Die staatliche Daseinsvorsorge ist fundamental falsch aufgebaut, ihr Versagen ist absehbar. Der Ausweg ist klar, doch wird er wohl erst beschritten, wenn es noch schlimmer gekommen ist.
Robert Nef, Finanz und Wirtschaft, Meinung, 16.09.2024
Der im 20. Jahrhundert unter dem Druck von Kriegen und Krisen entstandene umverteilende Daseinsvorsorgestaat ist im 21. Jahrhundert kontinuierlich ausgebaut worden. Es zeigt sich aber jetzt weltweit, dass diese Umverteilungssysteme angesichts sinkender Geburtenraten und alternder Bevölkerungen auf die Dauer nicht finanzierbar sind. Auch Massenimmigration löst das Problem nicht nachhaltig. Staatliche Geburtenförderung hat ihr Ziel nirgends erreicht, nicht einmal im totalitären China, wo man versucht, die für die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft katastrophale Überalterung – eine Folge der jahrzehntelangen kommunistischen Einkindpolitik – zu überwinden.
Die staatlich erzwungene und ermöglichte Altersvorsorge, die nicht auf Familien mit eigenen Kindern und Enkeln basiert, ist weltweit wohl einer der Hauptgründe für den Geburtenrückgang. Wenn die Reproduktion nicht im längerfristigen Eigeninteresse im Hinblick auf eine familieninterne Unterstützung im Alter liegt, versagt jeder staatliche Zwang. Das gegenüber dem Ökosystem zu Recht propagierte Prinzip der Nachhaltigkeit wird ausgerechnet gegenüber dem intergenerationell umverteilenden Sozialstaat politisch nicht thematisiert. Gibt es einen Ausstieg aus dieser Schuldenfalle im Daseinsvorsorgestaat?
Utopischer Weg
Aus strikt liberaler Sicht wäre das politische Ziel klar: Ein Rückzug aus etatistischen Fehlstrukturen und ein Aufbruch zu einer spontanen Ordnung, in der Güter und Dienstleistungen in der Gegenwart nach dem Knappheits- und Leistungsprinzip erwirtschaftet und verteilt werden. Ein freier Arbeitsmarkt und ein gesundgeschrumpfter Sozialstaat und eine auf das Minimum beschränkte Familiengesetzgebung in Kombination mit einem selbsttragenden Bildungswesen würde eine liberal ausgerichtete Neuorientierung von selbst bewirken: Privatautonomie, Privateigentum und Partnerschaftsverträge würden auch die geschlechtsspezifischen Angebote und Nachfragen auf Konsensbasis, massgeschneidert und ohne Umweg über allgemein verbindliche Gesetze regeln.
Aber dieser skizzierte Weg bleibt vorläufig utopisch, und er würde auch nicht alle Probleme sofort lösen. Offen bleibt unter anderem die Frage, wie «anthropologisch verwurzelt» die Institution der Kernfamilie ist und welche Formen der spontanen Solidarität in Kleingruppen, Nachbarschaften und Genossenschaften sich auf der Basis neuer Technologien neu bilden. Selbstverständlich gehört es zu den Kosten freiwilliger und spontaner Lösungen, welche Lernprozesse nicht durch politischen Zwang, sondern durch den Wechsel von Erfolgserlebnissen und Leidensdruck steuern, dass sie auch ein Fehlverhalten zulassen und das individuelle Scheitern nicht ausschliessen.
Die Familien (und vergleichbare Kleinkollektive) müssen im Normalfall selbsttragend funktionieren und sich dem entsprechenden Wohlstandsniveau ohne staatliche Umverteilung anpassen können. Sie sind auch die Versorgungs- und Vorsorgeinstitution für die normalen Not- und Wechselfälle des Lebens. Der Generationenvertrag sollte – früher oder später – wieder ohne Zwangsabgaben und kollektives Zwangssparen aufgrund freier und selbstbestimmter wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen funktionieren.
«Eine Mehrheit von Staatsversorgten will immer mehr, und die Bereitschaft jener Minderheit, die dies finanzieren muss, sinkt.»
Die sozialistische Doktrin, dass sich staatlich erzwungene Solidarität zunächst in Nationen und anonymen Grossgesellschaften entwickelt und letztlich auf die ganze Menschheit ausweitet, hat sich bisher als wirklichkeitsfremdes ideologisches Wunschdenken erwiesen. Das Gegenteil ist der Fall: Eine Mehrheit von Staatsversorgten will immer mehr, und die Bereitschaft jener Minderheit, die dies finanzieren muss, sinkt, und die Zahl der ebenfalls staatsabhängigen Umverteiler in nationalen und internationalen Bürokratien wächst parallel dazu: ein Teufelskreis. Verlässliche Solidarität ist und bleibt jene Gruppensolidarität, die auf wechselseitigen Anreizen und nicht auf Zwang basiert.
Die aktuellen Sozialversicherungssysteme sind ein Relikt aus einer Kriegs- und Krisenzeit, an das man sich auch in der bürgerlichen Politik in erstaunlichem Mass gewöhnt hat.
Was bedeutet ein Verzicht auf kollektiven Zwang nun für die Schwächeren, weniger Leistungsfähigen, die es in jeder Gesellschaft gibt: Wer es nicht schafft, dank Eigenvorsorge und selbstfinanzierten und selbsttragenden Vorsorgeeinrichtungen über die Runden zu kommen, soll trotzdem nicht im Stich gelassen werden. In diesen Fällen soll auch in Zukunft die kollektive, idealerweise lokale Sozialpolitik einsetzen und ihr Auffangnetz spannen: bei den höchstens fünf bis zehn Prozent von wirklichen Not- und Sozialfällen, die es auch ohne Kriege und Krisen innerhalb einer bestimmten Gruppe gibt. Die An- und Abreize für diese Hilfe wären so zu setzen, dass es eher zu einem Abbau als zu einem Ausbau kommt.
Fiskalisch leben wir auch in der sogenannt freien Welt immer noch wie in Kriegs- und Krisenzeiten. Durch Zwangsabgaben und Inflation hat der Staat zunächst breite Bevölkerungskreise kollektiv enteignet und damit jene Vermögenswerte umgeschichtet, auf welcher die lebenslängliche Selbstverantwortung bei der Altersvorsorge in der Primär- und Kleingruppe beruhte. Die beste Sozial- und Familienpolitik würde darin bestehen, jene Bedingungen zu schaffen, in denen die grosse Mehrheit der Bevölkerung ohne staatlichen Zwang und ohne Bevormundung eigenständig existieren kann.
Niemand will Kosten tragen
Die Kosten eines Systemwechsels sind von einer Gruppe von Betroffenen zu tragen, die Opfer des Fehlsystems sind, ohne sich wirksam dagegen wehren zu können. Wir stehen hier vor einem Grundproblem des politischen Systemwechsels: Die Altlasten eines Systems werden stets dem neuen System angekreidet. Der Kapitalismus hatte mit einer Integration des Proletariats in die Gesellschaft zu kämpfen, obwohl die Existenz eines Proletariats eine Altlast des Feudalismus war.
Wenn es einmal darum gehen wird, den Sozialstaat «gesundzuschrumpfen», wird man die Altlasten auch wieder den liberalen Deregulierern und Flexibilisierern zurechnen. Vieles spricht für die Auffassung, dass die Marktordnung gegenüber dem Interventionismus auch für die wirtschaftlich Schwächeren – und gerade für sie – schon mittelfristig mehr Vorteile als Nachteile hat. Ein nicht dauerhaftes System wie der Teufelskreis des demokratisch fehlgesteuerten Wohlfahrtstaats kann mit einer lernfähigen, offenen, marktwirtschaftlich-kapitalistischen Zivilgesellschaft letztlich gar nicht fair verglichen werden.
Die erwähnten Voraussetzungen einer strikt liberalen Deregulierung sind im heutigen Zeitpunkt noch utopisch. Die politischen Gegebenheiten in den mehr oder weniger sozialstaatlich geprägten Demokratien haben bisher die längerfristig gebotenen und im Interesse künftiger Generationen notwendigen radikalen Änderungen blockiert. Die demokratisch legitimierte «politische Diktatur» der gegenwärtigen Egoisten verfälscht den sozialpolitisch und ökologisch notwendigen Generationenvertrag, der mit Aussicht auf Erfolg nur «von unten nach oben» auf der Basis von Privatautonomie, Privateigentum und Solidarität in Kleingruppen aufgebaut werden kann.
Die Mehrheit der vom Staat Profitierenden will derzeit immer mehr, und die Minderheit der hoch Besteuerten kann sich nicht wirksam wehren und beschränkt sich auf Brems- und Ausweichmanöver. Wahrscheinlich wird erst der absehbare finanzielle Ruin des umverteilenden Staates die politische Bereitschaft für einen Ausstieg ermöglichen.