Die Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und Religion – zwischen dem «homo politicus» und dem «homo religiosus» – gehört zu den grundlegenden Themen der Weltgeschichte.
Der Islam unterscheidet nicht zwischen Religion und Politik, diese Trennung ist ihm fremd. Die christlichen Kirchen haben hingegen seit dem Urchristentum um diese Unterscheidung gerungen und leider auch allzu oft und (ohne religiöses Fundament) mit der weltlichen Macht kooperiert.
Die Konstantinische Wende zum Staatskirchentum
Der römische Kaiser Konstantin hat im Jahre 325 die Christenverfolgung beendet und das Christentum der römischen Religion gleichgestellt. Im gleichen Jahr wurde das Konzil von Nicäa einberufen, an dem für die künftige Entwicklung der christlichen Kirche wichtige Weichen gestellt worden sind. Taufen liess sich Konstantin jedoch erst 337 auf dem Totenbett durch Eusebius von Nikomedia, einem Anhänger der arianischen Lehre, die später von der katholischen Kirche als Ketzerei verdammt wurde.
Kaiser Konstantin, der schon zu seiner Zeit «der Grosse» genannt worden ist, war ein Machtmensch. Seinen Schwiegervater, Kaiser Maximianus, liess er 310 erhängen, seinen Schwager Licinius erwürgen, dessen Sohn totschlagen. Crispus, seinen Sohn aus erster Ehe, und Fausta, seine Frau, liess er 326 wegen eines angeblichen Inzests ermorden. Der gesamte Besitz von Fausta, das Erbe der Laterani, gelangte später ins Eigentum des Bischofs von Rom. Jacob Burckhardt bezeichnete Konstantin als Macchiavellisten, Voltaire nannte ihn einen «politisch nicht unbegabten Kriminellen». Seine Entscheidungen haben die Kirchengeschichte und die europäische Geschichte bis heute geprägt. Die durch Konstantin bewirkte Wende von der Christenverfolgung zur Duldung und späteren Privilegierung war massgeblich für das Verhältnis von Kirche und Staat in ganz Europa bis zur Französischen Revolution von 1789, in Deutschland bis zum Ende des Kaiserreichs 1918.
Die bis in unsere Tage folgenreiche Erklärung des Christentums zur ausschliesslichen Staatsreligion fand im Jahr 380 durch Kaiser Theodosius statt. Diese in der Folgezeit vielfältig gedeutete und im orthodoxen Osten und in der römisch-katholischen Kirche unterschiedlich organisierte institutionelle Verknüpfung von Kirche und Staat ist seither aus politischer, aber auch aus theologischer Sicht immer wieder in Frage gestellt worden. Die Auseinandersetzung zwischen religiöser und weltlicher Macht, zwischen Kirche und Staat, ist darum ein historischer Dauerbrenner. Die christlichen Kirchen haben ihren Weg von der bis ins 4. Jahrhundert zunächst vom Staat angefeindeten, dann 325 tolerierten und 380 zur alleinigen Staatsreligion erklärten, später im Mittelalter in Westeuropa durch den Kampf zwischen Kaiser und Papst hin und hergerissenen, im 16. Jahrhundert konfessionell gespaltenen und schliesslich im 19. und 20. Jahrhundert mehr oder weniger frei koexistierenden Gemeinschaft durchschritten und durchlitten.
Gibt es einen christlichen Staat?
Der Schweizer Staats- und Völkerrechtler Max Huber (1874-1960) hat sich in seinen Schriften1 eingehend mit dem oft konfliktgeladenen Verhältnis von Kirche und Staat befasst, In seinem für das Schweizer Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft 1939 verfassten Aufsatz zum Thema «Sind wir ein christlicher Staat?» stellt er fest, dass ein vollkommener und dauernder Friede zwischen Kirche und Staat nicht möglich sei, «weil das christliche Gewissen durch das staatliche Gesetz nicht gebunden werden kann und weil die staatliche Souveränität vor dem individuellen Gewissen und der Forderung der Kirche nicht kapitulieren kann.» Das klingt nicht gerade nach einem Toleranzangebot. Ein solches wäre 1939 angesichts des deutschen Unrechtsstaates ohnehin ein verhängnisvolles Signal gewesen. Max Huber hat keinesfalls zur Versöhnung von Religion und Politik aufgerufen. Im Gegenteil, er hat zwei weltgeschichtliche Potenzen – nicht gesellschaftliche Subsysteme! – klar voneinander abgegrenzt, weil sie je auf einem anderen Fundament beruhen.
Ähnliche Äusserungen finden sich bei William Johnson in seinen 1952 in den USA publizierten «Reflections on Faith and Freedom»: «Das Christentum basiert auf Prinzipien – auf absoluten. Gottes Gesetz ist Liebe, Menschengesetz ist Zwang. Des Christen höchste Verantwortung ist diejenige gegenüber Gottes Gebot und nicht diejenige gegenüber der Regierung und den Gesetzen der Menschen.» Aus dieser Sicht sind politische Bemühungen, dem christlichen Liebesgebot durch wohlfahrtsstaatliche Zwangsnormen Nachdruck zu verleihen, höchst fragwürdig.
Eine klare Trennung von Kirche und Staat wird heute aus zwei völlig unterschiedlichen Blickwinkeln gefordert. Einerseits kann sich eine zunehmende Zahl von Nichtchristen und Agnostikern immer weniger mit dem herkömmlichen Landeskirchentum, das vielerorts in der Schweiz sogar juristische Personen noch mit obligatorischen Kirchensteuern belastet, identifizieren. Doch diese laizistische Sichtweise soll hier nicht weiterverfolgt werden.
Was mich persönlich beschäftigt, ist die zunehmende Vermischung des Gottesglaubens mit dem Glauben an die Vormacht des Staates und die Allmacht oder das Primat der Politik. Seit der Erklärung des Christentums zur Staatsreligion, aber vor allem seit der Abschaffung des politischen Gottesgnadentums in der Französischen Revolution wird die in Europa vielerorts immer noch institutionalisierte Verknüpfung von Kirche und Staat auch von zahlreichen Christen aller Konfessionen grundsätzlich in Frage gestellt. Eine auf dem Glauben und auf der Liebe gegründete Gemeinschaft kann nicht unvermittelt mit einer Institution verknüpft werden, die durch das Zwangsmonopol charakterisiert ist. Ein individuelles Glaubensbekenntnis ist mit dem allgemein verbindlichen Zwang schwer kompatibel. Wer leidet nun aber an der institutionellen Verknüpfung und wer profitiert davon? Würden die vom Staat, von seiner Aufsicht und von seinen Hilfeleistungen bei der Besteuerung und Finanzierung abgekoppelten Religionsgemeinschaften einen weiteren Bedeutungsverlust erleiden? Käme es zu einem neuen Schub an Säkularisierung, oder gar zu neuen Konflikten? Möglicherweise könnten die von allen staatlichen Fesseln, Kontrollen aber auch von allen Zwangsabgaben befreiten Religionsgemeinschaften wieder aktiver und attraktiver werden, wenn sie sich auch menschlich mehr um die vielfältigen Anliegen ihrer Mitglieder kümmern müssten, weil diese die Aufgaben und Kosten durch freiwillige Beiträge persönlich mittragen.
Das Modell der vollständigen Trennung in den Vereinigten Staaten
Die vollständige Trennung von Kirchen und Staat hat in den Vereinigten Staaten nicht zu einer allgemeinen Säkularisierung und zu einem Verschwinden der religiös fundierten Lebensauffassung und -praxis geführt, im Gegenteil. Das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener religiöser Organisationen und Institutionen hat insgesamt zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit Bekenntnisfragen beigetragen. Auch die römisch-katholische Kirche konnte dort ohne staatliche Unterstützung an ihren tradierten hierarchischen Strukturen ohne Abstriche festhalten.
Die Feinde einer offenen Gesellschaft sind nicht jene, die ein bestimmtes Bekenntnis gewählt haben, sondern jene, die ihre politische oder religiöse Auffassung allen Mitmenschen notfalls mit Gewalt aufzwingen möchten. Die meisten autoritären politischen Regime verlangen eine Zwangssolidarität zur Brüderlichkeit, die dem totalitären Motto folgt: «Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.» Das steht im fundamentalen Gegensatz zum bereits im Alten Testament verankerten Gebot «Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du» oder zur neutestamentlichen Feindesliebe, die sich in ihrer Auswirkung als höchst ökonomisches Prinzip entpuppt. Hass ist nämlich nicht nur anstrengend, sondern in fast jeder Beziehung kontraproduktiv und selbstzerstörerisch. Die Bereitschaft, die Allgemeingültigkeit der eigenen Auffassung nötigenfalls (und für eine beschränkte Zeit der Revolution und deren Verteidigung gegen Feinde) mit Gewalt zu erzwingen, ist ihrem Wesen nach autoritär und totalitär. Die christlichen Kirchen haben sich zwar auch im Europa des 20. Jahrhunderts – reichlich spät – generell vom «Zwang zum Glauben» distanziert und mit dem konfessionell neutralen Staat arrangiert. Auf einen letzten Rest an politischer Kontrolle und auf die Möglichkeit zur Besteuerung möchten viele Kirchen aus finanziellen (und auch aus grundsätzlichen) Überlegungen und wohl auch aus Angst vor einem zusätzlichen Mitgliederschwund nicht verzichten.
Das private Kirchentum, in dem Konfessionen nichts anderes als Vereinsmitgliedschaften wären, hat auch seine Schattenseiten. Eine objektive Unterscheidung zwischen traditionellen Kirchen, Glaubensgemeinschaften und Sekten wird nämlich ohne jede politische Kontrollmöglichkeit unvermittelt der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der allgemeinen Meinungsäusserungsfreiheit unterstellt. Doch das Neben- und Durcheinander unterschiedlicher Konfessionen und Fundamentalismen hat wenigstens in den USA eher zu einem friedlichen Wettbewerb als zu einem zerstörerischen Kampf um die geistige Vorherrschaft geführt. Die USA sind bei allem Pluralismus ein christlich geprägtes Land geblieben, in dem um religiöse Fragen und Antworten aktiv gerungen wird.
Dies kann mit dem presbyterianischen Evangelikalen Francis A. Schaeffer (1912-1984) exemplifiziert werden. In seinem auch auf Deutsch übersetzten Buch «Die grosse Anpassung» (Bielefeld 1998), stellt er sich klar gegen alle religiösen Zugeständnisse an den vorherrschenden Zeitgeist und verurteilt alle Versuche der Anbiederung an sozialistische, feministische, ökologistische und esoterische Strömungen, denen heute beispielsweise in den Schweizer Landeskirchen relativ viel Beachtung geschenkt wird. Schaeffers Buch ist zwar ein Aufruf zur Kompromisslosigkeit, wer aber darin jene angebliche Bereitschaft von Fundamentalisten zur Gewalt gegen Andersdenkende wittert, findet dafür keine Belege.
Was Theologen wie Schaeffer gegenüber dem säkularen Zeitgeist, gegenüber dem Unglauben, gegenüber der weit verbreiteten religiösen Indifferenz und Lauheit und gegenüber der Flucht in die Esoterik oder in den Glauben an die Allmacht der Politik fordern, ist nicht Toleranz2, sondern Konfrontation. Er unterscheidet dabei drei Typen: Lieblose Konfrontation, keine Konfrontation und liebevolle Konfrontation. Nur letztere charakterisiert er als biblisch. Aktive liebevolle Konfrontation stellt höhere Ansprüche als passive Toleranz. Diese christlich-fundamentalistische Stossrichtung hat
mit dem aggressiven islamistischen Fundamentalismus, welcher Terror nicht nur duldet, sondern sogar zum Terror aufruft und diesen nachträglich verherrlicht, überhaupt nichts zu tun. Denn es gibt hier keinen Zwang zum Glauben; und Freiheit bewährt sich im Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Pflichten, Vorschriften und Forderungen, die man weder innerlich noch äusserlich akzeptiert. Freiheit ist ein Exodus aus der Knechtschaft, eine Weigerung, abhängig zu sein.
Persönlich schwanke ich immer wieder zwischen meiner liberalen Neigung zur allgemeinen Staatsskepsis und dem vernünftig-aufklärerischen Ruf zum politischen Realitätssinn, der bereit ist, mit den bestehenden politischen Strukturen einen Kompromiss einzugehen. Die Freiheitsliebe lässt sich rational nicht vollständig aufschlüsseln, denn sie hat stets auch eine emotionale und glaubensmässig verankerte Komponente. Die Freiheit ist ein Ziel, das stets gleichzeitig (von aussen) unendlich bedroht und (von innen) unendlich resistent ist. Das erste wissen wir, an das zweite wollen wir glauben. – Anhand von zwei Persönlichkeiten, deren Werk mich seit Jahren beeindruckt und beschäftigt, soll das gesellschaftliche Spannungsfeld weiter abgesteckt werden.
Heinrich Pestalozzi und die drei Ebenen der menschlichen Natur
Pestalozzi (1746-1827) hat in seinen «Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts» (1797) in einer typisch eidgenössischen Weise mit der mittelalterlichen Ständelehre gehadert und abgerechnet.
Die Klassifizierung der Menschen in einen Wehrstand (Adel), einen Lehrstand (Klerus) und in einen Nährstand (Produzenten) lässt sich bis Platon zurück verfolgen; und ihr Ursprung fällt vermutlich mit dem Ursprung der Arbeitsteilung zusammen. In der Eidgenossenschaft kam es schon früh zu einer Identität von Nährstand und Wehrstand, und der Lehrstand wurde knapp gehalten. Pestalozzi konnte daher von Beobachtungen ausgehen, von Beobachtungen der «einfachen Resultate, zu welchen die Erfahrungen meines Lebens mich hingeführt haben». So fand er die drei Stände in sich selbst wieder, als drei Zustände:
- den Naturzustand (als für sich selbst bestehendes Tier),
- den gesellschaftlichen Zustand (als Bürger im Staat)
- und den sittlichen (als »Kind im Reich Gottes«).
In unserem Zusammenhang interessiert lediglich die Tatsache, dass der bürgerliche Zustand in jenem Zwischenfeld angesiedelt wird, der zwischen dem Menschen als einem egoistischen Tier (das Pestalozzi durchaus auch positiv beurteilt) und dem vom Geist der Hoffnung, der Offenheit gegenüber dem Unbekannten und Neuen sowie von der Lernbereitschaft beseelten und getragenen «Kind Gottes» liegt. Der bürgerliche Zustand ist gekennzeichnet durch das Spannungsfeld zwischen Selbstsucht und Wohlwollen. Die Weisheit der bürgerlichen Gesetzgebung, die auf Erwerb, Eigentum und Verdienst hinwirkt, besteht darin, «dass sie den Menschen durch den Besitz bürgerlicher Rechte und Freiheiten zum Gemeingeist, zur Rechtlichkeit und zur Teilnehmung erhebt.»
Eine völlig andere Qualität hat die Freiheit des Menschen als «Kind Gottes». Sie ist radikal individualistisch. Um sie zu verstehen, muss man sich vom christlich-religiös gefärbten Terminus lösen und existenzialistische Deutungsmöglichkeiten mit einbeziehen: «Ich besitze eine Kraft in mir selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst, unabhängig von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu meiner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen und dieselben nur in diesem Gesichtspunkte zu verlangen oder zu verwerfen. Diese Kraft ist im innersten meiner Natur selbständig; ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgendeiner andern Kraft meiner Natur. Sie ist, weil ich bin; und ich bin, weil sie ist.»
Mit dem Begriff »Kind« hat aber Pestalozzi einen weiten Horizont eröffnet und gleichzeitig an eine alte Tradition angeknüpft: Die ‹liberi›, das sind im alten Rom die freien Menschen, es sind auch die erbberechtigten (und später wiederum erbverpflichteten) Kinder. Freiheit steht hierbei als Ausdruck aktueller und oft auch nur potenzieller Mündigkeit. Denn derselbe Begriff bezeichnet Freie und Kinder, welche die Chance der Freiheit erst noch vor sich haben, die neugierig, phantasievoll, lernbereit und -fähig sind, und deren Zukunft offen steht. Kinder sind stets etwas mehr als nur Produkte der Natur und mehr als nur angehende Mitglieder der Bürgergesellschaft. Darin liegt wohl ihr unbekanntes Wesen, chancenreich und risikoträchtig; – gleichermassen Evolution und Revolution, ‹libertas›, Freiheit in ihrer ursprünglichsten Form.
Pestalozzis anthropologisches Konzept der zivilgesellschaftlichen Bürgerlichkeit ist zukunftsträchtig. Es wird aus den Trümmern der Massengesellschaft nach der grossen Pleite des etatistischen, kollektivistischen und bürokratischen Machbarkeitswahns hervorgehen, eine Wende, die allerdings in Westeuropa noch in ziemlich weiter Ferne zu liegen scheint.
Bürgerlichkeit verlangt überschaubare Rechte und Pflichten, transparente Verhältnisse bezüglich gemeinsamen Einnahmen und Ausgaben und eine Vergleichbarkeit von persönlichen Nutzen und Opfern. Der französische Liberale Frédéric Bastiat, übrigens ein überzeugter Katholik, hat den Nagel auf den Kopf getroffen, als er schon vor 150 Jahren den Staat als die grosse Illusion bezeichnete, aufgrund welcher alle danach trachten, auf Kosten der andern zu leben. Hat er schon damals, als es gerade so richtig begonnen hatte, die Krise des bürgerlichen Zeitalters vorausgeahnt, den Übergang zur wohlfahrtsstaatlichen Massengesellschaft?
Wilhelm Röpke und die Verknüpfung von Wirtschaft und Moral
Wilhelm Röpke (1899-1966) gehört zu den wichtigsten Liberalen des 20. Jahrhunderts. Freiheitliches Gedankengut stand für ihn im Zentrum seines wissenschaftlichen und publizistischen Wirkens. Sein Name bleibt für Kenner der Ideengeschichte unauslöschlich mit dem Begriff des Neoliberalismus verbunden, auch wenn dieser Begriff heute in einer anderen Bedeutung im Umlauf ist, mit der sich Röpke kaum identifiziert hätte. Neoliberalismus war für ihn gerade nicht die vorwiegend im 19. Jahrhundert entwickelte Lehre vom Freihandel, von der durch Marktprozesse gewährleisteten Interessenharmonie und vom «Laisser faire», sondern ein an die Gegebenheiten und Widerwärtigkeiten des 20. Jahrhunderts adaptiertes Ordnungsprinzip, ein «Dritter Weg» – eine Synthese zwischen Moralismus und Ökonomismus.
«Nationalökonomisch dilettantischer Moralismus ist genau so abschreckend wie moralisch abgestumpfter Ökonomismus, und leider ist das eine so verbreitet wie das andere.»3 Röpke unterscheidet einen «unvergänglichen Liberalismus», welcher für ihn als Idee «im Grunde das Wesen der abendländischen Kultur schlechthin ausmacht» von einem «vergänglichen Liberalismus», welcher als wirtschaftspolitische Doktrin aus dem letzten Jahrhundert seine Aktualität weitgehend eingebüsst habe.
Dem Konzept des allgegenwärtigen ‹homo oeconomicus›, der die ganze Welt nur unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Nutzen evaluiert, stellte er das Konzept des ‹homo religiosus› gegen-
über, der Mensch, der zwischen Einbindung und Abgrenzung nach «Mass und Mitte» strebt, der Mensch, dessen seelische Bedürfnisse in der säkularisierten Massengesellschaft zu kurz kommen.
Dieses tiefe Unbefriedigtsein der Seele führt, so Röpke, zur Suche nach einem Glaubensersatz und «zur immer totaleren Ideologisierung und Politisierung unseres Lebens. Dieser Entwicklung kann man immer schwerer entrinnen, und vielleicht ist es sogar ein eigentlicher Fluch unserer Zeit, von der die Pest des Kommunismus nur ein besonders bösartiger Spezialfall ist. Beobachten sie die pseudoreligiöse Inbrunst der Utopisten, der Weltverbesserer, die dann die Welt nur schlimmer machen und eigentlich Weltverschlimmerer heissen sollten.»4
Röpkes Gesellschaftstheorie basiert auf einer Mischung von Optimismus und Pessimismus. Gegenüber der moralischen Kraft unternehmerischer Individuen ist er optimistisch, gegenüber der vorherrschenden Tendenz zur Vermassung und Verstaatlichung pessimistisch. Möglicherweise ist er als Fortschrittsskeptiker gegenüber dem Verhältnis von Markt und Moral zu pessimistisch gewesen. Er hat mit guten Gründen vor den Gefahren der Vermassung in einer schrankenlosen Konsumgesellschaft gewarnt, aber er hat wohl die Chancen unterschätzt, die durch den Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft eröffnet worden sind. Erfolgreiche und befriedigende Dienstleistungen verlangen vom Anbieter das Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse der Kunden, die ihrerseits nicht grenzenlos manipulierbar sind. Die von Röpke zu Recht geforderte moralische Basis des Wirtschaftens kommt also nicht ausschliesslich «von aussen» ins Marktgeschehen. Sie hat auch das Potenzial, zu einer tragenden Säule des nachhaltig erfolgreichen Wirtschaftens zu werden. Der Markt kann zwar auch in einer Dienstleistungsgesellschaft nicht ohne moralische Basis funktionieren, aber vieles deutet darauf hin, dass Märkte und vor allem Dienstleistungsmärkte, im Wettbewerb nicht primär die Aggressivität fördern, sondern die Fähigkeit, sich in die Bedürfnisse anderer einzufühlen. Sympathie wird – auch wirtschaftlich – lohnend, moralische Verhaltensweisen werden vom Markt nicht nur benötigt und genutzt, sondern auch hervorgebracht und kultiviert. Dies gilt zwar nicht in allen Fällen, aber in der Tendenz. Moral steht prinzipiell nicht im Widerspruch zum Wirtschaftlichen, selbst wenn dieses – wie bei Röpke – in einem engeren, vorwiegend an materielle Bedürfnisse anknüpfenden Sinn definiert wird.
Röpkes Beobachtungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg sind von einer ernsten Sorge geprägt. Er vermisst als Ökonom jene traditionellen Werthaltungen, die «Jenseits von Angebot und Nachfrage» liegen. So lautet der Titel seines erstmals 1958 erschienenen Buchs, das als wichtigste Schrift aus seinem Spätwerk gilt. Röpke engagiert sich darin für einen «Dritten Weg», bei dem sowohl der sozialistische Materialismus als auch die einseitig kapitalistische Ausrichtung auf das Gewinnstreben überwunden werden soll. Er erwartet die Rettung nicht vom Staat, denn er zweifelt daran, dass persönlich und freiwillig praktizierte Solidarität durch staatliche Zwangssolidarität ersetzbar sei. Der Verlust der religiös fundierten in Freiheit gewählten Moral, darf nicht durch eine politisch verordnete Zwangsmoral kompensiert werden. Wer dies fordert ersetzt den Glauben an die Allmacht Gottes durch den Glauben an den allmächtigen Staat. Diese Tendenz steht im Widerspruch zu dem, was Röpke als «Dritter Weg» vorschwebte. Die Hoffnung, man könne «mehr Moral» durch «mehr Staat» herbeizwingen, ist für ihn eine gefährliche Illusion. Röpkes «Dritter Weg» ist kein neuer Kompromiss zwischen Staatswirtschaft und Marktwirtschaft, und auch keine neue Verknüpfung von Kirche und Staat. Er setzt auf eine Gesellschaftsordnung, die weder auf Zwang noch auf Gewinnstreben, sondern auf einem frei gewählten Engagement für das Gemeinwohl beruht, verbunden mit dem Risiko, dass es immer auch Profiteure, Drückeberger und moralische Versager geben wird. Sowohl der Staat als auch die Wirtschaft bleiben auf jene Menschen angewiesen, die sich aus innerer Berufung und abgestützt auf ihre persönliche Überzeugung für das Gemeinwohl einsetzen.
1 VERMISCHTE SCHRIFTEN BAND II, Zürich 1948, S. 130.
2 Toleranz bedeutete im Altertum die Duldung religiöser Minderheiten durch die politischen Machthaber. Sie wird also seit je «von oben herab» zugestanden und nicht demokratisch vermittelt. Eine Minderheit kann sich nicht durch Toleranz vor einer vorherrschenden Mehrheit schützen.
3 WILHELM RÖPKE: WIRTSCHAFT UND MORAL, in: WORT UND WIRKUNG, Verlag Walter Hoch, Ludwigsburg 1964, S. 73.
4 WIRTSCHAFTSPOLITIK IM POLITISCHEN RAUM, ibidem, S. 29.