschichte: Wo «Gewalt» war muss «Vertrag» werden.

4.3 Zwischen Kleingruppen, Nationalstaaten und globalen Netzen

Wenn wir die Formen des Zusammenlebens nicht – wie Hayek – in zwei Typen («face- to- face- Gruppen» und «anonyme Grossgesellschaft = big society») einteilen, sondern in drei, könnte man folgende Überlegungen anstellen:

Erstens: Kleingruppen (Familie, Freunde, Nachbarschaft) d.h. dort, wo sich die Leute persönlich begegnen und persönliche Gefühle wie Liebe, Hass etc. entwickeln). Hier «regieren» de facto traditionellerweise die Frauen. Sie wissen und spüren das, lassen aber den Männern die Einbildung, sie wären auch hier die «Könige».

Zweitens: Politische Systeme (z.B. Nationalstaaten), d. h. dort wo man Bürgerin und Bürger ist und breitere, rationaler abgestützte Solidarität in Verteidigungs- Steuer- und Rentensystemen übt und diesbezüglich einen politischen Grundkonsens sucht.
Hier regiert das weitgehend männlich geprägte «government», die «classe politique». Seit es aber in Demokratien das Frauenstimmrecht gibt, ist hier ein Veränderungsprozess im Gange, der allerdings zeigt, dass die Meinung, es gebe typische und organisierbare «Fraueninteressen» in denen sich Frauen an der Urne solidarisch verhalten, empirisch nicht gestützt werden kann. Was als allgemeine «Fraueninteressen» dargestellt wird, ist oft nur das Interesse jener Frauengruppe, welche gewisse Verhaltensweisen und Fehler von bestimmten Männergruppen kopieren wollen, und welche die Frauenemanzipation mit der Angleichung «der Frauen» an männliche Verhaltensmuster verwechseln, wie wenn es eindeutig wäre, was denn die Frauen und die Männer ganz allgemein charakterisiert.

Drittens: Die anonyme Grossgesellschaft in der man in globalen anonymen Märkten vernetzt ist und in der letztlich die (auch geschlechtsspezifisch) neutrale Börse regiert, die allerdings als Spiegel der realen Machtverhältnisse und der diesbezüglichen Erwartungen auch Elemente des ersten und zweiten Systems nicht ausklammert.

4.4 Traditionelle Frauenpower in Kleingruppen

Im «System Kleingruppe» haben die Frauen im Lauf der anthropologischen Evolution Verhaltensmuster entwickelt, für die – bei genauer Beobachtung – keine allgemeine Diskriminierung nachweisbar ist. Wenn man erwachsene Menschen fragt, ob sie mehr von ihrer Mutter oder von ihrem Vater geprägt sind, werden viele (die Mehrheit?) die Mutter nennen, aber sich möglicherweise als Ausnahme sehen. Die «starke, lebensprägende Mutter», Ausnahme oder Regel? Ich weiss nicht, ob es dazu empirische Studien gibt und ob solche überhaupt möglich sind. Was mich betrifft, glaube ich nicht, dass meine Mutter innerhalb dieser face-to-face Gruppe weniger «power» und Einfluss hatte als mein häufig abwesender Vater, obwohl er natürlich die dominierende Rolle mit Bravour spielte und lebenslänglich bis in die Hinfälligkeit seines Alters sogar selbst daran geglaubt hat. Meine Mutter liess ihn (bewusst oder unbewusst?) eben diese Rolle spielen, obwohl sie die faktischen internen «Machtverhältnisse» durchaus geahnt haben mag. In diesem Umfeld haben die Frauen auch ihr Monopol der Erziehung in der sensibelsten Phase gut behauptet, aber vielleicht für gegenwärtige Umstände schlecht genutzt. «Wasser ist härter als Stein», heisst es in einem chinesischen Sprichwort, in Analogie zum weiblichen «steten Tropfen» der den männlichen Stein im Lauf der Lebensgeschichte und der Artgeschichte möglicherweise «höhlt», und «die höchste Macht» ist – frei nach Lessing – nicht die (physische) Gewalt sondern die (psychische) Verführung. Es braucht wohl nicht speziell hervorgehoben zu werden, wie ungleich die geschlechtsspezifischen Talente diesbezüglich verteilt sind.

Was von Feministinnen als alltäglicher Missstand beklagt wird (die «halbstarken Männer», welche Frauen zur Befriedigung ihrer Alltags- Grundbedürfnisse einspannen), hat vielleicht einen entwicklungsökonomischen Sinn, der ursprünglich von Frauen zugunsten von Frauen angelegt war: Frauen erziehen absichtlich «halbstarke» Männer, die ohne frauliche Betreuung lebensunfähig sind. Damit werden sie als Frauen zu potentiellen Ehefrauen und auf dem Partnerschaftsmarkt zum «systemsteuernden Engpass», den sie aufgrund des Reproduktionsmonopols ohnehin schon besetzt halten, denn mit einem Babystreik könnten die Frauen eine Gesellschaft wirksamer «ausrotten» als die Männer mit all ihren Kriegen und Genoziden. In Europa stecken wir möglicherweise mitten in diesem langfristigen Prozess, wenn die Männer nicht ein neues Entgegenkommen entwickeln, das dauerhafte Partnerschaft und Mutterschaft für Frauen attraktiver macht. Aber dieses Entgegenkommen kann nicht einfach ein staatliches «Muttergeld» und ein Netzwerk sozialstaatlicher Frauenschutz- Bestimmungen (Diskriminierung auf höherer Ebene!) sein, denn die meisten Frauen lassen sich – mit guten Gründen – diesbezüglich nicht einfach kaufen. Sie bevorzugen andere, anspruchsvollere «Währungen» wie «Achtung», «Zuwendung», «Empathie» und «Unterstützung», alles zeit- und energiebeanspuchende Herausforderungen jenseits des schnöden Mammons, aber nicht jenseits einer Ökonomie im weiteren Sinn. Man kann allerdings auch argumentieren, das eine schliesse das andere nicht aus.

Die Verwöhnung der männlichen Bambini durch die Mama hat in den teilweise matriarchalischen Mittelmeerkulturen durchaus System. Die Mama und die Nonna üben in den für das Überleben wirklich wichtigen Lebensbeziehungen die tatsächliche Macht aus über die ewig kindisch gehaltenen und gezogenen Männer, deren männlicher Imponier-Machismus nur schlecht drapiert, dass sie eigentlich ohne die Frauen gar nicht lebensfähig sind. Jede Mutter schaut, dass sie ihren «figlio» möglichst ohne selbständige Zwischenzeit der Obhut einer Schwiegertochter anvertrauen kann, die sie dann tyrannisiert: ein geheimes Netzwerk weiblicher Macht. Und nun kommen heute die emanzipierten Männer, die in der Bewältigung der Grundbedürfnisse (Essen, Kleiden, Wohnen) in den letzten Jahren durchaus eine gewisse Selbständigkeit entwickelt haben und ihr kurzfristig ausgerichtetes Triebleben auch ohne dauerhafte Partnerschaft auf einem freieren Markt befriedigen können. Die machen jetzt auch in diesen teils matriarchalischen Familienstrukturen -mit Hilfe der Verräterinnen, welche den «Preis der Treue» nicht mehr verlangen und «Pille sei Dank» auf «männliches» nicht bindungsbewusstes Sexualverhalten umstellen können, alles kaputt. Kann, soll, muss hier das «System zwei», der Staat, korrigierend eingreifen? Oder muss die «Gegenstrategie» aus den Strukturen heraus wachsen, in denen auch die Strategien im Lauf der Generationen gewachsen waren?

4.5 Wohlfahrtsstaat verstärkt den Männereinfluss

In einer modernen oder postmodernen Kultur spielen möglicherweise zum Teil andere An- und Abreize. Die «face-to-face Gruppen» haben unter dem -diesbezüglich grossenteils verderblichen Einfluss von männlich dominierten politischen Systeme (System Nummer zwei) – an Bedeutung verloren. Der Wohlfahrtsstaat ist eine Veranstaltung, welche diese Primärgruppen überflüssig machen will. Er beginnt als «Hilfe», dort wie diese «face-to-face» Gruppen – angeblich – versagen und endet als Ersatz. De facto bedeutet das eine Einflussverlagerung zu Lasten der Frauen. Es ist schwer verständlich, warum sich viele Frauen derart für einen weiteren Ausbau des politischen Umverteilungssystems einsetzen, das sie doch immer mehr den hierarchisch-staatlich organisierten nationalstaatlichen Strukturen und einem Steuern-generierenden kapitalbezogenen Wirtschaftssystem ausliefert, wo ihr Einfluss traditionellerweise viel kleiner ist als in den Kleingruppen. Wenn nun die staatsgläubigen Feministinnen davon träumen, dass sie via das «zweite System» des National-und Wohlfahrtsstaats aufgrund des Zwangsmonopols ihre Position verbessern könnten, setzen sie meines Erachtens aufs falsche Pferd.

Der Staat kann niemals der «Freund und Helfer» der Frauen sein und man kann mit guten Gründen «feministisch inspirierte» Frauen vor dem Weg in diese Sackgasse warnen. Man setzt sich dann allerdings dem Vorwurf aus, sich anzumassen, die «tatsächlichen Interessen» der Frauen zu kennen zu wollen. In diesem Zusammenhang muss die Frage gestellt werden, ob es denn so etwas wie «die Frau» als Rollenträgerin und Typus überhaupt gebe und ausserhalb von Männer- und Frauenphantasien je gegeben hat. Wenn nicht, so sind solche Warnungen zu Recht unbeliebt. Mit dem «Slogan» «Wir wissen schon, was in unserem Interesse liegt und wir brauchen keinerlei sophistische und möglicherweise verlogene männliche Schützenhilfe» kann man derartige Überlegungen ausblenden. Wer aber als Liberaler beharrlich der Vertragsidee huldigt, kommt (frei nach Adam Smith) auch zum Schluss, dass Vertrag und Sympathie zusammenhängen und dass es so etwas gibt wie eine schrittweise Verbesserung des Konsenses durch die Mobilisierung von Sympathie und durch alle Versuche, sich in die Rolle des Vertragspartners zu versetzen.

Nur wer dem Mythos des brutalen «Geschlechterkampfs» huldigt, glaubt auf den Einsatz von Sympathie verzichten zu können. Immerhin gibt es sogar Kampfverfahren, bei denen das genaue Analysieren des Verhaltens auf der andern Seite (Empathie) Vorteile bringt.

Soll man nun in den skizzierten zivilisatorischen Wandel politisch-chirurgisch, das heisst durch Interventionen eingreifen? Wo und wie? Was ist daran ein «Fortschritt», wenn die face-to-face Beziehungen «politisiert» werden, für Männer, für Frauen, für «die Gesellschaft», falls es so etwas gibt? Für die Vermehrung, Stabilisierung, Verminderung der Bevölkerungszahl? Für die Idee der Freiheit, für den Wohlstandspegel und die Wohlstandsverteilung? Ich weiss, man hat die Politisierung auch schon als Gegengift zur Totalökonomisierung in der anonymen Grossgesellschaft propagiert. Ob man aber dadurch etwas zu Gunsten oder zu Lasten von «face-to-face» Gruppen bewirkt, bleibt eine offene Frage. Dies ist ein weiterer Themen- und Fragenkreis, der hier nicht weiter abgehandelt wird. Ich kann und will diese Fragen hier nicht beantworten.

4.6 Non-zentrale Experimente als soziale Lernstrategie

Der liberalen Überzeugung entspricht es, dass gemeinsame Probleme durch vertraglichen Konsens auf der tiefstmöglichen Ebene in lauter konkurrierenden und immer wieder neu angelegten Experimenten angegangen werden müssen: Hayeks Idee der spontanen Ordnung, die sich im Rahmen einer permanenten Um- und Neugestaltung in einem Fundus an mehr oder weniger bewährten Traditionen irrend, lernend und adaptierend vorantastet, und in der sich letztlich die friedlicheren und konsensualeren Lösungen durchsetzen, weil sie den ökonomischen Kräften der Entwicklung am besten entsprechen, weil sie eben im weitesten und besten Sinn rationell bzw. rational sind (falls es so etwas gibt wie «kollektive Vernunft»). Ob dies – vor allem für jene, welche Subjekt und Objekt d.h. Opfer von gescheiterten Experimenten sind, sehr trostreich sei, bleibe dahingestellt. Aber lieber kein Trost als ein falscher. Es mag auch mühselig sein, wenn jedes Paar, jedes Individuum, im Kleinen das grosse Drama der Rollenteilung eigenständig durchspielen und durchleiden muss. Es ist verständlich, wenn viele darauf mehr oder weniger bewusst oder resigniert verzichten, es bei mehreren «Klein- und Kurzexperimenten» bewenden lassen oder in andere Varianten, als Single oder mit gleichgeschlechtlichen Partnern ausweichen. Auch dort gibt es aber Opfer und Frustrationen.

Der Fundus der Weltliteratur und der Fundus der eigenen Familiengeschichte liefert verschiedene «Drehbücher», die möglicherweise nützlich oder tröstlich sind und durch gute und schlechte Beispiele lehren. Ob dieser Fundus letztlich eine Siegesparade des Mannes ist und die Frauen als Opfer gewissermassen den Strassenrand säumen, wage ich nicht abschliessend zu entscheiden. In der Kriegsgeschichte Ja, in der Kulturgeschichte eher Nein, denn die Frauen lieferten die Themen, die – zugegeben – mehrheitlich von Männern gestaltet wurden, aber als Adressatinnen und Motivatorinnen wiederum Frauen hatten. Die Kultur ist also eher von Frauen geprägt und weiter entwickelt worden, und die Ehe hat dabei, auch nach eigenen Beobachtungen, eine männer- und menschenzähmende Rolle gespielt, in der die meist edleren Frauen wussten und wissen, was sich ziemt, und die diesbezüglichen Standards setzen, allerdings mit wechselndem und oft zweifelhaftem Erfolg. In der Frage, ob sich alle glücklichen oder alle unglücklichen Familien gleichen, bin ich eher auf Nabokovs als auf Tolstojs Seite. Während Tolstoj seinen berühmten Roman Anna Karenina mit dem Satz beginnen lässt «Alle glücklichen Familien gleichen sich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich, beginnt Nabokov seine Erzählung Ada ( ) mit der umgekehrten Feststellung: «Alle unglücklichen Familien gleichen sich, aber jede glückliche Familie ist auf ihre eigene Art glücklich».

4.7 Wie aktuell ist die historisch argumentierende Diskriminierungsthese?

Dass die Diskriminierungsthese in jenen historischen Räumen, die wir überblicken, Vieles für sich hat, ist kaum zu bestreiten. Es sind mehr Hexen verbrannt worden als Hexer. Aber auf den Schlachtfeldern der Kriege sind mehr unschuldige Männer andern Spielarten des sinnlosen Wahns zum Opfer gefallen. In beiden Fällen waren und sind es hierarchische Organisationen, welche die Brutalitäten inszeniert und organisiert haben, was meiner Grundthese «Frauen, hütet Euch vor den politischen, etatistischen, zentralistischen Strukturen» zusätzliche Argumente liefert.

Ist die Diskriminierungsthese heute noch aktuell? Viele Frauen empfinden allein schon diese Frage als zynisch. Sie verweisen z.B. auf das «Lohngefälle» ohne mit einzubeziehen, wieviel daran allenfalls auf individuellen Präferenzen und Optionen und nicht auf Diskriminierung beruht. Ein anderer Indikator wären die Umverteilungsströme, beispielsweise in der Sozial- und Krankenversicherung, oder – empirisch messbar – die Lebensdauer. Diesbezüglich kann immerhin festgestellt werden, dass die Frauen in der OECD-Welt, aber auch global, in den letzten hundert Jahren massiv zugelegt haben, ein Zeichen dafür, dass die feministische Opfertheorie gemessen an der biologischen Uhr der Lebensdauer nicht, bzw. nicht mehr zutrifft. Möglicherweise sind die heutigen Frauen Nutzniesserinnen eines uralten biologischen und soziokulturellen Selektionsprozesses, bei dem Diskriminierung allgemein zu höherer Robustheit und Resistenz geführt hat (als eine Art langfristige, von der Natur inszenierte Rache an den Männern), möglicherweise spielt auch eine Rolle, dass viele Frauen generell gesundheitsbewusster, kräfteschonender und weniger selbstzerstörerisch leben oder dass Grossmütter soziobiologisch eine artnützliche Funktion haben und Grossväter nicht. Dies alles ist allerdings bezüglich Diskriminierung nur relevant, wenn man «langes Leben» wirklich als erstrebenswertes Gut ansieht, was im Hinblick auf die Probleme in der letzten Lebensphase durchaus in Frage gestellt werden kann und auch in Frage gesellt wird, – allerdings vornehmlich von jüngeren Menschen…

Ob ein Frauenleben die Hölle ist und ein Männerleben ein Schlaraffenland auf dem Buckel ausgenützter und misshandelter Frauen, wie dies einige feministische Fundamentalistinnen behaupten, weiss ich nicht. Die Nachfrage nach traditioneller ehelicher Partnerschaft ist auch bei intelligenten Frauen immer noch vorhanden. Ob sie allesamt den Täuschungen «falscher» biologischer und soziokultureller Prägungen oder der kollektiven Männerpropaganda oder dem individuellen Männercharme oder der Illusion über nicht vorhandene männliche Tugenden erliegen? Oder einfach von ihren Hormonen und Genen in den Hafen der ehelichen Sklaverei gelockt werden? Oder wählen sie vielleicht doch aufgrund von Vergleichen zwischen Präferenzen? Interessanterweise wünschen mehr Männer als Frauen eine Geschlechtsumwandlung, was allerdings, weil es eine seltene Randgruppe betrifft, als Indikator weniger taugt als die Lebensdauer, welche doch mit biologischer Lebensqualität irgendwie korrelieren dürfte.

4.8 Es gibt kein allgemeinverbindliches Modell der Rollenteilung

Wie dem auch sei, die etatistisch-feministische Hoffnung, man könne nun die Politik mobilisieren, um all die «tatsächlich festgestellten Diskriminierungen» in «Gleichstellung» zu verwandeln, basiert auf der gefährlichen und m.E. irrtümlichen Vermutung, dass es ein wissenschaftlich abgesichertes «richtiges Modell» des gedeihlichen Zusammenwirkens von Frauen und Männern gebe, das man nur noch in Gesetze kleiden müsse und dann mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Subventionen, Renten, Quoten und mit Kontrolle und Strafandrohungen von staateswegen durchzusetzen habe. Da sind womöglich Millionen von kleinen Einzelexperimenten mit dem Potential des teilweisen Gelingens, Scheiterns und Lernens, aber abgeschirmt von der Fuchtel allgemeinverbindlicher staatlicher Zwangsnormen doch noch vorteilhafter, für die Direktbeteiligten (nicht immer, aber oft) und für die Gesellschaft als ganzes, die vor den ganz grossen und gefährlichen kollektiven Irrtümern bewahrt wird.

Der liberale Staat ist ein Staat, der seinem Wesen nach in seiner Wirksamkeit begrenzt sein soll, und der sich so wenig wie möglich in die persönlichen Angelegenheiten seiner Bürgerinnen und Bürger einmischen darf, und aus liberaler Sicht ist wohl die Frage der partnerschaftsinternen Arbeits- und Rollenteilung zu diesem Kernbereich des Privaten zu zählen. Dass ein solcher Nichteinmischungs-Staat nur in Ansätzen und nur mit groben sozialstaatlichen Verfälschungen real existiert, und dass man ihn nicht allein durch Bewahren, sondern vor allem durch radikale Umkehr ermöglichen und fördern müsste, braucht wohl nicht besonders betont zu werden.

4.9 Lohnt es sich, Kinder zu haben?

Offen bleibt die Grundfrage, ob es sich im weitesten und besten Sinn für Frauen und Männer «lohne», Kinder aufzuziehen, wenn man ja auch ohne Nachkommen im Alter (wenigstens finanziell) gesichert ist. Hier zeigt es sich, wie direkt Sozialversicherung, Partnerschaftsökonomie, Rollenteilung, Familienökonomie und Familiensoziologie zusammenhängen. Die «Investition in Kinder» und in deren gute Ausbildung hat heute für Frauen und Männer zu wenig ökonomische Anreize. Ob es hier einen geordneten «Weg zurück» gibt, oder ob die kollektive sozialstaatliche Finanzierung der Erziehung und der Altersvorsorge irreversibel ist, ob es privatwirtschaftliche Alternativen gibt, oder ob ein totaler Zusammenbruch kollektiver Rentensysteme mit viel Schmerzen zu diesem über Jahrtausende praktizierten und in Asien immer noch weit verbreiteten Familienmodell zurückführt, wage ich nicht zu prognostizieren.

Immerhin ist es wahrscheinlich, dass das Thema «partnerschaftsinterne Rollenteilung» in der Praxis des Partnerschaftsvertrags und die Frage «Wollen wir Kinder, und wer leistet diesbezüglich welche persönlichen Beiträge an Zeit und Geld» an Bedeutung zunimmt, wenn eine allfällige Pleite des Sozialstaates näher rückt. Es wird an den Männern sein, hier individuell konkrete und nicht generell abstrakte Angebote zu machen, und zwar solche, welche im praktischen Anwendungsfall für Frauen attraktiv genug sind, den jeweiligen Mix von Freuden und Leiden der Partnerschaft, Mutterschaft und Elternschaft auf sich zu nehmen. Der Weg «von der Gewalt zum Vertrag» führt durch Engpässe, in welchen das flexible und adaptative Männerverhalten darüber entscheiden wird, ob eine Gesellschaft sich noch weiter reproduziert oder ausstirbt. Ich glaube nicht, dass hier irgend ein politisch abgestütztes, geschlechtsbezogenes Zwangsregime zu Lasten oder zu Gunsten von Frauen oder Männern auf die Dauer überlebensfähig wäre.

4.10 Frauen als Gewinnerinnen einer Entstaatlichung

«Liberaler Feminismus», falls es so etwas gibt, steht in diesem ungewissen Umfeld trotzdem nicht mit leeren Händen da. Eine konsequente Liberalisierung und Deregulierung dürfte sich à la longue zugunsten der Frauen auswirken. Es gibt eine Reihe von faktischen Diskriminierungen in unserem Gesetzesdschungel, die als solche gar nicht so leicht erkennbar sind. Es ist in diesem Zusammenhang an den Satz des Lausanner Ökonomen Charles Secrétan (übrigens ein früher liberaler Vorkämpfer für das Fauenstimmrecht!) zu erinnern, der gesagt hat, es ein Zynismus das «Laissez-faire» in Verhältnissen zu fordern, die ihrerseits nicht das Resultat des «Laissez-faire» seien. Ein Teil der sogenannten Diskriminierungen sind «Altlasten» und «ungewollte Nebenwirkungen» von untauglichen Versuchen der «Gleichstellung», sei es im Arbeitsrecht, im Sozialversicherungsrecht oder im Familien- und Erbrecht. Dazu kommen zahlreiche ältere und neuere politische Verirrungen linker und rechter Gesellschaftspolitiker in wirtschaftliche und soziokulturelle Bereiche. Leider wird in dieser Richtung wenig geforscht. Die modischen «gender studies» sind meist etatistisch inspiriert, und das Heil der «Gleichstellung» wird von «mehr Staat», d.h. von noch mehr Interventionen und Regulierungen erwartet. Bei vorurteilsfreieren Projekten käme in der Geschlechterfrage voraussichtlich ein grosses, diesbezügliches Deregulierungspotential ans Licht, das über «männerlastige» Lesebuchgeschichten und über den Streit um weibliche und männliche Sprachformen hinausreicht.

Tatsächlich sind freie Märkte, auch freie Arbeitsmärkte, das wirksamste Verfahren, geschlechtsspezifische Diskriminierungen abzubauen. Überall, wo Frauen durchschnittlich bzw. mehrheitlich Besseres leisten, – und dieser Anteil nimmt in Dienstleistungsgesellschaften zu! -, ist der ausschliesslich Leistungen messende Markt auf der Seite der Frauen, wenn er nicht durch allerlei «Gutgemeintes» wieder verzerrt wird. Alle bisherigen Versuche, die «Gleichstellung» durch «affirmative action» nach generellen, allgemeinverbindlichen Normen zu erzwingen, haben im Endeffekt meist zu neuen Formen der Diskriminierung geführt. Vor allen Vorstellungen, das, was gleich und das was ungleich sein soll, in wirtschaftlichen und soziokulturellen Beziehungen von Staates wegen zwingend vorzuschreiben, soll aus liberaler Sicht einmal mehr gewarnt werden.

5. Wie attraktiv ist der Liberalismus für junge Menschen?

«Junge Menschen inter¬essieren sich für Techno-Musik für Sport¬anlagen und Park-plätze, für libe¬rale Grundsätze interessieren sie sich über¬haupt nicht mehr».¬ So lautet die Feststellung, mit wel¬cher eine freisinnig-demokratische Ortspartei kürzlich ihre Anfrage an das Libera¬le Institut eingeleitet hat. Die Partei¬leitung wollte wissen, ob und wie es möglich wäre, junge Leute ver¬mehrt für libera¬les Gedankengut zu begeistern. Wenn dies nicht gelinge, wurde mit guten Gründen beigefügt, so sei es um die Zu¬kunft des Liberalismus schlecht bestellt.

In dieser Form ist die Frage nicht in wenigen Sätzen zu be¬antworten, und es dürfte ohne empirische Grundlagen sehr schwierig sein, eine brauchbare «Marktanalyse» für das ideelle «Pro¬dukt» Liberalis¬mus (mit oder ohne eine «parteipolitische Verpac¬kung») zu liefern. Die folgenden Ausführungen stützen sich lediglich auf persönliche Beobachtungen im beruflichen und familiären Umfeld. Ganz all¬gemein ist die Nachfrage nach pro¬grammatischen politischen Stellungnahmen bei jungen Leuten eher gering. Das Zeitalter der Ideologien, der Demonstrationen und heissen akademischen Diskussionen ist vorbei. Die Gruppe, die sich überhaupt für politische Grund¬satzfragen interes¬siert, ist – unabhän¬gig von der ideel¬len Ausrichtung nach «links» oder nach «¬rechts» – ein ganz kleiner Bruchteil der Stimmbür¬ger¬schaft. Aus liberaler Sicht ist dieser «Rückzug ins Private» an sich nichts Negatives, aber er überlässt eben die politi¬sche Bühne jenen Aktivisten, die den Staat für den alleinkom¬petenten Problemlöser hal¬ten. Der Liberalismus kann auf eine Präsenz im parteipolitischen Machtkampf nicht ver¬zichten, denn der Abbau und Umbau des unliberalen und unbe¬zahlbar gewordenen Bevormundungsstaates verlangt mehr als ein politi¬sches «Lais¬sez-faire».

Wenn es darum geht, mehr junge Wäh¬lerin¬nen und Wähler zu gewin¬nen, so sind Grundsatzfragen kein geeigneter parteipoli¬tischer «Ma¬gnet». Die junge Wähler¬schaft wünscht sich Persön¬lichkei¬ten, die sach¬lich und fach¬lich kompetent argumentieren und charakter¬lich überzeugen. Gesucht sind Vorbilder, welche Profil zeigen und den Mut haben, sich zu exponieren. Gefragt sind persönliche Lei¬stungsausweise im politischen oder wirt¬schaft¬lichen Be¬reich. Personalisierung ist Trumpf. Die Aus-richtung auf Grundwer¬te wie Spontaneität, Offen¬heit, Viel¬falt und Privatautonomie klingt für junge Leute zu ab¬strakt. Län¬gerfristige politische Strategien kommen der weit verbrei¬teten «Subito»- Mentalität zu wenig entgegen. Eine besonde¬re Schwie-rigkeit für die Attraktivität des Libera¬lismus bei Jungen besteht darin, dass er in verschiedener Hinsicht eine Position der «Mitte» und des «Kompromisses» sowie des Lernens in kleinen Schritten favorisiert, so etwa im Umweltschutz, in der Drogenpolitik, in der Europapolitik und bei Themen wie «Gleichberechtigung» und «Arbeitslosigkeit». Die Forderung nach einem «geordneten Rückzug» des Staates aus Bereichen, wo er mehr schadet als nützt, hat zudem überhaupt nichts Heroisc-hes an sich. Wer die berechtigte Forde¬rung nach «mehr Frei¬heit» erhebt, muss ehr-licherweise auf zahlreiche – durch¬aus auch für Mehrheiten – unbequeme Folgen auf¬merksam machen. Aus dieser Sicht hat der Liberalismus im Umfeld des auf zuneh¬mender Verschuldung basierenden, gegen¬wärtig aber noch leid¬lich funktio-nierenden demokratischen So¬zial¬staats, der auf Parteikoalitionen basiert, keine «frohe Bot¬schaft» zu ver¬künden, von der sich junge Menschen begeistern liessen. Viele Jugendliche fühlen sich eher von einem pronon¬ciert rechten Gedankengut (Stichworte: Fremden¬feind¬lichkeit, Nationa¬lis¬mus) oder von linken Strömungen (Stichworte: Solidarität mit den Bedürftigen, gegen «die Mächti¬gen», gegen die «Männerherr¬schaft», gegen «den Krieg», gegen «die Ausbeutung der Dritt¬weltländer» etc.) angespro¬chen oder von ökologi¬schen Aktions¬grup¬pen, die eine Antwort auf Katastrophen-Szenarien offerie¬ren¬. Immer häufi¬ger ist auch die Tendenz zum Rückzug auf eine einzige Frage¬stellung, welche eher zur Mitgliedschaft in einer Clique oder in einem Verein mit klar abgegrenzten Zwecken und kon¬kreten Zielen motiviert als für den Einsatz in einer poli¬ti¬schen Gruppie¬rung, die sich mit komplexen und vernetzten Pro¬blemen befassen muss. Die wenig zahlreichen Jungen, die sich aus Über¬zeugung politisch aktiv engagie¬ren möchten, werden dies also links oder rechts der Mitte tun, d.h. an irgend einem «Flügel» des par-teipoli¬tischen Spek¬trums. In der Mitte bleiben lediglich die vorsichtigen Karrieristen, von denen keine Impulse zu erwarten sind.

5.1 Auf der Suche nach dem «liberalen Profil»

Alle Parteien wollen in Wahljahren eine mög¬lichst grosse Wähler¬schaft ansprechen. Darum sind die Wahl¬plattformen als «Giess¬kanne» konzipiert, die eine Plantage von vielfäl¬ti¬gen Interessen bewässert. Damit hält und gewinnt man kurz-fristig Stimmen, verliert aber mögli¬cherweise län¬ger¬fri¬stig den poten¬tiel¬len Nachwuchs, der Profil erwartet und sich an Ideen und Vorbildern orien¬tiert. Dieser Nachwuchs ist im liberalen Lager stets eine kleine Minderheit, die stimmenmässig zunächst nicht ins Ge¬wicht fällt, die aber persönlichkeitsmässig die künfti¬gen liberalen Kaderleute stellt (Zeithorizont: 10 -20 Jahre).

Für diese – losgelöst vom vorherrschenden Zeitgeist – stets vorhandene potentielle Elite zählen liberale Werte wie Offen¬heit, Vielfalt, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit (an¬stelle von einheitlichen Kollektivlösungen), Lei¬stung (an¬stelle von gegen¬seitiger Ausnützerei), Ehrlichkeit (anstelle von hohlen Ver¬sprechun¬gen), Sachlich¬keit (anstelle von ideolo¬gi¬schem Pathos und Schwulst), Beschrän¬kung auf das Notwendige (an¬stelle des Giess¬kannen¬prinzips), offener Markt (anstelle von Reglemen¬tiere¬rei), Sparsam¬keit beim Staat, niedrige Steuern und nied¬rige Verschuldung (anstelle des Ausbaus der Bürokratie und des Leistungs¬angebots), mehr Konsequenz beim Ordnungsstaat (Ver¬brechensbekämpfung) weniger Bevormundung und Verschwendung im «Vollkaskost¬aat.»

Man sollte im Hinblick auf einen qualifizierten Nachwuchs, welcher diese Werte nicht nur vertritt, sondern nach ihnen glaubhaft lebt, nicht in erster Linie auf das achten, was zur Zeit an kon¬kreten Forde¬rungen «bei den Jun¬gen» «in» bzw. Mode ist. (Gibt es überhaupt so etwas wie «die Jungen» als homoge¬ne Zielgruppe, oder wird dies nur von par¬teipoli¬tisch gehät¬schel¬ten «Berufsjugend¬li¬chen» und von Marketingleuten des Unterhal¬tungsbusiness behauptet?)¬. Die Formulie¬rung von jugend¬politi¬schen Program¬men, die auf eine staatliche Förde¬rung des für viele Junge attrakti¬ven Kon¬sums von Freizeitakti¬vitäten hin¬ausläuft, ist aus liberaler Sicht abzulehnen. Die Jugend ist keine «soziale Problemgrup¬pe», die einen besonderen Bedarf an staat¬licher Infrastruktur, Unterstützung und Bevor¬mundung auslöst. Die Förderung durch öffentliche Mittel kann zur dauernden Staats¬bedürftig¬keit führen, zu einer mit der Sucht vergleich¬baren Ab¬hängig¬keit, in welcher die Jugend auch par¬tei¬politisch instrumen¬tali¬sier¬bar wird. Ein konsequen¬tes und mutiges Nein zum einen oder andern «jugend¬politischen» Postu¬lat mag zwar mögli¬cher¬weise Stimmen kosten, aber es verleiht einer Partei jenes Profil, das sie mittel- und lang¬fristig brauc¬ht, um einen qualifi¬zierten Nachwuchs anzusprechen.

5.2 Stehen «die Jungen» tendenziell links ?

Jede Partei hat rechte und linke Flügel, und in jeder Partei hat es Junge auf beiden Flügeln. Bürger¬lichen Parteien haben in der Regel zwei rechte und zwei linke Flügel, was oft Anlass viel¬fältigster Begriffsverwirrun¬gen ist: Auf der einen rechten Seite stehen am Rand die natio¬nal-konservati¬ven, tendenziell xenophoben Exponenten, auf der andern, ebenfalls als «rechts» bezeichne¬ten, die konsequent markt¬wirt¬schaftli¬chen Ordnungs¬politiker, Positionen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und nur im undifferenzierten «Feindbild» der Linken verknüpft werden. Auch auf der linken Seite (bzw. in Links¬parteien) gibt es zwei sehr unter¬schiedliche «Brennpunkte»: die inter¬ven¬tions-, reglemen¬tie¬rungs- und umvertei¬lungs¬freundlichen Etati¬sten (Gewerk¬schafter und Alte Linke) einer¬seits, sowie die spontanisti¬schen, anarcho-sozialen Antietati¬sten (Neue Linke) anderseits. Letztere stehen dem Liberalismus ideell näher als erstere, während das «vernünftige Gespräch» mit den zum Teil stark «verbürgerlichten» Etatisten leichter fällt. Die anti-etati¬stische «Neue Linke» hat sich grössten¬teils «ent¬politi¬siert», und das was von ihr übrig blieb, ist teils zu den «Grünen» und teils zu den «Etatisten» ab- bzw. zurück¬gewan¬dert.¬ Die «Grü¬nen» wären aufgrund ihrer Ziele eher kon¬serva¬tiv, d.h. rech¬ts, aber sie verbinden sich – z.T. parado¬xerwei¬se – meist mit den linken Interventionisten, deren Struktur- und Umver¬tei¬lungs¬politik die industrielle Produktion und den Güterkon¬sum an¬heizt und damit auch die ökologi¬schen Bela-stun¬gen ten¬denziell vergrös¬sert.

Ich vertrete die Auffassung, dass sich ein mittel- und lang¬fristig zukunftstauglicher Liberalismus von allen xeno¬phoben Tendenzen (selbst wenn sie bei sogenannten Rechtsliberalen und zuneh¬mend auch bei Jungen populär sind) aber auch von den wohl¬fahrtsstaat¬lich-inter¬ventionisti¬schen Tenden¬zen (selbst wenn sie bei den sogenannten Linksliberalen und den Linken populär sind) aktiv und klar distan-zieren soll¬te. Eine engere Koopera¬tion mit wirklich markt¬wirt¬schaftlich orientierten Grünen und linken Antie¬tati¬sten sowie mit wert¬konservativen, Eigentum und Wettbewerb beja¬henden Christdemo¬kraten hat grund¬sätzlich keinen Verlust an liberaler Substanz zur Folge. Die Frage ist also nicht «Wie links oder wie rechts soll der Liberalismus taktieren oder lavieren, um bei Jungen attraktiv zu sein?» son¬dern: «Welche traditionell als «links» bzw. als «rechts» be¬zeichneten Ten¬denzen sind in grundsätzli¬cher Hinsicht Libera¬lismus-verträglich?»

Die bei Libe¬ralen stets – oft im Über¬mass – vorhande¬ne Koali¬tions- und Kooperationsbereitschaft darf nicht zu jener Grund¬satz¬losig¬keit und zu jenem wahltaktischen Opportu¬nismus füh¬ren, welcher letzlich einen totalen Profilverlust zur Folge hat, und der die ihrem Wesen nach radikalen liberalen Ideen verwässert und – vor allem bei den Jungen – dis¬kreditiert.

6. Wider den Drang zur Mitte

Ein Plädoyer für liberale Prinzipientreue

In Goethes «Wilhelm Meister” findet sich jene Gesprächspassage, die allen Anhängern des «goldenen Mittelwegs” ins Stammbuch geschrieben werden sollte:
«Hier aber, versetzte Wilhelm, sind so viele widersprechende Meinungen, und man sagt ja, die Wahrheit liege in der Mitte. Keineswegs, erwiderte Montan, das Problem liegt in der Mitte”.

Im politischen Wettbewerb um demokratische Mehrheiten gibt es zwei Verhaltensmuster, die sich eigentlich gegenseitig ausschliessen, die aber in der Praxis trotzdem immer wieder kombiniert werden. Das eine beruht auf dem kompromisslosen Vertreten von Überzeugungen, ohne Rücksicht auf die momentane Popularität, das andere auf einer permanenten Analyse der Marktchancen,auf einer optimale Anpassung an die jeweils populären Trends und einem pragmatischen Hinausschieben von polarisierenden Grundsatzentscheiden. Nach dem ersten Grundmuster sucht man Profil und Abgrenzung, nach dem zweiten Koalitionspartner und Kooperation. Welche Strategie letztlich mehr Erfolg verspricht, ist schwer zu entscheiden, um so mehr als sie ja kaum je in idealtypischer Weise zur Anwendung kommen. Kurzfristig ist wohl die «breite Abstützung” und hohe Anpassungebereitschaft erfolgversprechender, langfristig lohnt sich wohl die Prinzipientreue, aber natürlich nur wenn das Prinzip als solches gut fundiert ist. Von Liberalen wird oft in erster Linie Kompromissbereitschaft und Toleranz erwartet, das, was man etwas missverständlich als «Liberalität” bezeichnet. Dies hat dazu geführt, dass man den Liberalismus in der Mitte zwischen Sozialismus und Konservatismus angesiedelt hat. Nachdem sich die Politik heute vornehmlich im Mittelfeld zwischen «Mitte-links”, «Mitte -rechts” und «Mitte-Mitte” abspielt und die charakteristischen Merkmale von «Linken” und «Rechten” theoretisch immer schwerer zu bestimmen sind (obwohl kaum je jemand zögert, sich selbst auf dieser Skala zu positionieren), fragt man sich, ob man angesichts dieses «Drangs zur Mitte” nicht vermehrt jenen Prinzipien und Problemen nachspüren sollte, an denen sich die Geister scheiden, und da sollte man als Liberaler nicht vor einer gewissen Radikalität im ursprünglichen und besten Sinn zurückschrecken. Es geht nicht darum, Hass und Zwietracht zu säen. Eindeutige Grenzziehungen aufgrund unterschiedlicher Überzeugungen sind auch im Bereich der Ideen und Interessen eine bessere Voraussetzung für die friedliche Kooperation als das Lavieren in der Grauzone fauler Kompromisse. Ein Wettbewerb von klar definierten Ideen bringt bessere Resultate als das gemeinsame Umherirren in einem undefinierbaren politischen Machtkartell und die Suche nach einem gemeinsamen Feind, gegenüber dem man sich persönlich profilieren kann.

Die seit der Französischen Revolution übliche Zweiteilung der politischen Strömungen, «links” = progressiv, «rechts”=konservativ hat schon viele Missverständnisse, Vor- und Fehlurteile bewirkt. Das am weitesten verbreitete und verhängnisvollste Missverständnis hängt mit dem von Goethe angesprochenen «Drang zur Mitte” zusammen. Die Vorstellung von der «Wahrheit in der Mitte” ist tief verankert und fast unausrottbar attraktiv. Sie leuchtet spontan ein, hat «prima vista” eine hohe Plausibilität und kommt sowohl psychologischen als auch ästhetischen Bedürfnissen entgegen. Die «Gauss’sche” Kurve welche die Normalverteilung beobachtbarer Phänomene zeigt, bringt zum Ausdruck, dass die Häufigkeit im Mittelbereich tatsächlich am höchsten ist. Extreme sind seltener und erscheinen daher als riskant. «Hardliner”, «Fundamentalist” und «Radikaler” werden im politischen Kampfvokabular als Schimpfworte verwendet. Dass Entwicklungsprozesse immer wieder durch sogenannte Extrempositionen angeregt und in Gang gehalten werden und die Evolution und der wissenschaftliche Paradigmenwechsel aus lauter kleinen Revolutionen besteht, fällt dabei ausser Betracht. Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte.

6.1 ”Entweder /oder” gegen ”Sowohl/als auch”

Gegenüber dem Modell von zwei Extrempositionen, die sich gegenseitig ausschliessen und die irgendwo in der Mitte zu optimieren wären, nach dem Motto, «Weder A noch B, sondern C”, d.h. «weder links noch rechts, sondern ein Mix als Drittes”, kennt die Politik auch das duale Modell von Position und Opposition, entweder «A oder B», d.h. entweder «links oder rechts».

Ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf die Wahrnehmung von Politik geht vom national-konservativen Staatsdenker Carl Schmitt aus, der die Politik nicht als Suche nach dem Kompromiss, sondern als Herausforderung zum Entscheid zwischen Freunden und Feinden deutete. Da bleibt kein Platz für «dritte Wege”, denn es geht um Sieg oder Niederlage nach dem biblischen Motto: «Wer nicht für mich ist, ist wider mich”. Diese Reduktion politischer Fragestellungen auf ein «Ja/Nein», bzw. «entweder/oder», hat ebenfalls etwas Attraktives und Populäres. Auf der eigenen, der «guten Seite” liegt «das Reich des Lichts”, auf der andern, der «bösen”, «das Reich der Finsternis”. Ein Drittes ist ausgeschlossen. Die nach der schrecklichen Vereinfachung von Carl Schmitt verursachten Dilemmata wären ein interessantes Objekt spieltheoretischer bzw. politökonomischer Untersuchungen, vermutlich gewinnen jene, die bereits Einfluss haben, und jene die wenig Einfluss haben, verlieren auch noch den letzten Rest. Damit gewinnen totalitäre Strukturen an Bedeutung, und Politik wäre aus dieser Sicht eine Führungs- und Erziehungsaufgabe zu dem, was man aus linker oder rechter Perspektive für das «richtige Bewusstsein” hält. Das machtbezogene Politikverständnis nach dem Freund/Feind Schema konkurriert bezüglich Attraktivität mit dem Kompromissschema, das letztlich auf die dauernde Suche nach «Dritten Wegen” hinausläuft.

6.2 Sozialistisch gezähmter Kapitalismus?

Ein eindrückliches Beispiel für die Propagierung des «Mittelwegs” ist das auch im bürgerlichen Geschichtsverständnis tief verankerte Bild der ideologisch-politischen Entwicklung im 19. Jahrhundert. Traditionellerweise wird zunächst der «Aufstieg des Kapitalismus im Industriezeitalter” dargestellt, der zu den «bekannten Missständen und Missbräuchen” geführt habe, die – fast unbestrittenerweise – als eine Folge des wild wuchernden ungebremsten und unkontrollierten Kapitalismus geschildert werden, den es nun nach der national-sozialstaatlichen Zähmung im 19. Jahrhundert im 21. Jahrhundert auf globaler Ebene wiederum zu zähmen gelte. Der Einfluss von Charles Dickens und Emile Zola (im 19. Jahrhundert) und von Jean Paul Sartre und Bert Brecht (im 20, Jahrhundert) hat beim sozial sensibilisierten Bildungsbürgertum nachhaltiger gewirkt als jener von Marx und Engels. Untersuchungen über das «Massenelend”, das schon vor dem Aufkommen kapitalistischer Produktionsweise vielerorts ein «Normalzustand” war, bleiben weitgehend unbeachtet. Wer aufgrund statistischer Daten die Schwächen dieser Geschichtsdeutung entlarvt, wird als Aussenseiter und Spielverderber betrachtet. Einmal mehr «kann nicht sein, was nicht sein darf”. Möglicherweise handelt es sich um eine verkappte nachträgliche Verharmlosung des Feudalismus, eine absurde Koalition sozialistischer und konservativer Geschichtsdeutung, eine Verherrlichung der «guten alten Zeit” in Verbindung mit linker Revolutionsromantik, dialektischem Materialismus und technokratischem Machbarkeitswahn. Gerd Habermann hat in seinem Buch über den Wohlfahrtsstaat (… Berlin 1994) die subtilen Zusammenhänge zwischen dem absolutistischen und merkantilistischen Bevormundungs- und Betreuungsmodell und seinen sozialdemokratischen Nachfahren aufgezeigt.

Dostojewskis «Grossinquisitor”, der es als «guter Hirte” bekanntlich «besser weiss”, was für seine anvertrauten Schäfchen «gut” ist, als der wiedererschienene Christus mit seiner Botschaft von Liebe in Freiheit, wird heute durch die etatistischen Sozialtechnologen ersetzt, welche die Menschen nach (pseudo)wissenschaftlichen egalitären Vorstellungen von der Wiege bis zur Bahre versorgen, betreuen, entmündigen und konfiskatorisch besteuern. Die antiliberale Mentalität, «es gibt jemanden in der Regierung, der Deine Bedürfnisse besser kennt als Du selbst”, ist dieselbe: Nur kein «Laissez-faire”, lautet die auf Minimierung von Risiken angelegte letztlich aber für alle risikoreiche Strategie!

Gegenüber dem «Extrem” des «Laissez-Faire”- Kapitalismus wird dann die Heilslehre des Marxismus als «notwendiges Gegenmittel” bemüht, das zwar in Richtung Eigentumskritik und Kollektivismus auch «zu weit ging”, aber doch «notwendige Korrekturen” bewirkte. Etwas salopp formuliert: «Kapitalismus pur” war schlecht aber effizient, «Marxismus pur” war unrealistisch, aber heilsam, eine mittlere Mischung von beidem, d.h. Sozialdemokratie, «soziale Marktwirtschaft” und Wohlfahrtsstaat war und ist «die Lösung in der Mitte”, welche vom Kapitalismus die Produktivität und vom Sozialismus das soziale Mitgefühl, die Zuwendung zu den Schwachen, kombiniert, «Soziale Marktwirtschaft” als Allerweltsformel. Politik wird auf diesem Hintergrund als ein Seiltanz zwischen «zu wenig” und «zu viel” vom einen oder andern gedeutet. Das eine Prinzip soll das andere «zähmen”. Ralph Raico hat in seiner messerscharfen ideengeschichtlichen Analyse des deutschen Liberalismus (Die Partei der Freiheit, Stuttgart 1999) die Folgen dieser verhängnisvollen Kompromisse in der sogenannten Mitte aufgezeigt. Der deutsche Liberalismus ist im 20. Jahrhundert an seiner fatalen Koalitionsbereitschaft mit linken und rechten totalitären Tendenzen gescheitert.

Empirische Untersuchungen könnten zeigen, dass eine grosse Mehrheit dem skizzierten Geschichts- und Politikbild verhaftet ist und bleibt. Ist es darum richtig?
Haben wir nicht «zu viel” von diesem derzeit «politisch korrekten” und populären, dafür aber nicht den Tatsachen entsprechenden Deutungsmuster?

6.3 Prinzipientreue trotz Pluralismus

An diesem Punkt des Argumentierens ist natürlich die Versuchung gross, trotzdem nach einem «dritten Weg” zu suchen, als Ausweg aus einer Alternative, welche zur Falle zu werden droht: «Freund/Feind-Schema” einerseits und «opportunistischer Mittelweg” anderseits. Es muss ja auch möglich sein, eigene Prinzipien über Bord zu werfen und «contre coeur” den Mut zur bewussten Inkonsequenz zu zeigen. Ist eine solche Resignation wirklich notwendig?

Das Denken in Alternativen, das Politisieren nach dem Muster «Ja/Nein» ist auch möglich, wenn man das Carl Schmitt‘sche «Freund/Feind-Schema» verwirft. Ausgangspunkt ist eine Sicht, bei welcher nicht ein «System A =Kapitalismus” bzw. «Marktwirtschaft”, einem System «B =Sozialismus” bzw. «Planwirtschaft” oder «Interventionismus” gegenübersteht, sondern ein konstruktivistisches System, das zwangsweise, mit ideologischen Motiven, die «links”, «rechts” oder «grün” sein können, interveniert, einem spontanen Non- System, das Zwang ablehnt oder höchstens als notwendiges Übel toleriert. Also nicht «A gegen B», sondern «A gegen Nicht A». Etwas Drittes gibt es diesbezüglich nicht. Trotzdem stehen wir nicht vor der Wahl, für das eine oder das andere um «Sieg oder Niederlage” zu kämpfen. Radikaler Liberalismus lässt sich auf folgende Grundpostulate reduzieren: «Wo Gewalt war, soll Vertrag werden, wo Zwang war soll Freiwilligkeit werden, konstruktivistische allgemeinverbindliche Reglementierung soll durch vielfältige non-zentrale Spontanität ersetzt werden, Bevormundung durch Selbstverantwortung, je umfassender und je schneller, desto besser.” Eine solche Sichtweise erlaubt auch eine schrittweise Annäherung, ohne dass dabei das Ziel verraten wird. Im Zentrum steht die Privatautonomie, und diese ist wiederum verknüpft mit dem Privateigentum, auch an der eigenen Person. Es gibt also eine Brücke vom Prinzipiellen zum Graduellen, es gibt Kompromisse, welche nicht das Dritte als das Beste in der Mitte suchen, sondern die zweit- bzw. drittbeste Lösung tolerieren, solange es eben nicht möglich ist, Mehrheiten von der Überlegenheit der besten d.h. der bevorzugten Idee zu überzeugen. Wer beim Umsetzen von Ideen, die er für richtig hält, Abstriche macht, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, sucht eben nicht nach einem «dritten Weg”, sondern zeigt Geduld, Beharrlichkeit und Sinn für das jeweils Realisierbare. Ideen und Prinzipien haben immer ihre Gegner, mit denen man sich nicht leichtfertig und voreilig versöhnen sollte, weil man sonst letztlich zum Dienst am Gegenprinzip gezwungen wird und mitverantwortlich wird für Verhältnisse, die im Widerspruch stehen zu den eigenen Idealen. Widersacher sind auch in der Politik keine «Feinde”, die man vernichten sollte, sondern notwendige Herausforderer, welche eine dauernde Überprüfung und Verbesserung der eigenen Position ermöglichen. Freiheit und Meinungspluralismus bedingen sich gegenseitig, der wichtigste Wettbewerb ist der Wettbewerb der Ideen. Wer in diesem Wettbewerb etwas Profiliertes anbietet, wird immer seine Widersacher haben, darum gibt es weder ein «Ende der Geschichte” noch ein «Ende der Ideologien”. Entscheidend ist aus liberaler Sicht, dass zur Realisierung von politischen Konzepten gegenüber jenen, die sie nicht teilen, kein staatliche Zwangsmonopol mobilisiert wird, auch nicht via Fiskus und Förderungssubventionen. Die Bedrohungen von aussen und von der Gegenseite verschwinden nie vollständig, und die «Probleme in der Mitte” sind nie endgültig lösbar, aber die «Suche nach dritten Wegen” erweist sich aus dieser Sicht als höchst fragwürdige Versuchung, die eigene Überzeugung der opportunistischen Anpassung zu opfern.

7. Freiheit und Non-Zentralismus

Ein Plädoyer in 12 Thesen für mehr Privatautonomie und mehr Kommunalautonomie

«Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustür zu treten und nachzusehen, was es gibt.»
Gottfried Keller, Fähnlein der Sieben Aufrechten

1. Ideen- und begriffsgeschichtliche Wurzeln von «Freiheit»

Was bedeutet der Begriff «Freiheit»? Er gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen für menschliches Glück. Trotzdem hat man im Namen der Freiheit schon die grössten Verbrechen begangen. Freiheit basiert auf dem Prinzip der Selfownership und dem Prinzip der persönlichen Autonomie. Alle sind theoretisch für Autonomie, aber in der Praxis ist Autonomie etwas Vieldeutiges und Beschwerliches. Abhängigkeit, verbunden mit Sicherheit ist oft viel populärer, und viele Menschen sind sehr schnell bereit, sich wieder vollkommen fremdbestimmen zu lassen, wenn sie dafür materielle Vorteile erlangen. Es ist zwar angenehm, selbst zu bestimmen, was man tun und lassen will, aber es ist unangenehm dafür die Folgen zu tragen.

Dies führt mich zur These 1:

Freiheit basiert auf Selfownership und Autonomie.

Die Forderung nach Autonomie kann aus verschiedensten Motiven erhoben werden. Man begegnet ihr sowohl bei Liberalen, bei Sozialisten, bei Konservativen und bei Kommunitaristen verschiedenster Färbung. Es gibt also kein liberales Monopol für die Förderung von Freiheit und Autonomie.

2. Autonomie und Non-Zentralität

Wenn wir eine definitorische Brücke suchen zwischen den beiden Pfeilern «Freiheit» und «Dezentralisierung», so bietet sich die Autonomie an, d.h. die Fähigkeit sich selbst Regeln zu geben. Was heisst nun aber Autonomie? Autonomie kann sowohl für Individuen (personale Autonomie) als auch für Gruppen (soziale Autonomie) als auch für Nationen, Regionen und Gemeinden (politische Autonomie) gefordert werden. Es gibt auch verschiedenste Mischformen, welche eine klare Definition erschweren. Manchmal geht die Autonomie im einen Bereich zu Lasten der Autonomie im andern, beispielsweise in der Familie. Die Autonomie einer ganzen Familie geht oft zu Lasten der Autonomie einzelner Familienglieder, z.B. der Mutter. Das Familienleben ist oft auch ein Eingriff ins Privatleben des Individuums, auch wenn die familiäre Einordnung häufig – aber nicht immer – auf Freiwilligkeit beruht.

Je nach dem wer dieser «Autos» ist, dieses Selbst, das sich Regeln gibt, variiert der Inhalt des Begriffs Autonomie. Als Angehöriger eines Kleinstaats habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Gruppe, die sich selbst Regeln gibt, klein sein sollte, wenn der Einzelne darauf überhaupt noch einen Einfluss haben will. Es gilt das Prinzip «Small is beautiful», aber dieses Prinzip darf, wie alle Prinzipien, nicht verabsolutiert werden. Das Risiko, dass es in einer kleinen Gruppe zu einer Häufung von schädlichen, irrtümlichen und egoistischen Meinungen kommt, ist nicht auszuschliessen. Nehmen wir wieder das Beispiel der Familie. Familien sind das beste Beispiel für non-zentrale Experimente. Einige scheitern, aber viele gelingen. Berühmt ist der Satz von Tolstoi, mit dem er seinen Roman «Anna Karenina» (eine Ehe-und Familientragödie) eröffnet:

«Alle glücklichen Familien gleichen sich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich».

Vladimir Nabokov hat dieser These in seinem Roman «Ada» or «Ador: A Familiy Chronicle» (1969), widersprochen und die Gegenthese aufgestellt, dass sich alle unglücklichen Familien gleichen, aber jede glückliche Familie auf ihre eigene Art glücklich sei. Nabokovs These ist wahrscheinlich die liberalere, weil sie nicht dazu verleitet, das «grösste Glück der grössten Zahl» durch allgemeinverbindliche Rezepte zu verordnen, da wir ja nach seiner Definition dessen, was im allgemeinen als Glück empfunden wird, scheitern. Am Vorsichigsten ist wohl die These, dass es weder eine verallgemeinerungsfähige Umschreibung von «Glück» gibt, noch von Unglück, sondern nur eine Vielzahl konkurrierender Experimente zur Erreichung des einen und zur Vermeidung des andern. Das gilt wohl nicht nur für soziale Primärgruppen, sondern vom Individuum bis zur anonymen Grossgesellschaft.
Darin besteht die Chance vielfältiger nicht zwangsregulierter Experimente. Sie können zu mehr Glück oder zu mehr Unglück führen. Hätten wir nur ein einziges Familien- und Erziehungsmodell, das bis ins Detail normiert wäre, wären alle Familien gleich, nämlich gleich unglücklich. Dasselbe gilt auch für andere soziale Gruppen und auch für Nationalstaaten.

Dies lässt sich in einer 2. These zusammenfassen:

Dezentralisation bedeutet Pluralismus, Mannigfaltigkeit (diversity) und Wahlmöglichkeit (choice) und birgt sowohl Chancen als auch Risiken. Wer die Risiken ausschalten will, zerstört auch die Chancen und bewirkt eine per saldo Verschlechterung der Ausgangslage.

Immerhin stösst auch dieses Prinzip, wie alle Prinzipien, an gewisse Grenzen. Zu kleine Systeme können auch ineffizient und intolerant sein. Zu klein ist vielleicht nicht mehr so schön. Menschen, die in Städten leben, sollten sich davor hüten, das Landleben auf dem Dorf zu idyllisieren.

Das führt mich unmittelbar zur These 3:

Das Prinzip «Small is beautiful» muss mit dem Prinzip des Wettbewerbs zwischen kleinen und offenen Einheiten kombiniert werden, damit durch den Systemvergleich Extremlösungen unwahrscheinlicher werden.

Dies klingt alles sehr theoretisch, ich werde aber morgen anhand von praktischen Beispielen darauf zurückkommen. Noch eine letzte terminologische Bemerkung. Ich schätze eigentlich den Begriff Dezentralisation nicht. Er impliziert, dass man zuerst zentralisiert. Etwas zentralisieren, um nachher dezentralisieren zu können, heisst zunächst das Falsche tun, um es nachher korrigieren zu können.

Als These 4 folgt daraus:

Optimal ist ein Verzicht auf alle unnötigen Zentralisierungen.

Diese Option ist aber weltweit kaum mehr vorhanden. Die meisten Staaten Europas sind im Feudalismus und im Absolutismus oder als junge Nationalstaaten systematisch zentralisiert worden. Die ehemalige Kolonien haben in der Regel ein politisches System geerbt, das durch die Kolonialherren meist zentral und bürokratisch verwaltet worden ist.

Meine 5. These lautet daher:

Zentralisierte Strukturen sind kaum reversibel, bzw. nur mit grossem Aufwand wieder auf ein vernünftiges Mass an Eigenständigkeit zurückzuführen.

Da die meisten Nationen der Welt einen zu hohen Grad an Zentralität haben, ist der Begriff Dezentralisation durchaus realistisch. Richtiger wäre es, von Non-Zentralisation zu reden, d.h. von der Bewahrung bzw. der Wiederherstellung von Non-Zentralität. Dezentralisierung ist der Vorgang, non-zentrale Autonomie das Ziel. Dahinter steckt mehr als eine Wortklauberei. Wer dezentralisiert, setzt die Zentrale voraus, und es bleibt immer die Nabelschnur zwischen Zentrale und Gliedstaat bzw. Gemeinde erhalten. Das Bild der Nabelschnur ist allerdings zu positiv gefärbt. De facto nährt sich nämlich das Zentrum von der Peripherie und behauptet nur, es alimentiere seine «Kinder». Zentralregierungen und ihre Bürokratien sind eine Mischung zwischen notwendigen Übeln und Schmarotzertum. Non-zentralität bedeutet ursprüngliche Eigenständigkeit, bzw. Wiederherstellung der ursprünglichen Eigenständigkeit.

Daraus lässt sich als 6. These Folgendes ableiten:

Ein grosses unlösbares Problem wird nicht lösbarer, wenn man es strukturiert und differenziert und den Spezialisten überlässt. Wer es lösen will, muss es in Stücke zerschneiden. Die Lösung ergibt sich dann empirisch in kleineren konkurrierenden Einheiten, die nicht mehr über die Zentrale kommunzieren.

Dies ist nun alles schon ein bisschen konkreter, aber immer noch reichlich abstrakt. Auch das Verfahren der Dezentralisation durch Rückführung zur echten Autonomie ist als Prinzip richtig, bedarf aber der Modifikation und Adaptation. Es ist in der Realität oft nur schrittweise und nur in Kombination mit andern Prinzipen durch Kompromisse zu realisieren.

«Autonomie», die positive Seite der Freiheit hat zwei prinzipiell zu unterscheidende Gegenkonzepte. Das eine ist die «Heteronomie», die Fremdbestimmung in einer Hierarchie, das andere ist die Anomie, die Regellosigkeit, welche das «Recht des Stärkeren» als einziges Ordnungsprinzip kennt.

3. Emotionale und mythische Wurzeln der Freiheit

Freiheit ist ein Erlebnis, ein Prozess, etwas Dynamisches, Lebendiges, ich möchte mich daher nicht zu lange mit definitorischen Abhandlungen verweilen. Wer dieses Gefühl der Selfownership und des «Lebens auf eigenes Risiko» nicht kennt, dem kann man es letztlich auch nicht mit Definitionen erklären.

Am ehesten kann man sich dem Phänomen der Freiheit annähern, wenn man von ihrem Gegenteil ausgeht. Ich werde oft nach dem historischen Ursprung der Freiheit gefragt. Ich glaube nicht, dass Freiheit von irgendeinem Staatsmann, Philosophen oder Ökonomen erfunden worden ist, weder von Platon, noch von John Locke noch von Adam Smith.

Meine 7. These, welche die Entstehung der Freiheit betrifft lautet folgendermassen:

Die Geburtsstunde der Freiheit, ist das Bewusstwerden der Möglichkeit «Nein» zu sagen, wenn jemand anderer etwas von uns verlangt, das wir selbst nicht wollen.

Das Alte Testament verlegt dieses «Nein» gegenüber Vorschriften bereits an den Anfang der Menschheitsgeschichte, als Eva das Verbot brach, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, der es den Menschen ermöglicht, zwischen «gut» und «böse» zu unterscheiden. In der griechischen Mythologie setzt sich Prometheus über das Verbot des Zeus hinweg, und bringt den Menschen das Feuer, das gleichzeitig nützlich und gefährlich ist.

Das Gefühl der Freiheit entsteht im Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Pflichten, Vorschriften und Forderungen, die man weder innerlich noch äusserlich akzeptiert. Freiheit ist ein Exodus aus der Knechtschaft, eine Weigerung, abhängig zu sein, und ich glaube, dass ehemalige Kolonien, die sich befreit haben, eine richtige Vorstellung davon haben, was Freiheit im Zusammenhang mit Dezentralisation bedeutet. Weg von der fremdbestimmenden Zentrale, hin zu Autonomie und Freiheit. Nur darf dieser Prozess nicht zu früh abbrechen. Fremdbestimmende Zentralen gibt es nicht nur im fernen Mutterland, sondern auch im eigenen Land, welches das koloniale Erbe antritt. Dezentralsation als eine Art «innere Entkolonisierung» ist ein Weg zu mehr Freiheit, der möglicherweise unterschätzt wird.

4. Nutzen und Grenzen der Vergleichbarkeit

Freiheit und Dezentralisation sind nicht philosophische Konzepte, sondern politische Programme. Zum Teil bleiben sie immer Utopie, weil sie sich nie vollkommen verwirklichen lassen. Zum Teil können sie aber verwirklicht werden. In der Geschichte findet man immer wieder Modelle für das Gelingen und das Scheitern solcher Programme.

Dazu eine weitere These, These Nr.8:

Man kann aus der Geschichte und aus dem Vergleich von Systemen nicht direkt lernen, weil es nie zweimal dieselbe Konstellation gibt. Die Geschichte ist aber das einzige Labor, das in der Politik ohne grosse Risiken benutzt werden kann, und ein Verzicht auf die Auswertung von Erfahrungen lohnt sich nicht.

Politische Experimente ohne Beziehung zu historischen Erfahrungen sind in der Regel gescheitert und haben einen hohen Blutzoll gekostet. Auch der Vergleich von Nationalstaaten und politischen Systemen ist problematisch. Was in Europa gilt, kann in Lateinamerika falsch sein.

Meine 9. These lautet:

Bei aller Verschiedenheit menschlicher Kulturen, Entwicklungsstadien und bei allen nationalen und historisch bedingten Eigenheiten gibt es doch ein paar Konstanten, welche die meisten Menschen global verbinden.

In der ganzen Welt leben «Menschen wie du und ich», die sich auch aufgrund zahlreicher gemeinsamer, anthropologisch bedingter Eigenschaften ähnlich sind. There is such thing as anthropological patterns and human rights. Menschen wollen glücklich werden, und wenn sie ihr kleines Glück erreicht haben, möchten sie möglichst in Ruhe gelassen werden. Die meisten Menschen wollen gar nicht permanent darüber mitbestimmen, was alle andern tun und lassen sollen. Sie sind ganz zufrieden, wenn man sie das tun und lassen lässt, was ihren eigenen Wünschen entspricht.

Dies führt zu meiner These 10:

Selbstbestimmung ist wichtiger als Mitbestimmung.

Die meisten Menschen wollen ihre eigenen Angelegenheiten ohne die Einmischung anderer lösen, sie wollen nicht für andere in den Krieg ziehen und sie wollen keine Steuern bezahlen, wenn sie darüber keine Kontrolle haben und dafür keine oder schlechte öffentliche Dienstleistungen erhalten. Sie wollen, dass man ihr Leben, ihre Persönlichkeit und ihr Eigentum schützt und sie wollen nicht willkürlich verhaftet werden. Kurz: Man neigt vielleicht – vor allem als Intellektueller – zu rasch dazu, das Unterschiedliche zwischen den Menschen zu überschätzen. Es ist im privaten Leben wichtig und grundlegend, aber es ist im politischen Leben nicht das Entscheidende.

Politik vergleicht reale Zustände mit idealen Vorstellungen. Wer die politische Realität betrachtet, wird in jedem Land viel Unfreiheit und viel Zentralität entdecken. Wenn ich hier als Gast referiere, geht es mir nicht darum, die politische Lage meines Herkunftslandes, der Schweiz, die ich einigermassen kenne, mit der politischen Lage von Argentinien, die ich kaum kenne, zu vergleichen oder gar zu bewerten. Es geht mir bei diesem Referat um einige grundsätzliche Beobachtungen. Sie gelten für jedes politische System und ich möchte sie verknüpfen mit einigen persönlichen Erfahrungen, die für Sie vielleicht interessant sind.

In der Politik gilt der in der Schule gepredigte – und nicht immer praktizierte – Grundsatz, «abgucken verboten» nicht. Man kann Erfahrungen austauschen, selbst zwischen zwei so verschiedenen politischen Systemen wie der Schweiz und Argentinien. Nur muss man sich vor zwei Gefahren hüten: vor der nationalistischen Arroganz, welche die eigenen Vorzüge überschätzt und vor der Arroganz des Fachmanns, der lieber redet, als zuhört. Ich freue mich daher auf ihre Fragen und auf hoffentlich zahlreiche bilaterale Gespräche.

5. Non-Zentralismus und Freiheit nach Schweizer Art

Die Entstehungsgeschichte der Schweiz geht von einem Mythos aus, der sehr schön symbolisiert, wie Freiheit entsteht. In den Bergtälern der Innerschweiz wohnten Bauern, Hirten, Jäger und Säumer, die vor der Gründung der Schweiz 1291 nur den Kaiser als Herrscher anerkannten. Im 13. Jahrhundert wurden sie von einem territorialen Funktionär gezwungen, Frondienste zu leisten und Steuern zu bezahlen. Es sollte eine Art innere Kolonisierung stattfinden, und zwar durch den Einsatz von Funktionären. Einer dieser Funktionäre missbrauchte seine Macht in besonders stossendem Ausmass. Er zwang Wilhelm Tell, einen Jäger, einen Apfel vom Kopf seines Kindes zu schiessen. Nachdem dieser diese Zumutung erfüllt hatte, erschoss er dann bei einer späteren Begegnung den Funktionär, der seine Macht missbraucht hatte. Er wurde zum Inbegriff der Tyrannenmörder. Tyrannenmord setzt den Anfang autonomer Politik. Die versuchte Kolonisierung der Schweiz wurde gewissermassen im Keim erstickt. Dadurch ist der Schweiz Vieles erspart geblieben…

Der Tyrannenmord allein genügt aber nicht zur Garantie der Freiheit. Tyrannemord ist die anarchistische Befreiungstat, sie ist nur die eine Hälfte der liberalen Philosophie. Das vergessen gelegentlich alle jene Radikalliberalen und Libertären, welche glauben, mit der Abschaffung einer ungerechten Ordnung, mit der totalen Deregulierung seien alle Probleme automatisch gelöst. Die Realität ist komplexer. Es genügt nicht, untaugliche anmassende Autoritäten auszuschalten. Anstelle der Fremdbestimmung durch einen Tyrannen muss die Selbstbestimmung in der Gemeinschaft organisiert werden.

Schon sehr früh, nämlich im 13. Jahrhundert, haben die Schweizer Bauern, Hirten und Säumer am Gotthardpass geahnt, dass sie ihre Unabhängigkeit nur wahren konnten, wenn sie eine politische Gemeinschaft gründeten, die auf gemeinsam akzeptierten Regeln, auf gegenseitig abgestimmten Rechten und Pflichten basierten.

Das ist der Ursprung aller Staaten: die Einschränkung der Freiheit zum Schutz der Unabhängigkeit durch eine massvolle Zentralisierung von Gewalt, durch Einführung einer Selbstregierung mit beschränkten Kompetenzen. Es gehört nun zur Tragik der politischen Geschichte, dass es nach jeder notwendigen Staatsgründung zu einem fast unaufhaltsamen Anwachsen von Staats-und Regierungsmacht, von Zentralität und Besteuerungskompetenz kommt: das Gesetz der wachsenden Staatsaufgaben und Staatsausgaben. Gibt es wirklich keine institutionellen Bremsen dagegen?

Die politische Wissenschaft kennt vor allem vier Schranken gegen die fortschreitende Etatisierung und Zentralisierung:

  1. Den Rechtsstaat, the rule of law, der Freiheitsrechte als Rechte gegen Staatseingriffe (nach der Maxime: in dubio pro libertate) garantiert.
  2. Die Gewaltentrennung (separation of power), welche staatliche Gewalt hemmt.
  3. Die Dezentralisierung politischer Macht auf kleinere Einheiten, die gegeneinander konkurrieren.
  4. Ethisch bzw. religiös fundierte Überzeugungen, gemeinsame Traditionen und Mythen, welche Gemeinsinn stiften, den Mythos des Nationalstaats relativieren und mit der Staatsmacht friedlich konkurrieren.

Einige Theoretiker zählen auch die Demokratie als Schranke der Etatisierung auf, ich meine aber, dass Demokratie zwar Vieles leistet, aber dies gerade nicht. Demokratie ist kein Heilmittel gegen Zentralisierung und Etatisierung, sie erlaubt uns nur, unsere Regierung auf unblutige Weise zu wechseln und unsere Fremdbestimmung durch Mehrheiten sanktionieren zu lassen.

Alle vier Bremssysteme sind nur beschränkt und nur relativ wirksam.

These 11:

Eine verlässlich wirksame Schranke gegen das Wachstum der Staatsmacht ist noch nirgends erfunden worden. Wir alle stehen vor dieser Herausforderung.

Die Schweiz hat sich gegenüber diesem Gesetz der wachsenden Regierungsmacht, Fiskalität und Zentralität als relativ immun erwiesen. Wir waren immer langsam, aber es gilt auch hier der Satz «You can’t go slow enough in the wrong direction». Das Geheimnis dieser Langsamkeit war nicht etwa eine besonders hohe Intelligenz der Bürger oder gar der Regierungsmitglieder. Es war die hohe Non-Zentralität unseres Systems. Jeder Kanton hatte eine traditionelle hohe Autonomie. Über 500 Jahre waren wir ein lockerer Staatenbund (Confederation) und erst seit 150 haben wir uns zu einem Bundesstaat nach USA- Muster zusammengeschlossen. Wir kennen noch heute die sogenannte Kompetenzvermutung zugunsten der Gemeinde und zugunsten des Kantons, d. h. des Gliedstaates. Ein Drittel der direkten Steuern gehört den Gemeinden, ein Drittel den Kantonen und nur ein Drittel geht in die Bundeskasse und die jeweiligen Besteuerten bestimmen durch Mehrheitsbeschluss die Höhe der Steuern. Alles, was nicht ausdrücklich in der Verfassung von der Zentrale gelöst werden muss, bleibt regional und lokal: Im Zweifel für die kleinräumigere Lösung. Weil solche Lösungen nie ganz einheitlich sind, braucht es viel Zeit für einen zentralen Konsens, und diese Bremse hat bis jetzt gewirkt. Natürlich nicht nur positiv. Auch notwendige Innovationen, wie etwa die Einführung des Frauenstimmrechts, haben lange Zeit gebraucht. Wir sind bisher der EU noch nicht beigetreten, weil es dazu die Volksmehrheit und die Mehrheit der Kantone braucht und weil sich vor allem die kleinen Kantone gegen jede Zentralisierung in Brüssel sträuben, – m.E. zu Recht. Jedes System hat seinen Preis. Aber nicht alles was sich gegenwärtig als Vorzug und Fortschritt präsentiert, ist es auch in Zukunft. Da die Schweiz punkto Wohlstand und Freiheit konstant unter die top ten der Welt gezählt wird, haben die Vorzüge unseres Systems eine gewisse empirische Evidenz.

Was im Hinblick auf eine zusätzliche Zentralisierung als Bremse gut wirkt, ist gleichzeitig untauglich für dramatische innere Reformen, wie Privatisierung und Deregulierung. Für solche Prozesse, die auch in der Schweiz notwendig sind, müssen wir andere Modelle heranziehen.

6. Das «Modell Neuseeland»

Neuseeland hat in den 8Oer Jahren bemerkenswerte Reformen durchgeführt (Vgl. dazu : Donald T. Brash, New Zealand’s Remarkable Reforms, London 1996, IEA).
Ganz kurz zusammengefasst basiert das Neuseeländische Reformmodell auf folgenden Fragen an die Regierung, welche dann die Lösungen provozierten.

  1. Is it still necessary?
  2. If yes, should it still be done by the government?
  3. If yes, should it be payed by the tax-payer or by the user.

Mit diesen einfachen Fragestellungen wurde ein etatistisches und zentralistisches System reformiert, das kurz vor der Pleite stand. Die Reformen sind noch nicht abgeschlossen und haben auch Rückschläge erlitten. Insgesamt kann man aber von einem Erfolg reden.

Was hat nun aber das neuseeländische Modell mit unserer Fragestellung nach Dezentralisierung und Freiheit zu tun und mit den Erfahrungen der Schweiz?
Der Erfolg war in Neuseeland möglich, weil dieses Land nach britischem Vorbild ziemlich zentralistisch strukturiert ist und zudem ein Regierungssystem hat, bei dem ein radikaler Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition stattfinden kann.

Diese Feststellung führt mich zur These 12, welche gleichzeitig meine Ausführungen zusammenfasst.

These 12:

Dezentrale Strukturen ermöglichen Lernprozesse und bewahren vor gemeinsamen grossen Irrtümern, wenn das Gesamtsystem offen und transparent ist und friedliche Konkurrenz zulässt. Für effiziente und rasch durchgeführte Reformprozesse sind zentrale Strukturen geeigneter, sie tendieren aber dazu, nach jeder Reform wieder zu verdummen und zu verfetten.

Sloganartig könnte man es so sagen: Grosse, tiefgehende Reformen brauchen zentrale Strukturen, kleine dauerhafte Lernprozesse brauchen konkurrierende dezentrale Strukturen. Wer die bestmögliche Kombination erreicht, hat den Weg zur Freiheit und Dezentralisation gefunden. Dieser Weg ist das Ziel.

8. Nachtwächterstaat, Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat – wohin geht der Weg?

Beitrag zum Tiroler Wirtschaftsforum mit dem Thema: «Europas Eröffnungsbilanz für das 21. Jahrhundert», Innsbruck, 7. Oktober 1999

Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates ist kein Thema, das begeistert oder gar beflügelt. Wer spricht schon gern über Steuern und Renten. Wir sind alle irgendwie vom Wohlfahrtsstaat abhängig, von jener Institution die angeblich für alle umfassend sorgt – ausser für die Steuerzahler. Politiker reden nicht gerne darüber, aber die dumpfe Ahnung ist doch vorhanden, dass wir den Wohlfahrtsstaat in Europa, wie er im 2O. Jahrhundert und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert worden ist, nicht linear weiterentwickeln können. Er ist nicht nachhaltig praktizierbar, das heisst, wir leben auf Kosten kommender Generationen und auf Kosten der Natur. Das ist keine «frohe Botschaft», aber eine notwendige.

Steuern haben in der Weltgeschichte eine wichtige Rolle gespielt, oft als Grund, oft als Voraussetzung und – noch öfter – als Begleiterscheinung und Folge von Kriegen. Dem Krieg hat man in der Geschichtsschreibung allzu lange einen Vorrang eingeräumt. Um diesem Eindruck entgegen zu wirken, haben möglicherweise die Veranstalter zwischen die grossen heroischen Themen wie «Technische Zivilisation», Weltwirtschaft und Weltsicherheit auch ein kleines sozial- und finanzpolitisches Intermezzo eingefügt. Das Thema Verteilung und Umverteilung von Wohlstand und das Thema Steuern und Renten ist, wie das Thema Sozial- und Finanzpolitik ein Tummelfeld der Spezialisten, der politischen Taktiker und Techniker, der Populisten und Jongleure, die immer wieder vorrechnen, dass ja alles nur halb so schlimm sei, wenn man nur da und dort etwas einspare und den Umverteilungs- und Besteuerungsmodus etwas verändere.

Es gibt immer noch zu wenige Sozialwissenschafter und Historiker, welche die Auseinandersetzung zwischen innen- und aussenpolitischen Interventionen, das heisst, den Zusammenhang zwischen dem nationalen Welfare-State und dem nationalen Warfare-State grundsätzlich genug analysieren und deuten. Krieg war nur allzu oft auch in diesem Jahrhundert eine Flucht aus den Sackgassen einer verfehlten Innen-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. Eines der wenigen aber für die Zukunft wichtigen Aktiva in der Bilanz dieses Jahrhunderts ist die relativ unblutige Liquidation der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft im ehemaligen Ostblock und die noch nicht ganz abgeschlossene Entkolonisierung des Sowjetrussischen Imperiums. Die labile Balance zwischen Mangel an Wohlstand und Mangel an Kriegsbereitschaft, d.h. zwischen No-Welfare und No-Warfare hat für einmal in der Weltgeschichte positiv gewirkt. Der Wahnsinn einer Vertuschung des ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Debakels durch eine Flucht in den Krieg ist uns erspart geblieben. Allerdings: Solche «Friedensliebe» war wohl nicht ganz freiwillig. Man wollte keinen Krieg, weil er nicht mehr zu gewinnen war. Dies klingt verheissungsvoll. Die Entkolonisierung (die ja noch nicht ganz abgeschlossen ist) hat zwar ihren Blutzoll gefordert (und fordert ihn immer noch), aber dieser hält sich im Vergleich zu den beiden Weltkriegen im Rahmen. Wer in die Geschichte zurückblickt und Optimist bleiben will, muss bescheiden sein und sich auch mit wenigen und nur relativ guten Anzeichen zufrieden geben.

Wie geht es also weiter mit dem Wohlfahrtsstaat? Wohin führt der Weg? Ich werde im Folgenden bezüglich Wohlfahrtsstaat eher in der Rolle des nüchternen und selbstkritischen Beobachters argumentieren und mit kühnen Prognosen und Modellkonstruktionen zurückhalten. Nichts ist einfacher, als von der Kreativität im angekündigten globalen Klimawandel und von der Bewährung in Stürmen zu schwärmen, wenn man im sicheren, bzw. scheinbar sicheren Hafen eines nationalen Wohlfahrtsstaats vor Anker liegt. Der Klein- und Binnenstaat Schweiz figuriert in internationalen wirtschafts- und sozialpolitischen Ranglisten meist unter den «Top-ten». Wer die Tabellen mit unterschiedlichsten Wohlfahrtsbewertungen etwas genauer studiert, entdeckt, dass die Schweiz, in absoluten Zahlen bewertet, meist gut dasteht, aber bei den Trends, beispielsweise beim Wirtschaftswachstum und beim Ansteigen der Staats- und Fiskalquote, mehr Probleme hat als beispielsweise Österreich. Wer reich ist, kann es sich leisten, viele Fehler zu machen, er kann es sich aber nicht leisten, nicht mehr lernen zu wollen. Beim Thema Wohlfahrtsstaat gibt es einen grossen Lernbedarf, und ich bin überzeugt, dass wir diesbezüglich global gesehen am Anfang einer neuen Entwicklung stehen, die nicht einfach linear an sogenannt Altes und Bewährtes anknüpfen kann. Europa wird hier – einmal mehr – nicht das Mass der Dinge sein, sondern auch andere Erfahrungen einbeziehen müssen.

Vor einer Jahrtausendwende ist man an einem so grundsätzlich ausgerichteten Seminar versucht, «mit dem breiten Pinsel zu malen» und die Frage nach der Zukunft nicht allzu zaghaft anzugehen. Wissen wir denn, ob es in absehbarer Zeit überhaupt noch Nationalstaaten geben wird? Ist die Frage nach der Zukunft des Wohlfahrtsstaates nicht zu kleinkariert, zu fest im bisherigen Denken verhaftet? Ich glaube Nein. Die durch das Dezimalsystem unserer Zeitrechnung diktierte, eher zufällige Tatsache dieser Jahrtausendschwelle darf uns nicht dazu verleiten, überall einen «neuen Anfang», bzw. ein «Ende» zu wittern: «Ende der Geschichte», «Ende der Ideologien», «Ende der Familie» und «Ende des Nationalstaats» und «Ende des Wohlfahrtsstaates», – so viel «Ende» war noch nie. Aus meiner Sicht gibt es wenig Anzeichen, das «Ende des Nationalstaates» zu verkünden. Trotzdem bleibt die Parole «Weniger Staat» aus meiner Sicht aktuell, denn, was den Nationalstaat heute gefährdet, ist nicht die Ausrufung seiner Überflüssigkeit, sondern die Schere zwischen den Ansprüchen, die man an ihn stellt und den Mitteln, die man ihm zu deren Erfüllung kollektiv und individuell zugesteht. Wir erleben heute eine Überforderungskrise, eine Frustrationskrise und eine Legitimitätskrise des Nationalstaates, welche durch die «Flucht in den höheren Verband» d.h. nach Europa nur schlecht kaschiert wird.

8.1 Stichwort Nachtwächterstaat

Der Nationalstaat ist historisch nicht aus dem Nachtwächterstaat hervorgegangen, sondern am Anfang stand – mit wenigen Ausnahmen (zu denen die Schweiz zählt) – der Obrigkeitsstaat, der Macht ausübte, Macht bewirtschaftete und – oft zu Lasten Dritter – Macht zu mehren versuchte, eine Obrigkeit, die Sicherheit produzierte bzw. versprach, oft ebenfalls zu Lasten Dritter. Ohne jeden Skrupel intervenierten Fürsten und Regierungen auch in die Wirtschaft und die Gesellschaft und bevormundeten ihre Untertanen mehr oder weniger wohlwollend. Am Anfang stand also der Macht- und Bevormundungsstaat, dies sollten alle jene berücksichtigen, die das Heil des nächsten Jahrhunderts in einer Rückkehr zu einer «guten alten Zeit» erhoffen, «in der das Wünschen noch geholfen hat».

Die Bezeichnung Nachtwächterstaat wurde im 19. Jahrhundert gebräuchlich und war, wie viele politische Begriffe, zunächst polemisch gefärbt. Heute spricht man von «Minimalstaat», wobei das jeweilige Minimum zur Diskussion steht. Die Institution des staatlichen Nachtwächters gehört zweifelsohne nicht zu diesem Minimum! So wandeln sich auch die Vorstellungen über das, was man vom Staat erwartet und fordert selbst bei grundsätzlichen Staatsskeptikern. Die liberale Methode, den Staat nicht einfach vorauszusetzen und hinzunehmen, sondern für jede Staatsaktivität den Nachweis der Not-wendigkeit im ursprünglichen Sinn zu verlangen, ist zunehmend aktuell.

Auch wer den Staat nicht als Feind bezeichnet, sondern als Notwendigkeit, kann methodisch die Beweislast der Unschädlichkeit und Nützlichkeit dem politischen System aufbürden. In diesem Sinn bleibt der Nachtwächterstaat als Ausgangspunkt durchaus zukunftsträchtig, gerade weil er zeigt, wie verzichtbar Institutionen sind, die man auch schon für unverzichtbar gehalten hat.

8.2 Stichwort Sozialstaat

Über die Unterscheidung von «Sozialstaat» und «Wohlfahrtsstaat» gibt es eine grosse Zahl subtiler Abhandlungen. Für viele, vor allem kritisch Eingestellte, sind die Unterschiede höchstens gradueller und terminologischer Art. Ausgangspunkt sind für mich die zwei Fragen: Was heisst «sozial»? und: Wie entsteht «Wohlfahrt»? Dann stellt sich das Problem, ob der Staat als solcher «sozial» sein kann, und ob, – bzw. allenfalls wie – er in der Lage ist, die gemeinsame Wohlfahrt zu fördern.

«Sozial» war ursprünglich ein Gegenbegriff zu «staatlich». «Sozialisten» in diesem ursprünglichen Sinn waren Anti-Etatisten, weil sie an die Gesellschaft glaubten und nicht an den Staat, der mit seinem Zwangsapparat im Dienst der jeweils Mächtigen agiert. «Sozialisten» wären demnach jene, welche gerade nicht an das Primat der Politik glauben, sondern an das friedliche Zusammenwirken von Privatpersonen in der Zivilgesellschaft, an den herrschaftsfreien Tausch von Gütern, Dienstleistungen und Ideen nach dem liberalen Motto «Wo ‘Gewalt’ war, soll ‘Vertrag’ werden». Dieses Motto ist übrigens durch und durch österreichisch. Es mag auf die habsburgische Devise zurückgehen: «Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube», d.h. «Andere mögen Krieg führen, Du, glückliches Österreich, heirate».

Einen ähnlichen Gedanken formuliert Franz Grillparzer in seiner sinnreichen und
diskussionswürdigen Staatsdefinition, für die er bemerkenswerter Weise nur acht Worte benötigte: «Es ist der Staat die Ehe unter Bürgern». Einen andern Beitrag zum Thema hat Sigmund Freud, geleistet, mit seinem berühmten «Wo Es war, soll Ich werden». Damit wird der Weg vom triebgesteuerten Unterbewusstsein (das in der Politik eine grosse Rolle spielt) zum willensgesteuerten Bewusstsein (das in der Politik eine grössere Rolle spielen sollte) markiert. Die bereits erwähnte Maxime, die an Sigmund Freud anknüpft, stammt von einem anderen, wenigstens im Ausland, berühmten Österreicher, von einem Vertreter der «Austrian Economics», nämlich von Ludwig von Mises. Ich wiederhole sie: «Wo ‘Gewalt’ war soll ‘Vertrag’ werden», bzw. «Wo ‘Zwang’ war, soll ‘Vertrag’ werden». Dieser Wegweiser in die privatrechtliche Zivilgesellschaft zeigt auch an der Jahrhundert- und Jahrtausendschwelle in die richtige Richtung. Er eignet sich als sehr sinnvolles, taugliches und wohl auch überparteilich akzeptierbares Motto!

Mit dem Begriff und der Institution «Sozialstaat» habe ich einige Mühe. Wenn man damit meint, der Staat solle besser mit gesellschaftlichen Netzwerken verknüpft werden, würde ich nicht zögern, ihn als «Modell der Zukunft» zu bezeichnen. Der Weg der Zivilisation führt vom öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Zwang in die zivilrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Vereinbarungen. Auch wenn der «Sozialstaat» als ein Resultat konsequent verwirklichter Subsidiarität gesehen würde, hätte ich kein Problem damit. Das Subsidiaritätsprinzip lehnt bekanntlich staatliche Interventionen nicht grundsätzlich ab, sondern verlangt lediglich den Nachweis, dass die privatere bzw. untergeordnete Instanz nicht in der Lage ist, das Problem zu lösen. Es ist der Beweis der Not-wendigkeit zu führen, wenn eine Aufgabe verstaatlicht bzw. zentralisiert wird. Eigenständigkeit muss die Regel, Fürsorge die Ausnahme und staatliche Fürsorge die Ausnahme der Ausnahme sein. Dies ist ein sehr zukunftstaugliches Konzept. Würde es in kleinen politischen Einheiten unterschiedlich praktiziert und bestünde eine Konkurrenz der Experimente, Lösungen und Systeme in Verbindung mit einer geordneten Freiheit der Wahl, so würde ich nicht zögern, ein solches Modell aus Überzeugung als den «Weg in die Zukunft» zu propagieren.

Leider ist der Sprachgebrauch rund um den Sozialstaat unter dem Druck der politischen Polemik und Propaganda und Gegenpropaganda heute ein anderer geworden. Wäre diese Terminologie: «sozial = gesellschaftlich» oder präziser: «sozial = zivilgesellschaftlich» noch gebräuchlich, würde ich nicht zögern, mich als überzeugten Sozialisten bezeichnen. In der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert hat sich aber ein grundlegender Begriffswandel vollzogen, so dass sich heute – zu Recht oder zu Unrecht – die Staats- und Interventionsgläubigen als «Sozialisten» bzw. «Sozialdemokraten» bezeichnen. Sinnvoller, und im Hinblick auf ein neues Jahrhundert zukunftsträchtiger, wäre eine Unterscheidung von wirtschaftsgläubigen Ökonomisten, staatsgläubigen Etatisten und gesellschaftsgläubigen Sozialisten, wobei alle die ihnen zuträgliche Mischung wählen könnten. Der Vorschlag einer solchen Dreiteilung ist nicht ernst gemeint, denn die Politik folgt nicht der ideen- und begriffsgeschichtlichen Logik, sondern jener Polemik, welche der Logik des jeweils aktuellen Machtkampfs dient. So erleben wir heute auch in Europa die Umdeutung des Begriffs «liberal», bzw. dessen Abgleiten in die völlige Beliebigkeit. Wer bezeichnet sich heute nicht alles als «liberal»?

8.3 Stichwort Wohlfahrtsstaat

In den USA sind die «liberals» die aktiven Verfechter des umverteilenden Wohlfahrtsstaats. Wer dort im europäischen Sinn liberal ist, bezeichnet sich als «classical liberal» oder als «libertarian». Auch in Europa besteht die Tendenz einer Geschichtsdeutung, die den Wohlfahrtsstaat als eigentlichen Höhepunkt der Entwicklung dieses Jahrhunderts zu betrachtet. Die politische Agenda des nächsten Jahrhunderts besteht aus dieser europäisch-sozialdemokratischen Sicht in der Konsolidierung und im Weiterausbau dieser Errungenschaften, wobei als einziges noch zu lösendes Problem die Wiederherstellung der Balance bei der Finanzierbarkeit verbleibt. Die «Institution Staat» bzw. «Politik» wird zur reinen Geldfrage. «Wer nimmt und gibt wem wieviel – und vor allem wie»? Und, «Wer bekommt es, aus welchen Gründen?» Das beliebte, aber mit vielfältigen Problemen und Nebenfolgen belastete Problemlösungsverfahren lautet: «Von den Reichen wegnehmen und unter den Armen verteilen.» Zuletzt mündet alles in die von den Politikern so ungern gestellte Frage: «Wer soll das bezahlen?»

So lautet bekanntlich ein deutscher Schlagertext aus diesem Jahrhundert. Er erinnert an eine andere bekannte Melodie aus dem letzten Jahrhundert: Das berühmte «Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist», aus der «Fledermaus» von Johann Strauss. Möglicherweise handelt es sich um den Ursprung der psychoanalytischen Verdrängungstheorie, die auch in der Politik des Wohlfahrtsstaates eine zentrale Rolle spielt. Text und Melodie wurden in der Zeit des Wiener Börsencrashs zum Gassenhauer. In der Weltwirtschaftskrise soll eine derbere Variante im Umlauf gewesen sein: «Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist». Dies dokumentiert den «Fortschritt der Zivilisation» zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Welches Lied den Niedergang des europäischen Wohlfahrtsstaats, des sogenannten «Rheinischen Modells» begleiten wird, wage ich nicht vorauszusagen, hoffentlich weder die «Marseillaise» noch die «Internationale», sondern etwas Gemütvolleres, Versöhnlicheres, möglicherweise aus Österreich Stammendes…Wird es «Brüder reicht die Hand zum Bunde» sein? «Freude schöner Götterfunken» kommt so wenig in Frage wie «Seid umschlungen, Millionen». Die «Schweizer Nationalhymne», die bei uns wenig bekannt und beliebt ist, beginnt mit «Trittst im Morgenrot daher», was wenigstens Hoffnungen anklingen lässt. Das Schweizer, bzw. Emmentaler Lied «Niene geit’s so schön und luschtig, wie bi eus im Ämmital», kommt leider auch nicht in Frage. Seine Melodie wurde auf merkwürdigen Umwegen in Mussolinis Faschistenhymne «Giovinezza» missbraucht…

Doch zurück zum unmusikalischen Ernst. Der Welfare-State, der Wohlfahrtsstaat, hängt nicht nur subtil und labil mit dem Warfare-State, dem kriegsgerüsteten Staat, zusammen, sondern auch mit dem Nationalstaat, dem verschiedentlich das Ende prophezeit wird. Wie kann die eine Institution absterben bzw. sich internationalisieren und die andere florieren, wo doch beide eine so lange und bewegte Partnerschaft hinter sich haben? Das Problem des nationalen Wohlfahrtsstaates ist nicht nur seine prekäre Finanzierungsbasis. Man braucht diesbezüglich nicht unbedingt die Rolle der Kassandra zu spielen und Pessimismus zu verbreiten. Ein grösserer Schub an Wirtschaftswachstum kann auch hoch verschuldete Umlagesysteme – wenigstens auf Zeit – wieder stabilisieren. Aber dies ist eine Art «letzte einzige Chance». Sie hat bei der Sanierung der US-Staatsfinanzen eine erhebliche Rolle gespielt, denn diese sind bekanntlich keineswegs auf der Ausgabenseite «gesundgeschrumpft», sondern durch Wachstum auf der Einnahmenseite als Folge des Wirtschaftswachstums saniert worden. Dass dieses wiederum durch Steuersenkungen mitverursacht wurde, ist allerdings ziemlich unbestritten. Solche Zusammenhänge muss man vor allem jenen linken Schlaumeier-Politikern aufzeigen, welche gleichzeitig gegen das Wirtschaftswachstum polemisieren und mehr Umverteilung durch höhere Besteuerung der Reichen fordern.

Als letztes Überlebensmodell das Wohlfahrtsstaates bleibt in Europa noch die Hoffnung auf das Entstehen bzw. auf die politische Machbarkeit bzw. Erzwingbarkeit einer europäischen Wirtschafts-, Sozial- und Umverteilungsunion. Natürlich kann man Wirtschaftswachstum und Umverteilung auch jenseits des Nationalstaates erhoffen, beispielsweise in kontinentalen Gemeinschaften, welche in der Lage sind, eine konsensfähige, nachhaltig praktizierbare Umverteilungsmaschinerie aufzubauen, durch eine Zentralregierung, welche die hierfür notwendige Solidaritätsbasis neu schafft und immer wieder stabilisiert und durch eine Wirtschaft, die trotzdem global wettbewerbsfähig und produktiv bleiben soll. Dies ist ziemlich viel auf einmal. Ist der europäische Wohlfahrtsstaat im Anmarsch? Ich halte ihn für eine gefährliche Illusion, und zwar aus empirischen und nicht aus ideologischen Gründen.

Wer hofft, er könne mit irgendwelchen Mitteln in einem heterogenen Umfeld diese Solidargemeinschaft durch Gesetze und internationale Verträge erschaffen, als eine Rahmenordnung, die sogar stabiler und nachhaltiger sein soll als die heute nur schlecht oder nicht funktionierenden nationalstaatlichen Solidargemeinschaften, wird möglicherweise bald enttäuscht. Ich sage dies als Schweizer, aufgrund von einigen Erfahrungen im Umgang mit Unterschieden in Sprache, Kultur und Religion und mit 20 Prozent Ausländeranteil in der Wohnbevölkerung. Wir sind nicht die Ungeübtesten im Umgang mit Einschliesslichkeit und Ausschliesslichkeit. Es ist zwar innerhalb unserer nationalen Rentenversicherung gelungen, dass Appenzeller für Genfer und Zürcher für Basler bezahlen, aber eine Vergrösserung solcher Systeme von Sizilien bis Dänemark scheitert an der Konsensknappheit und der knappen Bereitschaft zu grossräumiger umfassender Solidarität. Aber möglicherweise sind ja die Durchschnittseuropäer alle wesentlich solidarischer, weitsichtiger und altruistischer eingestellt als wir notorischen Lokalpatrioten, Kantons- und Nationalegoisten.

Die Solidarität driftet heute nicht in Richtung grössere Gemeinschaften, sondern in den privaten Bereich, als eine Art Kontrapunkt des Subsidiaritätsprinzips. Man mag dies begrüssen oder bedauern, es ist eine Randbedingung, mit welcher im nächsten Jahrhundert wahrscheinlich zu rechnen sein wird. Unsere Wohlfahrtsstaaten, das haben inzwischen auch die Befürworter des Ausbaus gemerkt, brauchen in Verbindung mit dem Mehrheitsprinzip in demokratischen Strukturen aus den erwähnten anthropologischen Gründen eine nationale Komponente. Solidarität ist ihrem Wesen nach gruppenbezogen. Sie ist letztlich nur ein anderes Wort für einen positiv gefärbten Gruppenegoismus. Einmal mehr wird bewusst, wie subtil der Zusammenhang von Demokratie, Wohlfahrtsstaat und Nationalstaat ist, er wird möglicherweise die Parteienlandschaft und das Spektrum der Koalitionen in Europa noch verändern. Die Frage was nun «links» und was «rechts» sei, wird immer schwieriger zu beantworten, Linke wollen Strukturen, und Rechte wollen Werte konservieren und beide beschwören rhetorisch die Notwendigkeit des Wandels. Die grosse gemeinsame Herausforderung, nämlich die gemeinsame oder eben nicht gemeinsame Bewirtschaftung und Bewältigung von Einwanderungsdruck, Einwanderungsbedarf und Xenophobie macht die Sache noch komplizierter. Eines ist gewiss: So lange wir den Wohlfahrtsstaat halten und ausbauen, wird freie Immigration ein unlösbares Problem bleiben.

Der Nationalstaat wurde zunächst hauptsächlich als militärische Abwehrgemeinschaft gegründet. Die wohlfahrtsstaatliche Rentnergemeinschaft kam später hinzu, in einzelnen Nationen sogar als Belohnung und als direkte und notwendige Folge für die Kriegsopfer, welche die früheren, privaten und familiären Säulen der Vorsorge zum Einsturz brachten. Was früher die Fahne, die Hymne, die Uniform und die Vaterlandsliebe war, ist heute die gegenseitige Verschuldung im sogenannten Generationenvertrag der Renten. Verschuldete aller Länder, vereinigt Euch! Aber schaut Euch bitte zunächst um, wer diese Schulden bezahlen wird und wie, bzw. auf wessen Kosten. Die Solidaritätsbereitschaft der Nettozahler wird naturgemäss am schnellsten erodieren, ein Problem, das allen EU-Mitgliedern (und speziell den Österreichern und Deutschen) politisch noch zu schaffen machen wird. Möglicherweise gibt es altruistische Individuen, Familien, Gruppen. Aber gibt es altruistische Nationalstaaten mit altruistischen Rentenzahlern und -empfängern? Ich glaube es aufgrund von historischer Erfahrungen nicht. Es gibt zwar zwischen Nationen einen intelligenten und einen dummen Egoismus; eine kollektive Opferbereitschaft zugunsten Dritter halte ich hingegen für unwahrscheinlich und selten, und ich schäme mich nicht dafür, dass mein Herkunftsland, die Schweiz, hier keine Ausnahme ist.

Der Mythos vom Gemeinsinn und Opfersinn im Staat ist in einer säkularisierten Welt am Verblassen. Wenn ich einen Blick auf die Täter und die Opfer in diesem Jahrhundert werfe, hält sich mein Bedauern in Grenzen. Unser Verhältnis zur politischen Gemeinschaft hat sich im Wohlfahrtsstaat verwirtschaftlicht. Das wirtschaftliche Sein bestimmt unser politisches Bewusstsein. Diese Tatsache muss vor allem jenen klar gemacht werden, welche gleichzeitig den Wohlfahrtsstaat ausbauen wollen und gegen das wirtschaftlich bzw. materiell ausgerichtete Anspruchsdenken wettern. Der wichtigste Impuls zum Konsumismus, zur Vermassung und zur Vereinsamung in der kombinierten Renten- und Marktgesellschaft kam von wohlfahrtsstaatlicher Seite. Ist dies nun alles zwar «gut gewesen», aber «zu teuer geworden»? Liegt der Engpass allein bei den öffentlichen Finanzen? Ist dies die am Ende dieses Jahrhunderts endlich notwendige Entlarvung des «Mythos Staat», die sogenannte «opération vérité» oder der Ausruf des kleinen Jungen in Andersens Märchen? «Der Kaiser ist nackt», bzw. «Der Wohlfahrtsstaat ist Pleite – finanziell, politisch und moralisch!» Vielleicht. Aber taugt dieser Ansatz als Grundlage für die Zukunft der Politik?

Meine Sicht der Dinge ist eine andere. Der zwangsweise umverteilende Wohlfahrtsstaat ist nicht einfach «zu teuer» oder «bankrott». Er ist auf die Dauer nicht in der Lage, politische und soziale Probleme befriedigend zu lösen, d.h. er ist nicht nachhaltig praktizierbar. Ich möchte mich in meiner knappen und daher wertvollen Redezeit nicht mit einigen Analysen, mit mehr oder weniger witzigen Aperçus und einer Anzahl alten und neuen Fragen begnügen, sondern abschliessend einige Thesen vortragen, welche zwar gewiss nicht die definitiven Lösungen bringen, Sie aber alle provozieren sollen, Ihre eigenen Thesen und Antworten zu formulieren.

8.4 Zehn Thesen zur Zukunft des Wohlfahrtsstaates

These 1: Demokratie und Wohlfahrtsstaat sind auf die Dauer nicht miteinander verträglich, wenn sie nicht beide begrenzt und gegeneinander abgegrenzt werden.

These 2: Wird der Wohlfahrtsstaat nach europäischem «Muster» linear weiterentwickelt, so richtet er in absehbarer Zeit sowohl die Wohlfahrt als auch den Staat zugrunde.

These 3: Wer dieses Debakel vermeiden will, muss nach einer Strategie des «geordneten Rückzugs» Ausschau halten. Der Staat muss sich auf sein «Kerngeschäft» besinnen, selbst wenn dabei nicht allzuviel übrig bleiben dürfte. (Dieses Kerngeschäft ist heute nicht mehr der Nachtwächter, es hat aber mit Sicherheitsproduktion zu tun…)

These 4: Das Kerngeschäft des Staates liegt in der Ermöglichung einer Rahmenordnung, die auf Konsens und nicht auf Zwang beruht, einer Ordnung, welche die freie Entfaltung mitmenschlicher Zuwendung ins Zentrum stellt.

These 5: Der Staat kann seinem Wesen nach nicht sozial (im Sinn von mitmenschlich) sein, und es ist unmöglich, soziale Zuwendung von allen Menschen durch die Gesetzgebung zu erzwingen.

These 6: Die Familie muss grundsätzlich selbsttragend sein. Sie bleibt die Versorgungs- und Vorsorgeinstitution für die normalen Not- und Wechselfälle des Lebens. Sozialpolitik muss subsidiär sein.

These 7: Der Staat kann als Umverteiler des Wohlstands den Anspruch der Gerechtigkeit nie befriedigend einlösen. Je höher die Umverteilung ist, desto mehr steigt die allseitige Unzufriedenheit und Staatsverdrossenheit.

These 8: Staatlicher Zwang stört und zerstört jene Bereitschaft, auf welcher Spontaneität, Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit beruhen, die einzigen langfristigen Garanten mitmenschlich sozialen Verhaltens.

These 9: Eine gedeihliche Entwicklung und Förderung mitmenschlich sozialen Verhaltens braucht eine freie Gesellschaft und eine offene Marktwirtschaft, welche auf freiwillig begründeten Beziehungen und Verpflichtungen basiert.

These 10: Die Dienstleistungsgesellschaft beruht auf einem herrschaftsfreien Tausch von wechselseitigem Dienen und Leisten, auf einer kontinuierlichen Verbesserung des Zwischenmenschlichen im aufgeklärten Selbstinteresse.

Mit andern Worten: Gesucht ist ein tragfähiges zivilgesellschaftliches Netzwerk von privatautonomen Verträgen und Vereinbarungen, das den Nationalstaat nicht ganz aufhebt, aber massiv entlastet und redimensioniert. Eine komplexe neue und zusätzliche internationale wohlfahrtsstaatliche Umverteilungsbürokratie soll weitgehend überflüssig werden. Nur ein non-zentrales Netzwerk ist lern- und anpassungsfähig. Es ist zwar nicht in einem metaphysischen Sinn «gerecht», aber es berücksichtigt kontinuierlich das, was die Beteiligten und Betroffenen unter sich «gerecht» finden: eine Art «ad hoc»- und «à la carte – Gerechtigkeit», Interessenausgleich «inter partes», einerseits als Alternative zum Chaos und andererseits als Alternative zu dogmatischen, allgemeinverbindlichen, schwer abänderbaren Zwangsnormen. Während mehr als zwei Jahrhunderten ist weltweit mit mehr oder weniger demokratischen Mitteln für ziemlich abstrakte Ideen gekämpft worden: «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», gemeinsame «öffentliche Interessen», die vom Staat zwangsweise durchgesetzt werden, oft «ohne Rücksicht auf Verluste bei Minderheiten» und mit dem schwammigen Ziel «mehr gemeinsame Wohlfahrt, mehr soziale Gerechtigkeit» zu erzeugen. Das Resultat überzeugt mich nicht, ich plädiere deshalb für bescheidenere und realistischere Ziele.

Die Beschränkung auf einen Zustand relativen Friedens und relativer Gerechtigkeit tönt als sozialpolitisches Jahrhundertprogramm nicht gerade heroisch. Es hebt die Nationalstaaten nicht auf, verkündet kein Ende, aber es reduziert und profaniert ihre Bedeutung und bringt den politischen Kampf um Ideen und Grundsätze in die Nähe ganz simpler zivilgesellschaftlicher Interessenwahrung. Der Sozialstaat beschränkt sich auf gezielte «subsidiäre Subjekthilfe» statt auf das pompöse Programm «Solidarität von allen für alle». Privates kleines Glück anstelle von Grösse, Ehre und nationalem Ruhm auf der durchaus wackeligen Basis von umfassender gemeinsamer wirtschaftlicher Absicherung in einem Sozialprotektorat.

Aber haben uns jene Jahrhundertprogramme, die an bisherigen Zeit- und Epochenschwellen verkündet worden sind, so viel kollektives, öffentliches Glück gebracht? Glück und Wohlfahrt sind möglicherweise eher zu erreichen, wenn die Erwartungen an den Staat massvoll bleiben, und wenn die Anforderungen, die wir an andere stellen, mit jenen im Einklang sind, die wir an uns selbst stellen. Mit andern Worten: Nicht mehr fordern, als man selbst bereit ist zu geben. Dies macht, bei realistischer Einschätzung, von selbst bescheiden und ist möglicherweise ein guter Wegweiser für den Weg in die Zukunft. Auf diesem «Wegweiser» steht Folgendes: Abschied vom Nachtwächter, Abschied vom Wohlfahrtsstaat… Dafür ein an Fakten und Erfahrungen geläutertes und durchaus bescheidenes Bekenntnis zu mehr gesellschaftlicher Verantwortung durch private Verträge und öffentliche Verträglichkeit. In kürzeste Form gebracht heisst dies nichts anderes als: «More ‘High-Touch’». «High-touch», eine vom amerikanischen Trendforscher John Naisbitt in Anlehnung an «High-Tec» geprägte Formel, verweist anschaulich auf Nähe, Berührung und Berührtsein, auf den Nächsten, der uns braucht und den wir brauchen, auf das gegenseitige Aufeinander-angewiesen-Sein, diesseits und jenseits aller organisierten Institutionen.

9. Die soziale Verantwortung der Wirtschaft gegenüber dem Staat

Eine erschöpfende Abhandlung dieses anspruchsvollen Themas könnte etwa nach folgendem Schema erfolgen: Erstens: Was heisst «sozial»?. Zweitens: Was heisst «Verantwortung»? Drittens: Was heisst «soziale Verantwortung»? Viertens: Was ist das Wesentliche an der «Wirtschaft»? Fünftens: Was ist bzw. was soll der Staat, bzw. was soll er nicht? Und sechstens: Wie lassen sich Wirtschaft und Staat unter dem Gesichtspunkt der sozialen Verantwortung sinnvoll abgrenzen? Dass ein solches Projekt nicht in einem kurzen Beitrag verwirklicht werden kann, ist evident. Trotzdem möchte ich nicht auf eine kurze Analyse der Begriffe verzichten.

Alle bezeichnen sich selbst gerne als «sozial», am liebsten dann, wenn damit keine persönlichen Opfer verbunden sind und wenn auf andere verwiesen werden kann, welche sozialer sein müssten, damit die Welt sozialer wäre. Vor allem der Sozialismus baut auf diese Spielart des staatlich verordneten sozialen Verhaltens, das dann irgendwann einmal zur verbesserten «Natur des Menschen» werden soll. Die Formel «je sozialistischer desto sozialer» wird selten hinterfragt und noch seltener empirisch überprüft. Der real existierende Sozialismus hat während jener ein bis zwei Generationen, in denen er in verschiedenen Spielarten praktiziert worden ist, den real existierenden Egoismus eher geschürt als gezähmt. Die durchaus ernüchternde historische Bilanz des Sozialismus bei der Heranbildung sozialerer Menschen wird nur noch überboten durch die ökologischen Defizite von Staatseigentum und Staatswirtschaft.

Am unverfänglichsten ist die Verwendung des Wortes «sozial», wenn damit keine moralische Wertung verbunden ist, sondern wenn einfach angedeutet wird, dass etwas den gesellschaftlichen Bereich oder ganz allgemein gesellschaftliche Aspekte betrifft. Damit ist allerdings wenig Klarheit gewonnen. Das Problem verschiebt sich einfach auf die Ebene der Übersetzung. «Sozial» wird gleichbedeutend mit «gesellschaftlich» bzw. «gesellschaftsbezogen» oder «gesellschaftlich relevant.» Damit wird immerhin jener moralisierende Hinweis auf das Altruistische, auf die Hilfe an Schwache und Bedürftige, eliminiert, Eigenschaften, die sich jene gerne zuschreiben, die sich als «sozial» oder «sozialistisch» bezeichnen, obwohl sie diese Aktivitäten oft auf Kosten Dritter praktizieren und ohne Rücksicht auf deren nachhaltige Praktizierbarkeit. Hilfe, Unterstützung und Fürsorge sind für das Zusammenwirken von verschiedenen Menschen überlebenswichtig, aber die Behauptung, eine soziale Aktivität sei, gleichsam automatisch, schon der Inbegriff des Guten, ist so anmassend wie die historisch und empirisch widerlegte Gleichsetzung von «sozial» und «sozialistisch». «Sozial verantwortlich» handelt ein Unternehmer nicht etwa dann, wenn er auf Gewinne verzichtet oder diese laufend umverteilt, sondern dann, sondern wenn er sein Unternehmen so führt, dass es am Markt gute Überlebens- und Gewinnchancen hat.

Von Margaret Thatcher stammt der Ausspruch «There is no such thing as society», so etwas wie die Gesellschaft gebe es gar nicht. Der Satz trifft höchstens die halbe Wahrheit, aber das ist immerhin ein beachtlicher Prozentsatz, der nicht bei allen Politiker-Sprüchen erreicht wird. So etwas wie die Gesellschaft, als abgeschlossenes und definierbares Ganzes, als handelndes Subjekt, gibt es tatsächlich nicht. So wenig wie die Schweiz, die Frauen, das Volk», die Arbeiter. Trotzdem ist eine Gesellschaft etwas anderes als nur die Summe ihrer Individuen. Das gilt auch für einen Staat, oder für eine Firma. Es gibt eine «Corporate Identity», ein Zusammengehören, das sich auf Gefühle und auf Interessen und rationale Überlegungen stützt, oft in unentwirrbarer Mischung. Ökonomen nennen dieses Art des Gemeinsinns heute «Sozialkapital», die Politologen reden von «Solidargemeinschaft» oder «Grundkonsens» die Verhaltensforscher von «Face-to-face- Loyalität». Damit ist die gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft in Gruppen gemeint, die sich von Angesicht zu Angesicht begegnen. Diese Spielart des Altruismus hat sich nach Meinung der Verhaltensforscher im Lauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte als die intelligenteste Form des Egoismus erwiesen. Umstritten ist allerdings die Frage, wie gross und wie komplex eine solche Gruppe sein kann bzw. sein soll, damit eine solche «Programmierung» noch spielt.

1. Sozial ist ein gesellschaftsbezogenes Verhalten, welches als intelligente und langfristig angelegte Form des Egoismus letztlich sowohl dem Individuum als auch der Gemeinschaft dienlich ist.

Zum Begriff «Verantwortung» und «soziale Verantwortung» mögen ein paar wenige kritische Hinweise genügen. Es gibt kaum einen Begriff, mit dem man verantwortungsloser umgeht. Allgemein beliebt ist das gegenseitige «Verantwortlich-Machen», wie man das «Schwarz-Peter-Spiel» mit der Verantwortung bezeichnen könnte. Eine weit verbreitete Abwehrstrategie benützt die häufige aber nicht gerade Sympathie erweckende Floskel: «Das ist echt nicht mein Problem». Dieser Gemeinplatz wird offenbar in jenen Seminaren vermittelt, in denen man den Kunden gegen Entgelt wieder zum «gesunden Egoismus» verhelfen möchte. Soziale Verantwortung wird dadurch nicht gefördert

Ich meine dass in jeder Gemeinschaft irgendwo in der Mitte auch ein «Verantwortungshaufen» liegt, den es zu verteilen gilt. Das «Prinzip Verantwortung» funktioniert um so besser, je mehr Menschen bereit sind, sich jenes Stück, das sie tragen möchten, selbst auszusuchen. Wer mehr tragen kann, soll auch mehr übernehmen, aber, bitte, wenn möglich ohne äussern Zwang. Der staatliche Zwang kommt erst ins Spiel, wenn nach der «Freiwilligenrunde» der Verantwortungsverteilung noch etwas übrig bleibt. Wenn dies allzu viel ist, so steht es schlecht um die Sozialbilanz dieser Gruppe, bzw. dieser Gemeinschaft. Mit Zwang kann man noch einiges korrigieren. Nur hat der Zwang zur Verantwortung die fatale Folge, dass er die Bereitschaft zur freiwilligen Übernahme verringert. Wer Verantwortung erzwingt, bewirkt einen Teufelskreis von immer mehr äusserem Zwang und immer weniger innerer Bereitschaft.

2. Soziale Verantwortung kann weder gegenseitig verordnet noch allgemeinverbindlich erzwungen werden. Sie entsteht aus der freiwilligen Übernahme aufgrund von Verträgen und aus der spontanen Bereitschaft unter Betroffenen und Beteiligten, die ihr intelligentes Eigeninteresse wahrnehmen.

Zu Recht stellt sich die Frage: Und was, wenn dies nicht der Fall ist? Es gibt kein Patentrezept für die Vermehrung des stets knapp vorhandenen sozialen Verantwortungsbewusstseins. Zwang kann höchstens eine Notlösung, eine temporäre Überbrückung sein. Letztlich kommt es darauf an, einen Staat, eine Wirtschaft, eine Gesellschaft so zu organisieren, dass es für eine grosse Mehrheit attraktiv ist, sich an den gemeinsamen Kosten und Nutzen zu beteiligen, und dass Trittbrettfahrer und Schmarotzer (die es immer geben wird) sich selbst diskreditieren oder schliesslich von der Mehrheit einfach als unerfreuliche Nebenerscheinung, gewissermassen als «Systempreis», toleriert werden.

Eine erfolgversprechende Lösungsvariante besteht darin, den gemeinsamen Haufen der gemeinsamen Verantwortung nicht allzu gross aufzutürmen, oder in kleineren Subsystemen aufzuteilen. Wer sich für alles Übel in der Welt verantwortlich fühlt, und wer diesbezüglich von Dritten immer wieder als «schuldig» hingestellt wird, resigniert schliesslich. Wer für alles verantwortlich gemacht wird, fühlt sich schliesslich für nichts mehr verantwortlich. Vermutlich hat jede gesellschaftliche und wirtschaftliche Aktivität ihr eigenes Optimum für die Verantwortungsteilung, und die Bereitschaften und Verweigerungen überlappen sich vielfältig, was schliesslich ein Vorteil ist und kein Nachteil.

Wir befinden uns heute im Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft. Dieser Systemwandel fordert neue Fähigkeiten heraus (Bedarf an Humankapital) und zehrt am vorhandenen Gemeinsinn (den man heute auch Sozialkapital nennt). Es entsteht auch ein grosser Bedarf an Forschung, Umschulung und Weiterbildung und an Unterstützung für die Ausgesteuerten. Von zentraler Bedeutung ist auch die Gründung neuer kleinerer und mittlerer Unternehmungen im Dienstleistungsbereich, wodurch neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen. Alle diese Aufgaben, nämlich die Kosten des Systemwechsels, lokalisiere ich im erwähnten «Verantwortungshaufen», den es unter den Beteiligten und Betroffenen zu verteilen gibt.

Die bequemste aber schlechteste Lösung würde darin bestehen, dass man den Staat für den ganzen «Haufen», für sämtliche Kosten des Systemwandels, etwa für Arbeitsbeschaffung, Forschung, Umschulung und soziale Überbrückungshilfen usw. voll haften lässt, und die Wirtschaft einfach über zusätzliche Steuern zur Kasse bittet. Damit wären die Kosten des Wandels und die Verantwortung für deren Verteilung und Umverteilung verstaatlicht und die Nutzen könnten zunächst ungeschmälert an die Share-holders gehen, die dann lediglich noch ihr Problem der mehr oder weniger legalen Steuerverweigerung zu lösen hätten, mit andern Worten: Problemverlagerung statt Problemlösung, ein allseits gern praktiziertes politisches und wirtschaftliches Verhaltensmuster, das bisher nirgends nachhaltigen Erfolg hatte.

Die Unternehmer stehen vor der Herausforderung, sich am «Verantwortungshaufen» möglichst aktiv zu beteiligen, damit die Probleme über Investitionen und Innovationen und nicht über Steuern und Subventionen gelöst werden. Das heisst: Sowohl die Probleme im ganzen Bildungs-, Forschungs- und Entwicklungsbereich (die Mehrung des Humankapitals) als auch im zentralen Bereich der Sozialpolitik (die Mehrung des Sozialkapitals) sind vermehrt direkt durch die Wirtschaft und ohne Umweg über den Staat zu lösen. Dies bedingt ein Umdenken und Umlernen bei allen Beteiligten und Betroffenen.

Die Gesellschaft hat eine Schlüsselfunktion. Der Kreis des terminologischen Exkurses schliesst sich. Wir sind wieder beim Wort «sozial», das ganz neutral mit «gesellschaftsbezogen» gleichgesetzt werden kann. Aber auch hier taucht – neben Thatchers berechtigter Kritik – noch eine weitere terminologische Schwierigkeit auf.

«Gesellschaft» als Begriff, wird im weiteren und im engeren Sinn gebraucht. Einmal kann man mit «Gesellschaft» das Ganze bezeichnen, Staat, Wirtschaft und Kultur. Man kann aber auch differenzieren. Eine klare Trennung von Staat und Gesellschaft, von Staat und Wirtschaft, kommt schliesslich beiden Bereichen zugute. Während ich an der Grenze von «Wirtschaft» und «Gesellschaft» für Offenheit plädierte, habe ich gute Gründe, «Staat» und «Gesellschaft» gegenseitig klar abzugrenzen. Wer diese Grenze nicht beachtet, hat schliesslich Mühe, die sozialen Aufgaben, die soziale Verantwortung noch von dem abzugrenzen, was in einem Staat obligatorisch vorgeschrieben wird. Wer «sozial» mit «staatlich» gleichsetzt, läuft Gefahr, in den Totalitarismus abzugleiten. Unvermittelt verwandelt sich alles zu einem «Dienst nach Vorschrift», und nichts reizt bekanntlich mehr zum Übertreten, als ein Überschuss an moralisierenden Vorschriften.

3. Der eigentliche Engpass für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben liegt bei der «sozialen Verantwortung». Sie ist ein knappes Gut, nicht nur auf der Unternehmerseite, sondern bei allen Beteiligten und Betroffenen.

Man unterscheidet heute drei Arten des Kapitals: Sachkapital, Humankapital und Sozialkapital. Letzteres ist besonders knapp und bildet heute einen entscheidenden Engpass. Ich sehe wenig Ansätze, wie nun dieses knappe Sozialkapital schnell und wirksam zu erhöhen wäre.

Wie produziert man Konsens, Gemeinsinn, «soziales Verantwortungsbewusstsein»? Wo und wie wird es gespeichert und vermehrt? Wohl am ehesten in den kleinen Gemeinschaften, in denen man erleben kann, dass sich Rücksichtnahme, Opferbereitschaft, Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft lohnen. Genügt dies? Möglicherweise ist das, was ich den Verantwortungshaufen genannt habe, so etwas wie eine Verschuldung gegenüber dem Sozialkapital. Der Verantwortungshaufen darf als Passivposten nirgends zu gross sein, und der Teufelskreis des Zwanges darf bei der Verteilung nur in Ausnahmefällen und nur befristet beschritten werden.

Nach diesen durch Thesen unterbrochenen Begriffsanalysen schliesse ich mit einem optimistischen Ausblick. Man hört immer wieder die Vermutung, dass die gegenwärtige Entwicklung der Wirtschaft in den Menschen die Brutalität, die Rücksichtslosigkeit und den krassen Egoismus fördere. Ich teile diese Auffassung nicht. Und dies ist meine sechste und letzte These:

4. Unsere Industriegesellschaft wandelt sich zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Wer erfolgreich Dienste leisten will, muss die Fähigkeit haben, sich in die Bedürfnisse seiner Kunden und Klienten einzufühlen, je intensiver, desto besser. So wird ausgerechnet die Fähigkeit zur Sympathie auch zu einer ökonomischen Schlüsselqualifikation und zum Kriterium für wirtschaftlichen Erfolg.

Das «Sozialkapital» wird so auch zu einem Aktivposten, der nicht zu Lasten des Humankapitals und des Sachkapitals vermehrt wird, im Gegenteil. Sympathie zahlt sich aus, auch ökonomisch. Dies ist vor allem auch für Frauen eine frohe Botschaft. Je mehr die Fähigkeit des Einfühlungsvermögens wirtschaftlich zählt, desto mehr bekommen die diesbezüglich nicht besonders begabten Männer ein Gleichberechtigungsproblem. Eine fortschreitende Entwicklung von der Arbeit an der Maschine zur persönlichen Dienstleistung, zur Beratung, Forschung, Pflege, Bildung und Unterhaltung wird jene Kräfte im Menschen beanspruchen und fördern, für welche «soziale Verantwortung» keine Bremse, sondern ein Motor ist.

Von Nietzsche stammt der Ausspruch «Die Ökonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten». Nietzsche ist immer ernst zu nehmen, aber man muss auch den Mut haben, ihm zu widersprechen, denn er selbst tut dies auch immer wieder… Sein Aphorismus stammt aus einer Zeit, in welcher die Industriegesellschaft gerade ihre harte Durststrecke durchzustehen hatte. An einem andern Ort finden wir bei ihm den schönen Satz: «Bosheit ist selten». Er ist im Hinblick auf eine Dienstleistungsgesellschaft tröstlich. Er entspricht auch meinen bisherigen persönlichen Erfahrungen. Die meisten sozialen Fehlleistungen entstehen nicht aus Bosheit sondern aus Dummheit, Gedankenlosigkeit und Kurzsichtigkeit, und – was ganz wichtig ist – aus Systemmängeln, d.h. als ungewollte Nebenfolge von meist «gut gemeinten» Normierungs-, Organisations- und Interventionsprogrammen politischer Weltverbesserer. Wenn es also aus der Sicht der staatlichen Gemeinschaft einen sinnvollen Appell an die Verantwortlichen der Wirtschaft gibt, so lautet dieser nicht: «Seid sozialer!», sondern: «Seid besonnener, denkt langfristiger, nehmt Eure Interessen sorgfältiger und intelligenter wahr!».
Es lohnt sich.

10. Neidgesellschaft und Umverteilungsstaat im Vormarsch

Der Wohlfahrtsstaat steckt in Europa in einer schleichenden Krise, und zwar in allen seinen Spielarten und «Submodellen». Trotzdem erfreut er sich einer ungebrochenen und tendenziell zunehmende Popularität. Seine Finanzierung ist auf die Dauer zwar nirgends gesichert, aber wer darauf aufmerksam macht, stört den kollektiven Verdrängungsprozess und wird als Spielverderber angesehen. Immerhin sind auch linke Politiker, die noch vor kurzen den Ausbau des Wohlfahrtsstaates – im Sinn der «Vollendung» des Prinzips der «sozialen Gerechtigkeit» – propagierten, inzwischen auf den Begriff des Umbaus eingeschwenkt, wobei sich noch niemand festlegen will, was bei diesem Umbau beibehalten werden soll, und was geändert werden muss. Die zentrale Frage, wer was und wieviel bezahlen soll, bleibt nach wie vor offen, denn wer hier Klarheit schafft, riskiert den Verlust von Wähleranteilen.

Immer mehr Bürgerinnen und Bürger empfinden Politik als «absurdes Theater». Die Erosion des Vertrauens und der nationalen Solidarität ist in vollem Gange. Der politische Kredit eines Systems ist eben letztlich von seinem ökonomischen Erfolg und von seinem diesbezüglichen «Deckungsgrad» nicht zu trennen. Wenn in einer «Eidgenossenschaft» die nationale «Genossenschaft» mehr ausgibt als sie einnimmt, so nützt auch der Appell an den nationalen Eid nicht mehr viel. Die Systeme werden – mit oder ohne Absicht – immer undurchschaubarer und komplexer, und niemand weiss eigentlich so genau, wer seine Hände in wessen Taschen steckt und wessen Hände in seiner Tasche stecken. Und wer weiss noch bei wem und wie hoch er aufgrund der defizitären wohlfahrtsstaatlichen Megamaschinerie verschuldet ist? Es ist auch für den gut informierten Staatsbürger der Mittelklasse nicht einfach herauszufinden, ob er – per Saldo – im Umverteilungsprozess zur Gruppe der Zahler oder der Empfänger gehört, und ob und inwiefern er das Gemeinwesen alimentiert oder auf dessen Kosten lebt. Der grosse französische Liberale Frédéric Bastiat hat den Nagel auf den Kopf getroffen als er schon vor 150 Jahren den Staat als die «grosse Illusion bezeichnete, aufgrund welcher jeder darnach trachte auf Kosten des andern zu leben».

Die Linke erringt ihre Erfolge durch ihren rhetorischen Ruf nach Veränderung. «We need a change!» ist nicht nur ein wirksames sondern auch ein aktuelles und richtiges Motto. Die Bevölkerung in Westeuropa spürt instinktiv, dass die bisherige Politik in Sackgassen mündet und dass wir vor einem grossen technisch-zivilisatorisch bedingten Veränderungsbedarf stehen, der grundlegende wirtschaftlich-politische Folgen haben muss. Dass sich ausgerechnet jene politischen Gruppierungen zur Avantgarde emporstilisieren, welche den Reformstau massgeblich mitverursacht haben, weil sie die Dynamik der marktwirtschaftlichen Innovation und die hoch komplexen – gelegentlich auch schmerzhaften – spontanen Prozesse der Adaptation und des «Lernens ohne Lehrer» auf offenen Märkten durch einen wirtschafts- und sozialpolitischen Machbarkeitswahn und durch das uneinlösbare Versprechen der Gleichmacherei gebremst haben, gehört zu den Paradoxien der Parteienkonkurrenz. Jede politische Partei tendiert dazu, die Erfolgsrezepte der Konkurrenten (oder das was man dafür hält) zu kopieren und ins eigene Programm zu integrieren. Das haben die bürgerlichen Parteien mit den populären Komponenten der Wohlfahrtsstaatler in den letzten Jahrzehnten ebenfalls praktiziert, und dies ist auch der Grund für ihre Mitverantwortung am Reformstau.

Die Paradoxie des Vormarschs sozialdemokratischer Parteien besteht darin, dass die professionellen Propagandisten den progressiven Mut zur Veränderung und zum Aufbruch ansprechen und gleichzeitig dem konservativen Reflex der Angst vor dem Neuen Rechnung tragen, indem breiten Schichten die Weiterführung oder gar der Ausbau der bisherigen sozialstaatlichen Sicherungsnetze versprochen wird – vermutlich wider besseres Wissen der Parteieliten.

Während Engpässe mit konservativen Mottos wie «Kopf hoch- und auf die Zähne beissen», «den Gürtel enger schnallen», «more of the same – noch etwas mehr vom selben» gemeistert werden könnten, verlangt der Ausweg aus einer Sackgasse eine Strategie der Umkehr, eine Strategie des «geordneten Rückzugs» aus einem Fehlverhalten – oder – noch drastischer formuliert – eine Entziehungskur von der Sucht des Wohlfahrtsstaates.

Was ist denn der «suchterzeugende Stoff», was ist die «Droge» des Wohlfahrtsstaates? Wohlfahrt als solche kann es nicht sein, und auch nicht der materielle Wohlstand. Ich lehne die weit verbreitete konservative und kulturpessimistische These ab, dass Wohlstand notwendigerweise zu Sittenzerfall und zur unbezähmbaren «Gier nach mehr» führt.

Die gesellschaftszerstörende Droge ist die vom Neid angetriebene Gleichmacherei, die fehlende Bereitschaft, den Unterschied zwischen «reich» und «arm» zu akzeptieren. Das suchterzeugende Medikament heisst Umverteilung, und es müsste konsequenterweise nicht vom «Wohlfahrtsstaat» die Rede sein, sondern vom Umverteilungsstaat, bzw. vom Neidstaat. Die sogenannte «Schere zwischen arm und reich» ist ein vielbeschworenes Problem das mit dem politischen Slogan «Die Reichen werden immer reicher und die Armen werden immer ärmer» zum Ausdruck gebracht wird.

Möglicherweise ist die erwähnte «Schere» eine notwendige Begleiterscheinung oder gar eine Voraussetzung für den grundlegenden technisch-zivilisatorischen Wandel, der sich eben – künftige Entwicklungen vorwegnehmend – zunächst auf den Finanzmärkten abspielt. Unmittelbar und personenbezogen wahrgenommen werden vor allem die grossen Gewinne, während die grossen Verluste nur mittelbar in Erscheinung treten.

Was in der Öffentlichkeit ebenfalls zu wenig kommuniziert wird, ist die Tatsache, dass die sogenannte «Verarmung der Ärmeren» nur in Relation zu einem allgemein gestiegenen Lebensstandard feststellbar ist. Verglichen mit den Armen früherer Zeiten und anderer Weltgegenden, sind die heutigen Armen in Europas Wohlfahrtsstaaten wirtschaftlich gut dran. Die Schere hat sich also möglicherweise geöffnet, aber auch der Lebensstandard der Ärmsten ist gestiegen und zwar nicht trotz der Öffnung der Schere, sondern wegen dieser Öffnung.

Die linke Politik konzentriert sich auf die Verteilungs- bzw. Umverteilungsfrage. Sie schürt den Neid und kümmert sich zu wenig um die Produktivität und um die Produktivitätssteigerung, welche den Fundus speist, der verteilt bzw. umverteilt werden soll. Das populistische Rezept «Schicken wir doch die Rechnung den Reichen bzw. den Wohlhabenden» – oder , ohne es zu definieren, den «andern» scheint sich, wenigstens als Wahlprogramm, zu bewähren. In der Zwischenzeit, bis das Problem dann durch irgend ein Wunder gelöst sein wird, behilft man sich mit Verschuldung, garniert mit einem bisschen Steuererhöhung, etwas Protektionismus und mit Interventionismus à la carte.

Das Paradox des Wohlfahrtsstaates besteht darin, dass er nicht nachhaltig praktizierbar ist und somit früher oder später sowohl die Wohlfahrt als auch den demokratischen Staat zugrunde richtet.

Die Probleme der Schweiz mit der Umverteilung und der Finanzierung des Wohlfahrtsstaats manifestieren sich auf einem hohen Niveau des Lebensstandards. Dies erleichtert ihre Lösbarkeit nicht. Wir sind sozial abgesichert, verwöhnt und wenig flexibel. Dies ist im Hinblick auf die Bereitschaft zum Umdenken und Umstellen auf neue Technologien und auf globale Herausforderungen mehr als nur ein Handicap. Der Reiche (auch der reiche Staat) kann sich ein ökonomisches Fehlverhalten länger leisten als der Arme, er wird später aber um so härter getroffen. Unser Haupttrumpf ist und bleibt die Kleinheit in Verbindung mit Vielfalt: die Konkurrenz der Gebietskörperschaften, welche die politisch-adminstrativen Systeme unter Leistungsdruck setzt und durch Vergleichsmöglichkeiten Transparenz schafft und erhöht. Nicht zu unterschätzen ist auch die legale und zu Unrecht kritisierte dauernde und auch kleinräumig und innerstaatlich offen stehende Möglichkeit der Verlegung des Wohn- und Geschäfts- und Steuerdomizils, die «Abstimmung mit den Füssen», die durch keine «Berliner-Mauer» verhindert wird.

Die Kombination von unbegrenzter repräsentativer Demokratie und Wohlfahrtsstaat ist auf die Dauer verheerend. Eine Mehrheit von Nutzniessern versucht das staatliche Leistungs- und Versorgungsangebot zu ihren Gunsten auszuweiten und die Bezahlung einer hoch und progressiv besteuerten Minderheit anzulasten. Beide Rezepte sind fast grenzenlos populär. Umverteilungsfreundliche Volksbeglücker werden nicht müde, die «Reichen» und «Besserverdienenden» anzuprangern und die an den Neid appellierende problematische These zu verbreiten, die Armen seien arm weil die Reichen reich seien. Es gehe nun darum, durch Umverteilung den Grund des Neides zu beseitigen, da es unter «Gleicheren» weniger Neid und mehr Solidarität gebe. Dadurch wird der Solidaritätsbegriff verfälscht und missbraucht. Echte Solidarität basiert auf einer sozialen Praxis Gleichgesinnter und kann nicht durch umverteilende Sozialgesetzgebung erzwungen werden. «Solidarität auf Rechnung Dritter» gibt es nicht und trotzdem feiert man damit Wahlerfolge. Die derart fremdbestimmte und massiv steuerbelastete Minderheit der finanziell Leistungsfähigen kann sich letztlich nur noch durch Steuerwiderstand zur Wehr setzen oder absetzen, was sie dem Bannfluch des Publikums aussetzt, welches seinen Neidgefühlen freien Lauf lässt und darin von den Massenmedien lauthals unterstützt wird. Das Gegenmittel ist ein direktdemokratisches Bremssystem in Verbindung mit konkurrierenden Steuersubjekten, welche die Transparenz von Staatsaufgaben, Staatsausgaben und Staatseinnahmen herstellen und die Überwälzung von Kosten auf wohlhabende Minderheiten und auf die nächste Generation institutionell einschränken. Die Formel könnte lauten: Kleiner Staatsapparat, limitierte und transparente Staatsaufgaben, limitierte Steuern und ein limitierter politischer Zugriff auf Freiheit und Eigentum. Die Schweiz hat damit – vor allem im letzten Jahrhundert – gute Erfahrungen gemacht. Wir sind allerdings leider kontinuierlich daran, die unbestreitbaren Vorzüge eines solchen Systems durch weitere Zentralisierung und Bürokratisierung und durch die Alimentierung einer riesigen Maschinerie der Intervention, der Kontrolle und der Umverteilung zu beeinträchtigen.

Was uns von Sozialdemokraten, Interventionisten, Egalitaristen und Umverteilungs-Etatisten aller Parteien als «Modernisierung mit sozialem Antlitz» angeboten wird, ist – längerfristig gesehen – nichts anderes als der weitere Vormarsch in eine Sackgasse. Dadurch gelingt es einer von diesem Fehlsystem gut alimentierten Gruppe von Politikern und Bürokraten die wahren Zusammenhänge zu vertuschen und die Tatsache der leeren Kassen propagandistisch zu verdrängen. Die Einsicht ist schmerzlich, aber zutiefst notwendig: Eine Gesellschaft muss auf dem Grundsatz der selbsttragenden Kosten- und Nutzenteilung basieren. Staatliche Hilfe und Unterstützung durch zwingende Umverteilung muss die begründete Ausnahme und nicht die allgemeine Regel sein. Die Folge davon ist ein gewisses Mass an Ungleichheit. Dies stimmt möglicherweise weder mit dem Postulat nach «sozialer Gerechtigkeit» noch mit der ethischen Forderung überein, dass «einer des andern Last» trage, aber es entspricht jenem «ethischen Minimum», das in einer grössern politischen Gemeinschaft auf die Dauer ohne totalitäre Mittel erzwingbar ist. Ein sozialpolitischer Selbstbedienungsladen mit dem Motto «Schicken Sie die Rechnung den Reichen – sie werden bezahlen, weil ihnen an der Erhaltung des sozialen Friedens liegt» kann auf die Dauer nicht funktionieren. Unbegrenzte Wünsche kollidieren früher oder später mit begrenzten Bereitschaften. Die Frage, ob diese Abgrenzung nun «gerecht» oder «fair» sei, lässt sich auf dem Hintergrund tatsächlicher und empirisch erhärteter Verhaltensweisen nicht beantworten, denn ein gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches System basiert auf Menschen wie sie sind und nicht wie sie – nach irgendwelchen übergeordneten Idealen – sein sollten. Der Steuerwiderstand der hoch Besteuerten ist eine normale und sogar weitgehend berechenbare Reaktion, und es gibt international genügend Beispiele für die Tatsache, dass die Steuerschraube nicht unbegrenzt und ohne nachteilige Folgen für Volkswirtschaft und Staatsfinanzen angezogen werden kann. Sobald eine auf öffentliche Mittel angewiesene Mehrheit ökonomisch über ein umverteilendes Steuersystem von einer produzierenden und hoch besteuerten Minderheit abhängig ist und das Gesamtsystem von einer politischen Klasse gesteuert wird, welche von diesem Prozess lebt und den Neid polit-ökonomisch bewirtschaftet, ist das Mehrheitsprinzip korrumpiert und zum Untergang verurteilt. Das hohe Degenerationspotential einer Gefälligkeitsdemokratie ist übrigens bereits in der antiken Staatsformenlehre (unter andern von Aristoteles) entdeckt und analysiert worden.

Der politische Prozess sollte in einer Demokratie ein dauernder Wettbewerb sein um die Kontrolle der Regierungsmacht und um ihre scharfe Beobachtung beim sparsamen Einsatz von Steuergeldern. Dies ist auf die Dauer nur möglich, wenn eine Mehrheit ein eigenes Interesse am wirtschaftlichen Einsatz öffentlicher Mittel hat, weil sie in vergleichbarer Weise mitbeteiligt und mitbetroffen ist. Andere Systeme, in welchen dauernd und zunehmend Minderheiten bezahlen und Mehrheiten (als Klienten und als Funktionäre) profitieren, sind – unabhängig von ihrer Abstützung auf irgendwelche «höhere Gerechtigkeit» – letztlich auf die dauernde Vertuschung von Fakten und auf einen zunehmenden Propagandaaufwand angewiesen. Politik wird zu einem inszenierten Infotainment jener Gruppen, die davon profitieren und die den Prozess durch «Brot und Spiele» in Gang halten. Eine volkswirtschaftliche Produktivität ist damit nicht verbunden. Dies ist auch der Grund, warum solche Systeme letztlich am Prinzip der Nachhaltigkeit scheitern. Nur kann dieser Prozess des Scheiterns lange dauern von allen Betroffenen und Beteiligten einen hohen – einen zu hohen – Preis fordern.

11. Mehr liberales Selbstbewusstsein

Ein politisches Programm, das Offenheit, Vielfalt und Privatautonomie ins Zentrum stellt und einem limitierten Staat limitierte Mittel zur Verfügung stellt, damit die Menschen ihre individuellen und sozialen Bedürfnisse möglichst ohne politischen Zwang erfüllen können, ist weder anti-sozial noch anti-ökologisch noch anti-demokratisch. Der Markt als eine Problemlösungsstrategie, die auf Spontaneität, Non-zentralität und selbstgesteuerte Lernprozesse baut, gewinnt in hochkomplexen Systemen an Bedeutung und Verträge und Vertragsgemeinschaften sind die flexible Alternative zu immer weniger tauglichen allgemeinverbindlichen Verhaltensvorschriften, welche einen hohen Kontrollbedarf und in der Folge einen Vollzugsnotstand und einen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Niedergang bewirken.

Der umverteilende Wohlfahrtsstaat hat spätestens dort seine Grenzen überschritten, wo er eine Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern zu Bedürftigen und abhängigen Staatsklienten macht und zu Lasten einer Minderheit von Leistenden und Hochbesteuerten versorgt und korrumpiert und damit das Funktionieren der Demokratie in Frage stellt. Der Liberalismus steht am Ende, sondern in der Startphase seines entscheidenden Beitrags zur Lösung gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Probleme.

Immer wieder trifft man Menschen, die sich als «liberal» bezeichnen und dann entschuldigend zufügen, sie seien «auch liberal» – aber selbstverständlich trotzdem auch «sozial-denkend» und «mitfühlend» bzw. «ökologisch sensibel». Am meisten stört mich an diesen Selbsteinstufungen im politischen Spektrum nicht die Sehnsucht nach dem «Auch-Liberalen», nach dem «Sowohl-als-auch» in der Mitte. Am meisten stört mich das «trotzdem». Es zeigt, wie weit verbreitet das mangelnde soziale Selbstbewusstsein im liberalen Lager ist, und wie erfolgreich die Verunsicherung von den Widersachern in den letzten 15O Jahren gewirkt hat. Die Liberalen zweifeln selbst daran, ob ihre Ideen denn wirklich auch im Dienst des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts für alle stehen, oder ob sie eben doch nur für eine Gruppe von Privilegierten von Bedeutung seien. Solche Zweifel führen oft zu einer eigentlichen Angst vor dem kompromisslosen Bekenntnis zum Risiko der Freiheit und zu einem Zaudern gegenüber der eigenen Überzeugung. Schuld daran sind die Vorurteile, die auf Fehlinformationen und auf einseitig vermittelten Geschichtskenntnissen beruhen. Es grassiert immer noch die Irrlehre von einem antisozialen «wilden Frühkapitalismus», der erst durch die sozialistischen Ideen «gezähmt» worden sei. Die linke und die rechte Liberalismuskritik hat es offenbar fertiggebracht, die liberalen Selbstzweifel derart anzuheizen, dass Liberale häufig nur noch defensiv argumentieren und die falschen und irreführenden Fragestellungen nicht zurückweisen. Dabei gäbe es genügend Gründe und empirische Befunde, welche die liberale Überzeugung stützen, dass das Soziale, Ökologische, Innovative, Kulturelle usw. nicht «trotz» sondern «wegen» liberalen . marktwirtschaftlichen Strukturen und Mentalitäten bestmögliche Chancen hat. Eine Öffnung ist auch für überzeugte Liberale angezeigt, aber nicht eine Öffnung gegenüber linken und rechten Widersachern, sondern eine Öffnung gegenüber dem eigenen zukunftsträchtigen Gedankengut: Mehr mut zur liberalen Grundsatztreue, zur marktwirtschaftlichen Konsequenz und zur privatautonomen Radikalität im besten Sinn. Es geht um jene Freiheit, welche die persönliche Bereitschaft fördert, Verantwortung zu übernehmen, und nur jene Verantwortung, die in Freiheit übernommen wird, hat die Kraft nachhaltig zu überdauern, zu wachsen und sich von Generation zu Generation an neue Herausforderungen zu adaptieren. Wem das Soziale, Ökologische und Kulturelle, wem das Langfristige und Dauerhafte ein Anliegen ist, der sollte nicht «trotzdem» sondern gerade «deswegen» ein überzeugter Liberaler sein.

12. Unterwegs zum Liberalismus des 21. Jahrhunderts

Wirtschaftsliberalismus – Basis oder Ballast?

1. Vielfalt, Offenheit, Freiwilligkeit – ein menschheitsgeschichtliches Erbe

Wer als Liberaler die Idee der Privatautonomie und des Marktes ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, wird sich folgerichtig auch für die Prinzipien der Vielfalt, der Offenheit und der Freiwilligkeit einsetzen, welche Voraussetzung und Folge funktionierender freier Tauschbeziehungen sind. Diese Prinzipien sind nicht ein historisches Erbe der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts. Sie haben neben dem ideengeschichtlichen Fundament, das sich in Jahrhunderten bildet, auch ein menschheitsgeschichtliches Fundament, das in Jahrtausenden entstanden ist. Auch wenn man die Konstellation einer Jahrhundert- und Jahrtausendwende nicht überschätzen sollte, so bietet dieses Zusammenfallen von Epochenschritten Gelegenheit, kurz-, mittel- und langfristige Prozesse der politischen Ordnungsprinzipien zu analysieren. Es gibt ideengeschichtliche Entwicklungsschritte, die sich im Rhythmus von Generationen und Jahrhunderten abspielen und solche die sich nur in Jahrtausenden messen lassen. Möglicherweise ändert sich das Wesen des «homo sapiens” auch in Schritten, die weit grössere Zeitspannen umfassen. Unsere Gruppenethik ist mit grosser Wahrscheinlichkeit noch immer von der Ethik der vorgeschichtlichen Jäger und Sammler mitbestimmt. Sie konnten nur überleben, wenn sie in überschaubaren Gruppen eine bestimmte Kombination von Egoismus und Altruismus praktizierten. Gruppen, welche auf der reinen Ellbogentaktik der jeweils Rücksichtslosesten basierten, hatten und haben auf die Dauer keine Überlebenschance. Die Erzeugung des überlebenswichtigen Vorrats an Rücksichtnahme und mitmenschlicher Fürsorge darf aber nicht an Zwangsinstitutionen delegiert werden, weil diese nicht in der Lage sind, die spontane Bereitschaft zum sozialen Verhalten aufrecht zu erhalten und zu vermehren. Wer gezwungen wird, sich mitmenschlich zu verhalten, wird dadurch nicht sozialer. Der Staat provoziert mit Zwang, wie vielfältige Erfahrungen zeigen, lediglich ein Ausweichen und Abweichen in immer mehr Egoismus. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahrhunderte könnten mit folgendem Titel überschrieben werden: Vom Scheitern des Zwangs zum Guten und des kollektiv verordneten Glücks.

2. «Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst” – Zwang zerstört Zuwendung

Das bereits im Alten Testament enthaltene Gebot der Nächstenliebe wird in direkte Beziehung zur Selbstliebe und zur Gottesliebe gesetzt, ein Dreieck von fundamentaler menschheitsgeschichtlicher Bedeutung. Angeknüpft wird an die Selbstliebe und nicht etwa an die Selbstverleugnung. Diese Selbstliebe akzeptiert die Notwendigkeit, in erster Linie für sich selbst und die nächste familiäre und heimatliche Umgebung zu sorgen und sekundär, daran anknüpfend, dieses Überlebenskonzept nach Massgabe der Notwendigkeit auf grössere Kreise auszudehnen. Es werden nie alle dazu bereit sein, d.h. es ist unvermeidlich, dass eine kleinere Gruppe von Menschen im Stadium des Egoismus und Gruppenegoismus stecken bleibt. Der Aufwand an kollektivem Zwang, der zur «Verbesserung” dieser Gruppe aufgewendet wird, steht in keinem Verhältnis zum möglichen Ertrag, und der Schaden, der durch diesen Zwang bei den spontan Solidarischeren, Kooperationswilligen angerichtet wird, ist ungleich grösser. Eine Gesellschaft ist bereits dann überlebensfähig, wenn eine Elite etwas grosszügiger und grossräumiger denkt, puncto Hilfsbereitschaft und Solidarität mit dem guten Beispiel vorangeht, und damit die Massstäbe für das Normalverhalten setzt. In Verbindung mit dem Subsidiaritätsprinzip, das postuliert, dass gemeinsame Probleme im kleinstmöglichen Rahmen gelöst werden sollen, besteht die Chance, dass sich auch im Bereich des sozialen Verhaltens Angebot und Nachfrage einpendeln, wobei Hilfsbereitschaft natürlich immer ein knappes Gut bleibt.

Der erste und wichtigste Schritt sozialen Verhaltens besteht darin, andern nicht zur Last zu fallen, d.h. eigenständig zu sein. Wer diesen Schritt geschafft hat, kann den Bereich der Selbsterhaltung ausdehnen auf grössere Gruppen, und schliesslich einen Beitrag zum Wohlergehen anderer leisten, welche letztlich auch wieder dem eigenen Wohlergehen dient. Alle politischen Konzepte, welche die Mehrheit der Menschen bereits im ersten Schritt auf das Sorgen für Andere programmieren wollen, scheitern an der Realität des biologischen und menscheitsgeschichtlichen Erbes, das unser soziales Verhalten auf Kleingruppen ausrichtet.

3. Freiheit als Selbstbestimmung und Selbstverantwortung

Sowohl die Praxis des Marktes, d.h. die Praxis des non-zentralen Austauschs von flexiblen, spontanen und individuell evaluierten Angeboten und Nachfragen als auch der Wunsch nach einer herrschaftsfreien Privatsphäre, welche durch Persönlichkeitsschutz und Privateigentum gewährleistet wird, sind viel älter als die Aufklärung. Diese Entdeckungen sind auch keine exklusiv abendländische Errungenschaft. Sie gehören der ganzen Menschheit. Wenn im Folgenden von Freiheit und Markt die Rede ist, so geschieht dies nicht nur in Anknüpfung an die antike Philosophie und an die liberalen Klassiker von John Locke über Adam Smith und John Stuart Mill bis Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, sondern im Zusammenhang mit der menschheitsgeschichtlichen Entdeckung des verantwortlichen Menschen, der zwischen «gut” und «böse”, zwischen «selbstbestimmt” und «fremdbestimmt”, zwischen «Liebe” und «Lieblosigkeit”, zwischen «Glauben” und «Unglauben” wählen kann, und der bereit ist, für die Folgen seines Handelns und Verhaltens einzustehen.

Freiheit ist in jenem prähistorischen Moment entdeckt worden, als unterdrückte, fremdbestimmte Menschen den Mut hatten, sich Unterdrückungen nicht widerstandslos gefallen zu lassen. Die Idee der Freiheit ist identisch mit der Idee des Exodus aus der Knechtschaft. Wenn Menschen die Selbstbestimmung in Kombination mit dem Risiko der Freiheit und Verantwortung einer Fremdbestimmung und Knechtschaft in Verbindung mit materieller Sicherheit vorziehen, haben sie den Kerngedanken des Liberalismus erfasst, auch wenn sie keine einzige Zeile von sogenannten «liberalen Klassikern” gelesen haben.

4. Vom «Zwang der einen gegen die andern” zur wechselseitigen Vereinbarung

Bekannt ist Sigmund Freuds psychologisch-aufklärerischer Aufruf zur individuellen Autonomie: «Wo Es war, soll Ich werden”. Der von Trieben beherrschte Mensch soll zur verantwortlichen Persönlichkeit heranreifen, ein Prozess der sich über Jahrtausende erstreckt und wohl nie ganz abgeschlossen ist. Ludwig von Mises, einer der grossen Liberalen dieses Jahrhunderts, der ebenfalls aus Wien stammte und vor den Nazis nach den USA auswanderte, hat – wohl in Anlehnung an Freud, den er kannte -, eine andere bahnbrechende Erkenntnis formuliert. Wenn es um die gemeinsame Lösung gemeinsamer Probleme geht, plädiert er für die Ersetzung von Gewaltverhältnissen durch Verträge, formelhaft zusammengefasst: «Wo Gewalt war soll Vertrag werden”, mit andern Worten: Was ursprünglich individuell mit Gewalt und Zwang durchgesetzt wurde, soll durch gegenseitige Übereinkunft, durch Vereinbarung unter den Beteiligten, stattfinden. Dass Probleme, die früher mit Gewalt und Gegengewalt gelöst worden sind, aufgrund von privatautonomen Vereinbarungen friedlicher und dauerhafter lösbar werden, ist nicht nur die tragfähige Basis liberaler Überzeugung, sondern auch eine empirisch belegbare Tatsache.

5. Dem Privatrecht und der Privatautonomie gehört die Zukunft, nicht dem kollektivistischen Wohlfahrtsstaat

Je komplexer und je vernetzter die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Beziehungen werden, desto mehr entziehen sie sich der konfektionierten Lösung durch generell-abstrakte allgemeinverbindliche Normen. Der politisch-institutionelle Machbarkeits- und Organisierbarkeitswahn muss überwunden werden. Die Französische Revolution markiert nicht nur den Übergang vom Feudalismus zum nationalen Rechtsstaat, sondern auch den Übergang vom Agrarzeitalter ins Industriezeitalter. Dieses Industriezeitalter ist durch den Wettbewerb mehrerer «Nachfolgeideologien” des Feudalismus geprägt: Liberalismus, Sozialismus, Konservativismus und Nationalismus in allen Mischungsvarianten. Die schlimmste, aber tendenziell nach wie vor populärste Variante ist die Mischung von Sozialismus und Nationalismus, die – entgegen aller parteipolitischen Rhetorik – keineswegs überwunden ist. Ein «softer”, wohlfahrtsstaatlich umverteilender National-Sozialdemokratismus ist die vorherrschende politische Ideologie des Industriezeitalters, die durch problematische Leitfiguren wie Bismarck und F.D. Roosevelt symbolisiert werden kann.

6. Jenseits des Industriezeitalters

Das Ende des 20. Jahrhunderts fällt mit einer weiteren wirtschaftsgeschichtlichen Wende zusammen, deren politische Konsequenzen noch nicht gezogen worden sind. Wir befinden uns an der Schwelle des Informationszeitalters, welches das Industriezeitalter schrittweise ablöst. Im Zeitalter des Internet sind zentralistische Lösungsmuster, die auf Mehrheitsentscheidungen beruhen, überholt. Nur ein global offenes Netz kann den vielfältigen und komplexen individuellen Informationsbedürfnissen unterschiedlicher Menschen gerecht werden. Das Internet ist ein typischer Anwendungsfall non-zentraler offener Netze, die individuelle Präferenzen vermitteln, ohne dass demokratische Mehrheitsentscheidungen dazwischengeschaltet werden: Ein Markt der individuellen und gruppenspezifischen Vielfalt anstelle der einheitlich kollektiven Mehrheitsentscheidung zu Lasten von Minderheiten.

Der Fabrikarbeiter, der als Quasi-Bestandteil einer Maschine in einer Fabrik angestellt ist, und in seiner teil-spezialisierten Funktion jederzeit problemlos ersetzt werden kann durch unzählige andere mit gleichen Qualifikationen, wird mehr und mehr zur Ausnahmeerscheinung. Dasselbe gilt für Angestellte im Dienstleistungsbereich, die oft, in Analogie zum Industriearbeiter, auch als «Zahnrad” in einer grösseren Maschinerie eingesetzt wurden und immer noch werden, einer Maschinerie, welche in Zukunft ebenfalls weitgehend durch die Technologie ersetzt wird. Der Produktionsprozess ist immer stärker automatisiert, und die Arbeitskräfte werden als Dienstleister, Kontrolleure, Entwickler, Erfinder, Verkäufer, kurz, als Kommunikatoren von Mensch zu Mensch und nicht mehr von Mensch zur Maschine gebraucht. Wer in dieser «Rationalisierung” nur einen Verlust von «Arbeitsplätzen” sieht und nicht eine grosse Chance für menschenwürdigere kreativere Tätigkeitsfelder, schaut rückwärts statt vorwärts. Die Ersetzung des Menschen an der Maschine durch die elektronisch gesteuerte Maschine ist keine Tragödie, sie ist eine Befreiung, denn die wirklich menschlichen Fähigkeiten können durch die Maschine gar nicht vollzogen werden, sie werden auch nie überflüssig werden. Menschen werden stets Menschen brauchen.

Der traditionelle Industriearbeiter, der letztlich immer noch Bestandteil einer «Fliessbandtechnologie” war, wie dies Charlie Chaplin in seinem Film «Modern Times” meisterhaft parodiert hat, ist durch die moderne Technologie ersetzbar geworden. Wir sollten darüber nicht traurig sein. Die Menschen werden dadurch im Arbeitsprozess nicht überflüssig. Sie werden gebraucht, um weltweit durch Innovation und Kommunikation unsere Lebensqualität zu verbessern. Die Suche nach dem Besseren, Nützlicheren, Gesünderen, Angenehmeren und die Erforschung der Rätsel in Natur, Kultur und Geschichte kennt im globalen Umfeld keine Grenzen. Die Meinung, den Menschen gehe auf diesem weiten Feld die Arbeit aus, und uns allen bliebe nur die Flucht in die Unterhaltung als Alternative zur Langeweile, bzw. in die unwirtschaftliche soziale und kulturelle Beschäftigung als Staatsrentner, ist phantasielos und zynisch. Wenn sich der Staat aus den Bereichen Forschung, Bildung, Gesundheit und Kultur schrittweise zurückzieht, oder wenn er wenigstens eine faire Konkurrenz in «dualen Angeboten” zulässt, werden der Privatautonomie weite Entwicklungsfelder erschlossen, welche durchaus wirtschaftlich interessant sind und daher neue Arbeitsmöglichkeiten entstehen lassen.

Produktive, kreative, wertvolle und sinnvolle Tätigkeit, und dazu zählen auch kleine mitmenschliche Dienstleistungen, die zu Unrecht als «niedrig” eingestuft werden, bleiben stets ein knappes Gut, das nachgefragt wird und das es auf Märkten optimal zu verteilen gilt. Das Gerede vom Ende der Arbeitsgesellschaft ist verfehlt. Die Dienstleistungsgesellschaft bietet eine grosse Zahl neuer Jobs aller Kategorien. Das Ende der Industriearbeit, das Ende des klassischen Arbeiters, bedeutet keineswegs den Anbruch eines Zeitalters in dem wir Heere von Arbeitslosen von staateswegen sinnvoll beschäftigen oder mit Umverteilungsrenten abfinden müssen. Wenn wir einer wachsenden Menschheit eine ausreichende materielle Existenzsicherung erarbeiten wollen, so bedeutet dies eben Arbeit für alle. Gefragtund herausgefordert ist die Leistungsbereitschaft von allen. Eine produktive Verknüpfung der immer vielfältigeren Leistungsangebote zu einer produktiven Arbeitsteilung kann aber nur durch offene Märkte erfolgen. Während der «Faktor Arbeit” bei wenig spezialisierten Arbeitern noch durch Kollektivverträge organisierbar war und eine wirtschaftliche und politische Manövriermasse bildete, ist heute jede kollektive und zentrale Arbeitsmarktpolitik zum Scheitern verurteilt, und zwar nicht aus politisch-ideologischen Gründen, sondern wegen der Vielfalt und Komplexität auf der Angebots- und Nachfrageseite. Ein offener Arbeitsmarkt wird sich übrigens nicht, – wie oft gemutmasst wird -, einseitig zugunsten der Arbeitgeber auswirken. Es wird sich zeigen, dass die Kollektivabsprachen zwischen Arbeitnehmerkartellen (Gewerkschaften) und Arbeitgeberkartellen (Verbänden) häufig eher die Arbeitgeberseite gestärkt haben.

7. Nationalistischer und zentralistischer Machbarkeitswahn

Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert politisch-ideologischer Experimente, die – mit Ausnahme der Schweiz und der USA – in den Nationalismus und den Zentralismus mündeten, zwei Ideologien, die einen sehr hohen Bedarf an kollektiver Zwangsregulierung auslösen und denen ein riesiges Konfliktpotential innewohnt. Auch der Liberalismus hat sich damals in unglücklicher Weise mit nationalistischen und zentralistischen Machbarkeitsideologien verbündet und damit an Überzeugungskraft eingebüsst.

8. Aufbruch zur Bürgergesellschaft, Anknüpfung an tragfähige Traditionen

Die Basis einer funktionierenden Bürgergesellschaft ist die Privatautonomie, welche massgeschneiderte, flexible und immer wieder durch den Konsens unter den direkt Beteiligten adaptierbaren Vertragslösungen ermöglicht. Generell-abstarkte, auf Dauer angelegte materielle Gesamtlösungen haben in den immer wieder neu sich formierenden hoch komplexen Konstellationen global-vernetzter Bürgergesellschaften ausgespielt. Es geht nicht darum, den Liberalismus des 19. Jahrhunderts wieder zu beleben. Er hat sich damals in widersinnige Koalitionen verstrickt und hat auch mit den jeweils Mächtigen in Wirtschaft und Politik paktiert. In der Politik gibt es kein Zurück, aber es gibt die Anknüpfung an Bewährtes in Adaptation an geänderte Umstände. Diese Umstände haben sich in einem Ausmass verändert, das der liberalen Konzeption in hohem Mass entspricht. «Genosse Trend” ist auf der liberalen Seite, nur wird es nicht so reibungslos und so schnell gehen, bis der Durchbruch kommt. Die Kräfte auf der Gegenseite sind mächtig und gut etabliert und sie haben den Staatsapparat auf ihrer Seite.

Es geht heute darum, den tragfähigen, entwicklungsfähigen und zunehmend aktuellen Kern des Liberalismus (Freiheit, Markt, Menschenrechte) in einem neuen technologischen und sozialen Umfeld als einen tauglichen, nachhaltig praktizierbaren Lösungsansatz zu entdecken und gegen den zähen Widerstand des neofeudalistischen Filzes von Wohlfahrtsstaatskonservativen aller politischen Lager durchzusetzen.

Die Bürgergesellschaft lebt von der Vielfalt von kleinen sozialen, kulturellen und ökonomischen Konzepten und Experimenten, die einen durch den Wettbewerb um das, was sich bewährt. Dadurch entsteht ein Grundbestand von funktionierenden Traditionen und wirtschaftlich prosperierenden Einheiten. Dieser Fundus muss sich, vor allem an den Rändern, ständig erneuern, wird aber im Kerngehalt doch ziemlich konstant bleiben. Bewährte Traditionen überleben am besten in offenen, aber doch klar definierten Gemeinschaften, die sich auch politisch verbinden können, aber in einem friedlichen Wettbewerb stehen. Jeder achtet die divergierenden Traditionen und Experimente der andern, beobachtet sie sorgfältig, und sucht das Gute zu übernehmen und das Schlechte zu vermeiden. Das persönliche Engagement gilt aber zu Recht der eigenen Wertegemeinschaft, die man mitträgt und mitprägt und vor Existenzgefährdungen schützt.

Nicht die von vielen bereits totgesagte Privatrechtsgesellschaft ist veraltet, sondern der auf dem öffentlich-rechtlichen generell-abstrakten Normierungs- und Regulierungswahn basierende Leistungs-, Lenkungs- und Umverteilungsstaat.

Liberale behaupten nicht, dass Vertragslösungen immer dem Ideal einer ausgleichenden Gerechtigkeit genügen. Da es aber bei der Verteilung und Umverteilung von materiellen und immateriellen Gütern ohnehin keine objektiv besten, allgemeinverbindlich festzusetzenden Lösungen gibt, sind die Ungleichheiten einer auf Freiwilligkeit basierenden Ordnung als «Preis der Freiheit” zu akzeptieren.

Die Idee des Ausgleichs («Einer trage des andern Last”) ist eine wichtige und eine gute Idee. Sie kann sich aber am besten und sinnvollsten unter Personen abspielen, und nicht unter anonymen Institutionen. Je mehr die «Institution” der «Person” diese sozialen Aufgaben abnimmt, desto mehr «verlernt” die Person die Wahrnehmung sozialer Funktionen.

9. Zentralismus und Wohlfahrtsstaat sind gescheitert, die Tatsache wird aber verschleiert und verdrängt

Liberalismus ist heute im Parteienwettbewerb um die Wählergunst nicht populär. Die «opération vérité” ist politisch unattraktiv. Der Wohlfahrtsstaat war in vielerlei Hinsicht eine angenehme und «praktische” Sache. Allerdings hat er den entscheidenden Nachteil, dass er weder in finanzieller noch in sozio-kultureller Hinsicht nachhaltig stabil ist. Im Gegenteil, er mündet in verschiedenster Hinsicht in Teufelskreise. Dies ist der Grund, warum Liberale gegenüber dem Wohlfahrtsstaat, dem bürokratischen Zentralismus und gegenüber jedem staatlich verordneten Glück kritisch eingestellt sind.

Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Status quo und die Überzeugung, dass wir mit einem hohen gesellschaftlichen und politischen Veränderungsbedarf konfrontiert sind, verbietet es, die wohlfahrtsstaatskritische liberale Einstellung als «konservativ” zu bezeichnen. Liberale Vorstellungen über den bestmöglichen Staat weichen erheblich von dem ab, was heute in den Wohlfahrtsstaaten Kontinentaleuropas praktiziert wird.

10. Gefragt ist eine Strategie des Übergangs

Eine begründete Kritik gegenüber dem Ist-Zustand einerseits und das Skizzieren eines möglichen liberaleren Soll-Zustandes andererseits bilden allein noch keine tragfähige Grundlage für die politische Praxis. Gefragt sind gangbare und konsensfähige Strategien für einen Übergang von einem unhaltbaren Zustand A zu einem besseren Zustand B.

Auch wir in Westeuropa sind auf der Suche nach jenen Prozessen, die man im ehemaligen Ostblock mit guten Gründen als Transformation bezeichnet. Welche Alternativen gibt es bei der Weiterentwicklung des klassischen Liberalismus als Grundlage für den notwendigen Transformationsprozess?

11. Die Zukunft gehört den Wirtschaftsliberalen

Wirtschaftsliberale haben es schwer. Sie werden von ihren liberalen Gesinnungsfreunden gern in die rechte Ecke gestellt. Man wirft ihnen vor, sie verabsolutierten das Wirtschaftliche, erhöben den Markt zum Dogma und seien gegenüber den Gesellschaftsliberalen und Kulturliberalen engstirnige und unbelehrbare konservative Rechthaber. Dem Besitzstand wahrenden, wirtschaftlichen «Scheuklappenliberalismus” wird dann der offene, soziale, ökologische, kulturelle Liberalismus gegenübergestellt, den es zu erarbeiten gelte, und der um Vieles humaner, ethischer und fortschrittlicher sei als alles, was bisher als Liberalismus praktiziert und propagiert worden sei.

Ist der Wirtschaftsliberalismus die Basis für den Liberalismus der Zukunft, oder der Ballast, den es abzuwerfen gilt? Ich bekenne offen, dass für mich die Idee der Privatautonomie, welche bei Angeboten und Nachfragen aller Art Prinzipien wie Offenheit, Vielfalt und Freiwilligkeit ins Zentrum stellt, auch die Grundlage meines Verständnisses von Liberalismus bildet. Dass Probleme, die früher mit Gewalt und Gegengewalt gelöst worden sind, aufgrund von privatautonomen Vereinbarungen friedlicher und dauerhafter lösbar werden, ist für mich eine wichtige Erkenntnis, welche an der Wurzel meines politischen Bekenntnisses liegt. Ich nehme dabei in Kauf, dass Vertragslösungen nicht immer dem Ideal einer ausgleichenden Gerechtigkeit genügen, da ich davon überzeugt bin, dass es in der Verteilungs- und Umverteilungsfrage von materiellen und immateriellen Gütern ohnehin keine objektiv besten, allgemeinverbindlich festzusetzenden Lösungen gibt.

12. Gefragt ist kreative Dissidenz

Die Massenmedien verkünden heute immer noch (und mit verstärkter Penetranz), das Credo des Wohlfahrtsstaates. Sie sind bei der Verbreitung ihrer Botschaft vernetzt und verfilzt mit einer grossen Zahl von Informationsbürokraten, welche die gouvernementale Botschaft, finanziert durch Steuergelder, mit professionellem Geschick kommunizieren. Während früher in der Schweiz die Behörden dilettantische Informationsarbeit leisteten und die Wirtschaftsverbände professionell agierten, ist es heute umgekehrt. Die Masse ist heute von diesem gefälligen Informationsmix gleich abhängig wie von der Vielzahl umverteilender und subventionierender Staatshilfen. Auch die Intellektuellen und eine grosse Zahl von kulturell Tätigen ist in einem Netz von staatlichen Beihilfen und von gegenseitig zugeschobenen Preisen und Ehrungen wohlfahrtsstaatlich befangen. Das «Nein zur Masse” ist unpopulär und unbequem. Es wäre eigentlich die Aufgabe der kulturellen Elite. Vor allem jene, welche andern «Populismus” vorwerfen, vermeiden es sorgfältig, Dinge zu kritisieren, welche von Mehrheiten geschätzt werden, obwohl bei vielen das dumpfe Gefühl vorhanden ist, es könne so nicht weiter gehen. Immer kleiner wird die Zahl derjenigen, die den Mut haben, sich gegen die veröffentlichte Meinung zu stellen und sich deshalb in diesen Medien fertigmachen zu lassen. «Wirtschaftsliberal” und «neoliberal” sind zu Schimpfworten geworden (wobei letzterer Begriff ideengeschichtlich unzutreffend verwendet wird. Die Neoliberalen waren eher am linken, staatsfreundlicheren Flügel des Liberalismus, aber wer nimmt sich schon die Mühe, Ideengeschichte zu studieren, wenn es darum geht, gegen andere zu polemisieren).

13. Es gibt keinen «dritten Weg”

Leider ist es viel angenehmer, lukrativer und populärer, sich zu irgend einer «Breitband-Variante” des sozialdemokratisch-liberalen Mix (etwa im Stil der sog. «unabhängigen Medien”) zu bekennen, und Anschluss an jene Leute zu suchen, die unentwegt «dritte Wege” propagieren (zunächst das jugoslawische, dann das schwedische «Modell”, dann die polnische «Solidarität” und den Reformkommunismus Gorbatschows, dann den «runden Tisch” in der DDR, dann das rheinische Modell, bzw. das niederländische «Polder-Modell” usw. usf.). Demgegenüber gibt es durchaus messbare Erfolge beispielsweise in jenen angelsächsischen und lateinamerikanischen Ländern, welche mit unterschiedlichen Voraussetzungen und mit vielfältigen politischen Strategien eine konsequente Liberalisierung vorangetrieben haben.

Selbstverständlich sind auch diese Erfolge nur relativ, und weder das im UK von Tony Blair fortgesetzte Modell von Margaret Thatchers Deregulierung und Privatisierung, noch die von der Chicago-Schule mitinitiierten Reformen unter Ronald Reagan, deren ökonomische Früchte nun von Bill Clinton geerntet werden, noch Roger Douglas’ «Unfinished Business” des marktwirtschaftlich reformierten Neuseeland sind frei von zahlreichen interventionistischen Restbeständen. Auch das «chilenische Modell” der Transformation einer Militärdiktatur in einen marktwirtschaftlich offenen Rechtsstaat ist beileibe noch nicht abgeschlossen.
Der Grundirrtum bei der Philosophie des «dritten Weges” liegt schon im Ansatz der Zweiteilung «Zentralverwaltungswirtschaft” versus «Marktwirtschaft”. Es geht nicht um eine Alternative zwischen «System A” und «System B”, sondern um den Gegensatz «System” und «Nicht-System”. Da bleibt kein Platz für einen «dritten Weg”, vielmehr öffnet sich ein neues grosses Feld für Kombinationsformen von «Wirtschaft” und «Politik”, für verschiedene Spielarten der Ordnungspolitik auf der Basis eines Grundbekenntnisses zu einer freien Entfaltung wirtschaftlicher und sozio-kultureller Kräfte. So etwas wie die Marktwirtschaft als ein einheitlicheres für alle Nationen und für alle Zeiten einheitliches und generalisierbares System gibt es nicht, und der Markt wird sich in verschiedenen kulturellen, historischen, nationalen und sozialen Umfeldern unterschiedlich entfalten und die jeweils passendsten subsidären Formen der Ordnungspolitik entwickeln, wenn er nicht durch irgendwelche interventionstische Dogmen oder durch eine Wirtschaftspolitik im Interesse mächtiger Lobbies verfälscht wird.

14. Mehr empirische Vergleiche, weniger Ideologie

Wenn aber von «Neubesinnung” die Rede ist, sollte man sich nicht im Arsenal der Ideologien umsehen, sondern den Mut zum Vergleichen volkswirtschaftlicher Daten zeigen. Wo geht es heute relativ besser als früher? Wo und in welchem Ausmass steigt die Produktivität und sinkt der Anteil an Armut, die nicht in Relation zum Standard der Reichen zu messen ist, sondern am definierten unverrückbaren Nullpunkt eines Existenzminimums und unter Ausklammerung jener Umverteilung durch Verschuldung und Auslandhilfe, welche das Bild des sogenannten Systemvergleichs immer wieder verfälscht hat. Länder, welche ihre Ärmsten lediglich auf Pump oder durch Auslandhilfe unterstützt haben und die Arbeitslosenrate durch eine unproduktive Scheinbeschäftigung künstlich tief hielten, müssen im Rahmen eines wirtschaftlichen Gesundungsprogramms auch schwierige Durststrecken durchstehen. Es ist in höchsten Mass unfair, wenn nun von linker Seite diese Altlasten von unproduktiven und strukturell ökonomisch und moralisch längst bankrotten Systemen, welche den Neubeginn erschweren, als «Fehler der Marktwirtschaft”, als «Marktversagen” angekreidet werden.

15. Altlasten des real existierenden Sozialismus

Der real existierende Sozialismus hinterlässt eine volkswirtschaftliche, ökologische und soziale Wüste, in welcher die Marktwirtschaft nur langsam Fuss fassen kann. Mafiose Strukturen sind nicht die Begleiterscheinung neu aufkeimender Märkte. Sie sind die Altlasten des vorher vorhandenen Repressionssystems, das nicht so schnell entsorgt werden kann, vor allem wenn die Reformen nur schrittweise, halbherzig und z.T. mit den alten Seilschaften durchgezogen werden. Die Transformation in Mittel- und Osteuropa leidet nicht an einem zu hohen Tempo und einer zu konsequenten Umsetzung. Im Gegenteil, sie leidet an der Verfilzung mit dem ehemaligen Totalitarismus und an einer zu zögerlichen Abwendung von der Zentralverwaltungswirtschaft in Verbindung mit Umverteilungspolitik. Und all dies wird mit Krediten und Subventionen von der westlichen Welt zum Teil erst noch unterstützt. Was sich heute im Bereich der «Osthilfe” abspielt ist eine Art «kleinkarierter, gekleckrerter Marshallplan” ohne «Nürnberger Prozesse” (d.h. ohne klare politische Zäsur) und ohne Persönlichkeiten vom Format eines Ludwig Erhard auf der Empfängerseite. Kein Wunder, dass das mittel- und osteuropäische Wirtschaftswunder auf sich warten lässt.

Die Transformation im ehemaligen Ostblock war bisher, wenn man die schlechten Voraussetzungen in Betracht zieht, trotzdem kein totaler Fehlschlag. Man kann aber die Behauptung wagen, dass der Erfolg der Transformation um so nachhaltiger war, als eine konsequente Abwendung vom Etatismus und vom wohlfahrtsstaatlich umverteilenden Zentralismus erfolgte. Einmal mehr waren die Kleineren die Erfolgreicheren: die baltischen Staaten und Slowenien, dem viele Prognostiker, welche noch dem alten Autarkiemodell anhängen, jede Überlebensfähigkeit abgesprochen hatten. Die Erkenntnis, dass Transformationen bei kleineren konkurrierenden Modellen rascher und erfolgreicher sind, gilt es im Auge zu behalten, wenn wir davon ausgehen, dass uns auch in Westeuropa im nächsten Jahrhundert eine Art Transformation bevorsteht, vom umverteilenden Wohlfahrtsstaat zum effizienten Rechtsstaat, der jene Ziele verfolgt, welche der Staat wirklich erfüllen kann (Schutz von Recht und Ordnung gegen aussen und nach innen, Hilfe für die Notleidenden, Bewahrung des nationalen Erbes in Natur und Kultur sowie Garantie günstiger Voraussetzungen für Markt und Wettbewerb). Die Garantie marktkonformer Rahmenbedingungen darf nicht verwechselt werden mit dem problematischen Postulat der Förderung dessen, was im Moment gerade für besonders förderungswürdig gilt. Jede Förderung, auch die noch so gut gemeinte und «marktkonforme”, verzerrt lediglich den Markt und verschlechtert die Chancen der notwendigerweise stets zahlreichen Nicht-Geförderten, was wiederum im Gesamtzusammenhang mehr schadet als nützt. Der Staat der Zukunft zieht sich geordnet aus allen Bereichen zurück, welche er seinem Wesen nach nicht befriedigend und nicht nachhaltig erfüllen kann (Vorsorgestaat, Leistungsstaat, Lenkungsstaat, Umverteilungsstaat, Kulturstaat). Diese Transformation ist nicht etwa aus ideologischen Gründen geboten. Sie ist die notwendige Voraussetzung für einen funktionierenden Übergang von einer national-ökonomisch ausgerichteten Industriegesellschaft zu einer global vielfältig vernetzten (aber nicht zentral globalisierten!) Informationsgesellschaft, in der gerade wieder die kleineren autonomen Einheiten eine wichtige Rolle spielen, und in der sich die verschiedensten Bereiche zwar überlappen, aber Grenzziehungen gerade darum wichtig sind, weil Kooperation nur stattfindet, wenn klare Grenzen anerkannt sind. Dass eine solche Transformation besser und flexibler länderweise als kontinentsweise erfolgt, braucht hier nicht noch näher begründet zu werden.

16. Trennung von Wirtschaft und Staat

Ein wichtiger Grundsatz aus der liberalen Theorie des letzten Jahrhunderts erlangt im nächsten Jahrhundert eine neue hohe Priorität: die Trennung von Staat und Wirtschaft. Die Wirtschaft muss sich, wenn sie produktiv bleiben will, in flexibler Weise grenzüberschreitend vernetzen und umgruppieren können. Früher waren, vor allem in grössern Staaten, die drei Kreise «Nationalstaat”, «Nationalökonomie” und «Nationalkultur” ziemlich deckungsgleich, und es war eines der Dogmen des Nationalismus, diese Einheit zu bewahren und herzustellen. ( Die Schweiz war diesbezüglich im «nationalökonomischen Zeitalter” ein Sonderfall. Sie kann mit guten Gründen die Rolle einer Avantgardistin beanspruchen, auch wenn sie diese Rolle nicht aktiv angestrebt hat und durch verschiedene historische und topographische Konstellationen begünstigt wurde.) Auch der Liberalismus hat sich im 19. jahrhundert immer wieder mit dem nationalistischen Autarkismus verbunden. Nationalliberale wollten den Markt auf ein nationales Binnengebiet beschränken. Restbestände dieses Denkens sind heute noch bei jenen zu finden, welche das Konzept der deckungsgleichen Kreise auf der ökonomischen Selbstgenügsamkeit eines «Wirtschaftssystems” nach aussen wenigstens auf kontinentaler Ebene noch konservieren wollen.

Die Idee der EU ist auch aus dieser Sicht nicht zukunftsweisend sondern vergangenheitsfixiert. Man will das kurzfristig gemütliche, langfristig gefährliche merkantilistische Festungs- und Clubdenken auf europäischer Ebene bewahren und protektionistisch nach aussen verteidigen. Damit soll verschleiert werden, dass die Finanzierung der nationalen Wohlfahrtsstaaten letztlich auf Pump beruht und nichts anderes ist als eine grosse Lüge zu Lasten der nächsten Generationen. Wer demgegenüber Weltoffenheit fordert und vor dem Beitritt in ein restlos überholtes Club-Konzept der EU warnt, wird vom Geheul der EU-süchtigen Medien als unbelehrbarer Konservativer und nationalistischer Isolationist beschimpft. Tatsache ist, dass wir in der Schweiz anhand von zahlreichen Beispielen erleben müssen, wie man von Brüssel aus mit Nichtmitgliedern willkürlich und arrogant umgeht, und wie beispielsweise in den bilateralen Verhandlungen EU/Schweiz von der Seite Frankreichs Landerechte der Swissair in Paris gegen die Bestellung von Helikoptern für die Schweizer Armee eingehandelt werden, – kein besonders freihändlerisches Konzept, sondern eine interventionistische Schlaumeierei, die man eigentlich nicht als Erfolg feiern sollte.

17. Binnenmarkt oder Weltmarkt

Es ist sicher nicht angenehm, diskriminiert zu werden. Aber es ist noch weniger angenehm, einem Club anzugehören, der offensichtlich Nichtmitglieder diskriminiert, und dies alles mit dem verlogenen Motto einer Öffnung. Die EU ist eben doch weitgehend als Binnenmarkt konzipiert, der intern harmonisiert, statt zu deregulieren und die vorbehaltlose Öffnung auf den Weltmärkten anzustreben. Der eigentliche Test für die Wettbewerbsfähigkeit einer Unternehmung ist nicht irgend eine Instanz in Brüssel, sondern die Bewährung auf dem Weltmarkt. Ich werde den Verdacht nicht los, dass es vor allem jene Firmen besonders EU-begeistert sind, welche auf dem Weltmarkt Absatzschwierigkeiten haben, weil sie zu teuer oder zu schlecht sind. Mit einer guten Lobby in Brüssel rechnen sie sich irgendwelche EU-Sondervergünstigungen oder Subventionen aus. Wer auf dem Weltmarkt mithalten kann, braucht keinen Europrotektionismus. Er braucht eine funktionsfähiges, überblickbares politisches Gemeinwesen, das er dann mit guter Motivation finanziell mitträgt, wenn er überzeugt ist, dass sein Steuergeld transparent und effizient für die tatsächlichen, gesetzlich festgelegten und beschränkten Staatsaufgaben eingesetzt wird. Die Meinung, das politische System müsse sich mit irgendwelchen wirtschaftlichen Einflusssphären decken, ist restlos überholt. Für die Schweiz hat sie übrigens nie zugetroffen. Wir waren sogar in den Zeiten der kriegsbedingten Isolation auf wirtschaftliche Aussenkontakte angewiesen, eine Tatsache, welche heute von jenen übersehen wird, welche diese überlebenswichtigen Kontakte im Nachhinein als Fehler brandmarken. Wer heute eine Einheit von Politik und Wirtschaft fordert, gelangt konsequenterweise zur Forderung eines Weltstaats, der dann die Weltwirtschaft harmonisieren und regulieren könnte, um den Preis, dass dann allfällige Fehler und Irrtümer dieser Weltregierung (oder wird sie als unfehlbar angesehen?) gleich die ganze Welt ins Elend und Unglück reissen würden. Ich bin für kleine überschaubare, schlanke, politische Einheiten, d.h. für friedliche, nichtaggressive, auf geschichtliche und kulturelle Traditionen abgestützte, möglichst föderativ aufgebaute Nationalstaaten, welche einerseits einer in andern Einheiten und Bezugsgebieten agierenden global vernetzten, aber nicht global zentralisierten Wirtschaft optimale Voraussetzungen bieten, und anderseits den betroffenen und beteiligten Bürgerinnen und Bürgern als Heimat Mitsprache und Geborgenheit ermöglichen. Unternehmungen können heute nicht mehr «national” oder «regional” sein und diesbezüglich ein Heimatgefühl vermitteln. Man mag dies bedauern, aber man kann es nicht verhindern. Der Preis wäre der Verlust der Konkurrenzfähigkeit und schliesslich der Konkurs. Unternehmen müssen sich auf den Markt ausrichten, wenn sie überleben wollen und dieser Markt ist heute grenzüberschreitend, auch bei grössern Ländern und selbst bei Kontinenten. Ein nicht überlebensfähiges Unternehmen, kann seinen Mitarbeitern weder Sicherheit noch Geborgenheit vermitteln.

18. Produktives Spannungsfeld, keine deckungsgleichen Grenzen

Politik und Wirtschaft stehen in einem produktiven Spannungsfeld. Sie haben je unterschiedliche Aufgaben. Politik will Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit; Wirtschaft strebt steigende Produktivität und Wohlfahrt für möglichst viele an. Die jeweiligen Ziele müssen nicht in den selben territorialen Umfeldern realisiert werden, ja sie können es gar nicht mehr, und jede Rückkehr zu national-ökonomischen Konzepten wäre heute mit katastrophalen Produktivitätsverlusten zu bezahlen und – was oft vergessen wird – auch mit einem Verlust an internationaler Sicherheit. Die beste Friedensgarantie ist eine möglichst international vernetzte Wirtschaft, welche im ureigensten Interesse ihre Anlagen nicht gegenseitig durch nationale Kriege zerstören will. Wenn man mit politischen nationalen Kriegen gleich auch noch die Konkurrenz auf der andern Seite der Grenze bzw. im andern Wirtschaftsblock oder Binnenmarkt ausschalten kann, steigt die Kriegsgefahr. Dies ist eine der bitteren Erfahrungen dieses Jahrhunderts mit seinen beiden Weltkriegen, die (vor allem der erste) auch Wirtschaftskriege waren. Auch der «kalte Krieg” war ein Krieg von Ideologien und Wirtschaftssystemen.

Europa ist wegen seiner Vielfalt zu jenem Kontinent geworden, der über Jahrhunderte eine Führungsrolle spielen konnte. Die Vielfalt ist das Geheimnis dessen, was «das europäische Wunder” genannt worden ist. Vielfalt hat uns die Schande und das Unglück blutiger europäischer Bürgerkriege beschert, aber sie hat auch jene Offenheit und Kreativität freigesetzt, welche dem friedlichen Wettbewerb innewohnt bzw. innewohnen könnte. Das Europa der Vaterländer und nicht das Europa der Gleichmacher und Bürokraten gilt es im nächsten Jahrhundert weiter zu entwickeln, ein Europa, das unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten und -modelle in Nord, Süd, Ost und West zulässt, ein Europa, das nationale Eigenheiten als Chance nutzt, und nicht als Gefahr bekämpft und durch Ausgleichszahlungen und Vereinheitlichungen aller Art auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner nivelliert.

19. Keine Anbiederung beim linken Populismus

Neubesinnung ist heute Mode. Vor allem jene, welche veraltete Konzeptionen wie den Wohlfahrtsstaat mit seiner galoppierenden Verschuldung ins nächste Jahrhundert hinüberkonservieren wollen, werden nicht müde, sich als «grosse Reformer” zu gebärden und allen, die sich dieser Fehlkonzeption entgegenstellen, das Stigma der ewigen Neinsager anzuhängen.

Die wirklichen Fackelträger des Fortschritts sind aber heute jene, welche den Mut haben, Fehlkonzeptionen, auch wenn sie noch so populär sind, als solche zu entlarven und zunächst einmal ehrlich «Nein” zu sagen. Natürlich darf es nicht beim «Nein” bleiben. Ein «Ja” zu mehr Freiheit und Selbstverantwortung, zu einer Vielfalt von non-zentralen Versuchen und Irrtümern im Rahmen von bewährten, aber niemals dogmatisierten Traditionen, schiebt die Verantwortung für die Zukunft nicht auf anonyme staatliche Institutionen, sondern belässt sie dort wo Menschen aktiv und kreativ handeln, wo sie Erfolg haben oder eben auch versagen, in den Familien, in den Betrieben und in überschaubaren politischen Einheiten, kurz in jenen Bereichen wo sich Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnen und wo die Wahrheit von der Lüge unterschieden werden kann, weil sie nicht durch technische Medien übermittelt und verfälscht wird, sondern weil sie sich «face to face” im täglichen Leben manifestieren und bewähren muss.

20. Wertkonservative Ansätze für einen Neubeginn

Für mich sind die interessantesten und «modernsten” Anreger die amerikanischen Libertären, die Vertreter der «Austrian Economics” (von Mises und von Hayek) und die anarchistischen bzw. minarchistischen Machtkritiker jenseits aller parteipolitischen Lager, die nicht-etatistischen, auf freiwilligen Vereinbarungen basierenden Kommunitaristen sowie der (kleine, bzw. kaum mehr vorhandene) an Privateigentum und Markt anknüpfende Flügel der Grünen, die Klein-Föderalisten, Autonomisten und Non-Zentralisten, die sich im Links-Rechts-Schema ebenfalls nicht orten lassen. Die Neubesinnung des Liberalismus kann für mich nichts anderes heissen, als die wertkonservative Besinnung auf die Wurzeln der Freiheit (Offenheit, Vielfalt, Privatautonomie, Freiwilligkeit), sowie die Skepsis gegenüber allen Formen erzwungener Zentralität, gegenüber jedem allgemeinverbindlichen Zwang, auch dem verordneten Zwang zum Guten, der – auf längere Sicht – meist nur das Gegenteil, nämlich das «Gut-Gemeine” hervorbringt. Es ist unvermeidlich, dass die Besinnung auf die Wurzeln zu einer Radikalisierung führt, bei der man Profil und Weggefährten gewinnt, aber eben auch Gefahr läuft, Freunde (Sponsoren, Mitglieder und Abonnenten) zu verlieren. Wer das nicht riskiert, kann auch nichts bewegen.

21. Voraussetzung: Lernbereitschaft

Selbstverständlich muss man stets bereit sein, den eigenen Standpunkt im Lichte anderer Erfahrungen und guter Gegenargumente zu überprüfen. Wer nicht mehr bereit ist, zu lernen, muss auch nichts lehren wollen. Aber ein wohlbegründeter Standpunkt sollte doch nicht ohne Not verlassen werden, nur weil er zur Zeit nicht bei allen ankommt bzw. nur bei Minderheiten Anklang findet. Gerade solche Positionen haben möglicherweise ein persönliches Engagement besonders nötig. Für die Vertretung des jeweils Modischen und durchschnittlich Populären gibt es in allen Lagern genug Opportunisten.

Als Liberaler steht man vor der Herausforderung, kompromissloses Denken mit kompromissbereitem Handeln zu verbinden. Dies ist nicht immer leicht. Darf man hier auch praktikable «second-best” Lösungen einbeziehen, um jenen «geordneten Rückzug” aus wohlfahrtsstaatlichen Fehlstrukturen zu ermöglichen und den Preis schwerer und allenfalls sogar blutiger sozialer Konflikte zu vermeiden? Die Antwort lautet «Ja”, aber nur in Verbindung mit jenem durchaus seltenen und für alle Betroffenen und Beteiligten mühsamen Kampf um jene liberalen Prinzipien, die hier dargelegt werden, und die von der Gegenseite immer wieder als «wirtschaftsliberal” oder «neoliberal” abgestempelt werden.

22. Wider den etatistischen Zwang

Im Zentrum steht dabei die grundsätzliche Ablehnung staatlichen Zwangs, auch des Zwangs zum sogenannten Guten, und die Überzeugung, dass die Menschen normalerweise in der Lage seien, ihre Probleme privatautonom durch Verträge und freiwillige Zusammenschlüsse nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage zu lösen, wenn der Staat als Basis Recht und Ordnung garantiert.

Wer solche Standpunkte im Familien- und Freundeskreis und auch weiteren «Kreis der Liberalen” konsequent vertritt, wird immer wieder als «Asozialer”, «Gemeinschaftsfeindlicher”, «Wirtschaftsfixierter” bezeichnet, der als kaltschnäuziger «Neoliberaler Schreibtischtäter” einfach das «Lied der Millionäre” singe, weil von dieser Seite der Applaus bzw. die Bezahlung komme.

Solche Vorwürfe entbehren der Grundlage. Sehr oft sind es gerade die reichen Leute, welche sich – aus Überzeugung oder aus Kalkül – für die Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat einsetzen, da dadurch die «soziale Frage” wenigstens kurz- und mittelfristig vom Tisch ist. Der zahlenmässig stets schwache Sukkurs, auf welchen sich die Wirtschaftsliberalen verlassen können, kommt in der Regel von kleineren und mittleren Unternehmern und von einer Minderheit von Verantwortungsbewussten, welche den Mut zum eigenständigen und unpopulären Denken nicht aufgegeben haben.

23. Ungerechtfertigtes Feindbild «wirtschafts-” bzw. «neo”-liberal

Die Etikettierung als «wirtschaftsliberal” oder gar – bewusst feindselig (und ideengeschichtlich falsch) als «neoliberal”, sollte daher das Selbstbewusstsein der Liberalen nicht trüben, und zwar auch nicht jener, für die das Wirtschaftliche gar nicht im Zentrum des Lebens steht, sondern in der Rubrik «Voraussetzungen”. Geeigneter wäre wohl die Bezeichnung «radikalliberal” oder «klassisch- liberal”. Aber auch diese Begriffe bergen ideengeschichtlich bedingte Missverständnisse.
Erschwert wird die intellektuelle Debatte um die adäquate Bezeichnung politischer Grundhaltungen durch die Tatsache, dass sich der Begriff «liberal” in den USA und teilweise auch im UK grundlegend gewandelt hat und oft synonym mit «sozialdemokratisch” oder «links” verwendet wird.

24. Wettbewerb der guten Ideen und Lösungen

Ich unterstelle niemandem, dass eine liberale «Neubesinnung” gleichgesetzt wird mit einer Anbiederung an alte oder an neue Linke oder an Etatisten und Interventionisten aller Art, aber ich erhalte recht selten Hinweise, aus welchem Fundus denn der sozialere, humanere und ökologischere Liberalismus gespiesen werden sollte, den man den «bösen Wirtschaftsliberalen” bzw. den «Neoliberalen” anpreist. Weder die Sozialdemokratie mit ihrem populär-populistischen Programm des Wohlfahrtsstaats-Strukturkonservativismus (mit dem nicht gerade originellen Hinweis: die Reichen sollen das Defizit tragen), noch die diffus argumentierenden Kommunitaristen, noch die PR-bewussten Clinton-Keynesianer, noch die rosaroten Euro-Christdemokraten mit ihrem strukturkonservativen Mix von Bürokratie und Filzokratie haben eine zukunftsträchtigen Alternativen zum Liberalismus anzubieten. Ihre Ideen eignen sich auch nicht zur ergänzenden oder korrigierenden Kombinationsstrategie in «dritten Wegen”.

Die Neubesinnung des Liberalismus kann für mich nichts anderes heissen, als die wertkonservative Besinnung auf die Wurzeln der Freiheit (Offenheit, Vielfalt, Privatautonomie, Freiwilligkeit), sowie die Skepsis gegenüber allen Formen erzwungener Zentralität, gegenüber jedem allgemeinverbindlichen Zwang, auch dem verordneten Zwang zum Guten. Non-Zentralismus bewahrt nicht davor, sich zu irren, aber es bewahrt davor, eine grosse Zahl von Menschen «nach dem neuesten Stand des wissenschaftlichen Irrtums” in die falsche Richtung zu führen. Auch im Bereich der Politik kommen wir nur weiter, wenn wir in kleineren Einheiten «Versuch und Irrtum” wagen, und uns der wechselseitigen Kritik und der Selbstkritik immer wieder neu stellen. Erfolgreiches ist zu kopieren, – in der Politik ist «abgucken erlaubt” -, Misserfolge sind in schonungsloser Transparenz öffentlich zu analysieren und als Grundlage einer Vermeidungsstrategie zu verwerten. Der Markt ist eine «Schule
ohne Lehrer” und wer diese Schule schwänzt, wird früher oder später mit wirtschaftlichem und politischem Misserfolg bestraft.

Zur Stiftung Liber’all

Die Stiftung Liber’all ist eine gemeinnützige Stiftung zur Förderung des liberalen, freiheitlichen Gedankengutes. Sie wurde 1998 gegründet und will, dass sich die Menschen persönlich, sozial und wirtschaftlich möglichst weitgehend entfalten können.
Dementsprechend setzt sie sich dafür ein, die Prinzipien der Eigentums- und der Wirtschaftsfreiheit zu wahren und zu fördern.

Die Stiftung organisiert Seminare, Konferenzen, Kongresse und Gespräche mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie unterstützt wissenschaftliche und politische Publikationen, die im Zusammenhang mit dem Stiftungszweck stehen. Sodann setzt sie sich ein für eine gezielte Aus- und Weiterbildung im Sinne des Stiftungszweckes. Sie arbeitet mit anderen Organisationen zusammen, die der Stiftung nahestehen. Überdies ist sie offen, weitere Trägerorganisationen in die Stiftung aufzunehmen.

Der Stiftungsrat setzt sich zusammen aus den Präsidenten der Trägerorganisationen, nämlich

  • Dr. Peter Gross, Präsident (Liberale Aktion / Redressement National)
  • Dr. Konrad Hummler, Vizepräsident (Aktion für freie Meinungsbildung)
  • Heinz Müller (Medien-Forum).

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Stiftung Liber’all, Bionstrasse 3, Postfach, 9015 St. Gallen
Tel.: 071 314 61 34, Fax: 071 314 61 02, E-Mail: info@liberall.ch