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Erzwungene oder spontane Ordnung?

Lesedauer: 19 Minuten
Abgedruckt in: Kapitalismus, Fluch oder Segen? Eine Debatte, Hrsg. Tito Tettamanti, BILANZ; Zürich 2004, S. 87-111

«Das einzige Problem, das Anhänger der Marktwirtschaft haben ist, dass sie miserable Ideenverkäufer sind. Das einzige, was Sozialisten stets besser können als Kapitalisten, ist sich selbst und ihre Ideen zu verkaufen.» Diese Selbstkritik stammt von Leon Louw, der in Südafrika einen Think-Tank mit dem Namen «Free Market Foundation» leitet. Ob er an dem Verdikt auch nach der Lektüre von Tito Tettamantis «Die sieben Sünden des Kapitals» festhalten würde, ist fraglich.

Der Autor, Tito Tettamanti ist selbst ein erfolgreicher Unternehmer, der die Bezeichnung «Kapitalist» keineswegs als Schimpfwort empfindet. Es ist im deutschen Sprachgebrauch eher unüblich, dass sich Anhänger des Freihandels und Gegner des Etatismus, des Sozialismus, des Korporatismus, des Interventionismus und des Protektionismus offen als «Kapitalisten» bezeichnen. Der Begriff leidet im Deutschen unter der Doppeldeutigkeit «Befürworter einer kapitalbezogenen Wirtschaftsordnung» und «Person mit grossem Geldvermögen», zwei Umschreibungen, die zwar gelegentlich übereinstimmen, aber logisch nicht verknüpft sind. Die Aussage «ich bin Kapitalist» kann daher auf Deutsch zwei völlig verschiedene Bedeutungen haben, eine ideengeschichtliche und eine vermögensmässig persönlich klassifizierende. Eine weitere Quelle von Missverständnissen liegt in der Tatsache, dass es nicht nur den Privatkapitalismus gibt, sondern auch den Staatskapitalismus, der auch in der Spielart des staatsmonopolitischen Kapitalismus vorkommt. Im Italienischen wie im Englischen ist der Kapitalismus-Begriff nicht derart klassenkämpferisch aufgeladen wie im Deutschen. Wenn Tettamanti den italienischen Sprachgebrauch, in welchem «Sozialismus» und «Kapitalismus» als ideologische Optionen gleichberechtigt gegenüberstehen, in die Diskussion einbringt, so ist dies ein willkommener Beitrag zur ideologischen Entkrampfung einer Auseinandersetzung, die nun schon über 150 Jahre geführt wird und deren Ende nicht absehbar ist. Auch der Schwede Johan Norberg hat mit seinem Buch «Das kapitalistische Manifest» (dt. Übersetzung, Eichborn 2003) einen wertvollen Beitrag zur Normalisierung der Diskussion geleistet. Tettamantis Buch wurde nach eigener Aussage nicht geschrieben, um möglichst viele Gegner des Kapitalismus zu bekehren, sondern um seinen Anhängern ein Argumentarium zur Verfügung zu stellen, wenn sie ihre Position gegenüber Angriffen aus verschiedensten Lagern verteidigen müssen. Das Buch ist entstanden, weil der Autor immer wieder feststellte, dass es den Anhängern der Marktwirtschaft beim Vertreten ihrer Anliegen oft nicht nur am nötigen Selbstbewusstsein fehlte, sondern auch am entsprechenden Wissen um grundlegende Fakten und Zusammenhänge. Auf zehn kapitalismuskritische Publikationen gibt es höchstens eine, welche den Gegenstandpunkt bezieht. Dies ist wohl mit ein Grund, warum Anhänger der Marktwirtschaft in Diskussionen oft vorzeitig vor ihren Anklägern kapitulieren oder sich der Auseinandersetzung gar nicht erst stellen.

Wenn ich nun als Publizist und Leiter des Liberalen Instituts zu diesem Buch Stellung beziehe, so erwartet wohl niemand, dass ich mich auf einzelne Schwächen und Unklarheiten konzentriere, die in jedem Buch – und ganz besonders in jeder Übersetzung – vorkommen. Es geht im Folgenden um ergänzende Bemerkungen, um ein Nachdoppeln mit anderen Worten, um Untersteichungen und um Nuancierungen und gelegentlich auch um eine andere Fragestellung und eine radikalere Akzentsetzung, die möglicherweise über das hinausgeht, was der Autor kommunizieren wollte.

Der markanteste Unterschied zwischen dem Autor und dem Kommentator besteht nicht in der bei beiden eindeutigen Option für den Kapitalismus im wirtschafts- und ideengeschichtlichen Sinn, sondern für die Art und Weise, wie Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle einander gegenübergestellt werden. Zunächst noch eine Bemerkung zur Terminologie. Ich ziehe es vor, von Privatautonomie zu reden, von Markt, Mündigkeit und Menschenwürde. Meine Zurückhaltung gegenüber der Verwendung des Begriffs «Kapitalismus» beruht aber nicht auf der Angst vor möglichen Missverständnissen beim Kapitalbegriff. Mich stört das Suffix «-ismus», – übrigens auch beim Liberal-ismus. Ich habe immer wieder dafür plädiert, dass es gute Gründe gibt, die Frage nach der bestmöglichen Wirtschaftsordnung nicht aufgrund der Gegenüberstellung von «-ismen» zu beantworten, nach dem fragwürdigen Muster: System A (z.B. Sozialismus), gegen System B (z.B. Kapitalismus). Ein Systemvergleich, bei dem Vor- und Nachteile gemessen und auf gleicher Ebene verglichen werden, verleitet nämlich fast zwingend zum Versuch, die Vorteile der beiden Systeme zu kombinieren und daraus, wie dies u.a. Antony Giddens (The third way, 1998) versucht hat, einen «Dritten Weg» zu zimmern.

Meine Betrachtungsweise ist eine andere, radikalere, die sowohl an Karl R. Popper als auch an Friedrich A. von Hayek anknüpft. Freiheit bedeutet die Negation von Systemen, Hierarchien und Modellen, die Bejahung des permanenten, offenen Experiments, das Ja zum mündigen Menschen, welches das Risiko des Scheiterns in Kauf nimmt. Es geht im Folgenden nicht um terminologische oder ideologische Spitzfindigkeiten, sondern um eine Methode des Argumentierens, die bei gleichen Grundoptionen häufig zum gleichen Resultat führt, aber gelegentlich doch auch interessante Differenzen sichtbar werden lässt, vor allem, was die Bereitschaft zu Kompromissen betrifft. Kompromisse zwischen «System A» und «System B» haben eine andere (oft mindere) Qualität als Kompromisse zwischen «System» und «Non-System».

Der Sozialismus, der sich auf eine bestimmte wissenschaftliche Theorie der Gesellschaftsentwicklung beruft und der damit zu Recht als System bezeichnet wird, steht, gemeinsam und gleichberechtigt mit anderen «-ismen», einem Ansatz gegenüber, der keine geschlossene Theorie anerkennt und zu einer anderen Gegenüberstellung tendiert: Bewusste Lenkung gegen spontane Entwicklung, Intervention gegen Nicht-Intervention. Es stehen also nicht zwei Systeme gegenüber, sondern auf der einen Seite steht ein System, zu dem man sich bekennt und auf der anderen Seite das Bekenntnis gegen jede Option für ein System: System gegen Non-System. Natürlich wissen auch Anhänger von Non-Systemen, dass wir in einer Welt leben, in welcher vor allem die politischen Systeme, die Nationalstaaten, einen markanten Einfluss auf das Leben der Individuen und Gemeinschaften ausüben. Auch die Tatsache, dass eine technisch-zivilisierte weltoffene Gesellschaft einen hohen Regulierungsbedarf hat, ist ihnen bekannt. Nur möchten sie eben die notwendigen Regulierungen vorzugsweise über die Zivilgesellschaft, d.h. über flexible Vereinbarungen zwischen Beteiligten und Betroffenen lösen und nicht über den allgemeinverbindlichen und seinem Wesen nach starrem staatlichen Zwang. Die Liberalen gehen, nach einer Formulierung von Hayek, davon aus, «dass niemand wissen kann, wer etwas am besten weiss und dass der einzige Weg, auf dem wir es finden können, der Weg durch einen sozialen Prozess ist, in dem jedermann versuchen kann…, was er zustande bringt. Die grundlegende Annahme ist hier wie überall die unbegrenzte Vielfalt der menschlichen Begabungen und Fähigkeiten und folglich die Unkenntnis des einzelnen Individuums um den größten Teil dessen, was sämtlichen weiteren Mitgliedern der Gesellschaft zusammengenommen bekannt ist.»

Möglicherweise braucht es sogar, als notwendiges Übel, ganz kleine konkurrierende non-zentrale Systeme, die spontan aufeinander einwirken und die als ganzes dann doch eher einen hoch komplexen Organismus, als ein rationales System bilden. Selbstverständlich sind auch die skeptischen Befürworter von Non-Systemen persönlich nicht frei von Präferenzen, Interessen und Vorurteilen, die gelegentlich sogar recht systematisch gebündelt werden, ohne dass dies immer fair deklariert würde. Gerade die Befürworter von Non-Systemen tun darum gut daran, sich immer wieder der Kritik und der Selbstkritik zu stellen. Wer sich als Gegner des ideologischen, gesellschaftlichen und politischen Konstruktivismus bezeichnet, sollte sich daher, wie es Tito Tettamanti mit der Einladung zu einem kritischen Buch über sein Buch praktiziert, immer wieder prüfen, ob er eben nicht doch die Tendenz hat, das, was er für sich selbst für verbindlich hält, auch andern allgemeinverbindlich vorschreiben zu wollen. Sowohl bei Popper wie auch bei Hayek liegt die Beweislast bei den Verändern. Dies wirkt sich in einer politisch hoch regulierten Gesellschaft in Kombination mit dem Mehrheitsprinzip oft ausschliesslich als konservative Bremse aus. Dem innovativen Geist des Unternehmertums entspricht dies nicht. Tettamanti fordert in verschiedenen Bereichen «weniger Staat», aber er stellt sich der Herausforderung, auch diesbezüglich den Weg der rationalen Argumentation zu beschreiten, ohne dies mit einem absoluten ideologischen Wahrheitsanspruch zu verbinden.

In den folgenden Bemerkungen versuche ich, anhand der Themen des Buchs «Die sieben Todsünden des Kapitalismus», zu illustrieren, was der Non-System-Ansatz zur Diskussion beitragen kann. Ich verwende dabei auch Auszüge aus Vorträgen und Artikeln, die ich aber anhand der spezifischen Fragestellung neu redigiert habe.

Einleitend seien einige Bemerkungen festgehalten, die zu erklären versuchen, warum Intellektuelle mehrheitlich dem Sozialismus zuneigen und warum sie sich vornehmlich als Ankläger des Kapitalismus profilieren.

Die Intellektuellen sehen sich als die Ingenieure einer künftigen Gesellschaft und sie massen sich an, über das hiefür notwendige Wissen – wenigstens zum Teil – zu verfügen. Sie weigern sich, die Begrenztheit des Wissens des Individuums oder einer beliebigen (Politiker-)Gruppe zu akzeptieren, weil das gegen ihre Allmachtsphantasien verstösst.

Man hat in der Phase des Kalten Kriegs in der öffentlichen Debatte vielleicht allzu grob vereinfachend von einem sozialistischen Ostblock gesprochen, der einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen “freien Welt” gegenübergestellt wurde. Diese ideologische Zweiteilung der Welt, hat auch das grob vereinfachende dialektische Systemdenken gefördert: Sozialismus auf der einen, Kapitalismus auf der anderen Seite. Dabei hat man geflissentlich übersehen, dass sich im 20. Jahrhundert, u. a. in der Folge von zentral verwalteten Kriegswirtschaften, die den Weg zurück zur marktwirtschaftlichen Normalität nicht mehr fanden, in den meisten Staaten Westeuropas eine Art gemischtwirtschaftlicher Soft-Sozialismus entwickelt hat, bei dem Staatsquoten von 50 Prozent und mehr auch zu 50 Prozent Staatswirtschaft geführt haben. Auch die Schweiz ist diesbezüglich keine Ausnahme.

Nach dem Scheitern sozialistischer Experimente bleibt in der Regel nicht nur eine ökonomische und ökologische Wüste zurück, sondern auch ein ruiniertes Sozialgefüge und ein Chaos des Misstrauens und der krassesten Egoismen. Was sich heute in vormals sozialistischen Ländern an asozialem und unethischem Verhalten manifestiert, ist nicht etwa der “Preis” neuer Freiheiten und die Begleiterscheinung eines aufkeimenden Kapitalismus, sondern die schwere Altlast einer Doktrin, welche mit dem Ziel angetreten war, die Menschen durch Zwang und zentrale Planung gleichzeitig wohlhabender und mitfühlender zu machen. Staatlich erzwungener Sozialismus macht die Menschen offensichtlich asozial.

Die heute aktuelle Spielart des Sozialismus hat durch den beschränkten Einbezug von Privateigentum und Marktwirtschaft an Realitätsbezug gewonnen. Er hat sich zu einem gegen kapitalistische Kritik weitgehend immunisierten Soft-Sozialismus entwickelt. Der Sozialismus hat dank seiner Unschärfe offenbar die Fähigkeit, wie ein Phönix aus der Asche gescheiterter Experimente aufzusteigen. Seine Anhänger finden immer wieder neue Ausreden für das Scheitern und immer wieder neue Argumente für eine Wiedergeburt unter veränderten Randbedingungen. In einer Mischung von Prinzipien ist es eben relativ einfach, das Scheitern einem Zuviel des Gegenprinzips und einem Zuwenig des eigenen zuzuschreiben und der definitive Beweis lässt sich nicht führen. Systemvergleiche sind allerdings möglich und die Zahlen und Fakten sprechen für den Kapitalismus, selbst wenn man den Lebensstandard der Armen zum Massstab nimmt.

Seit der Antike ist es gebräuchlich, die Gesellschaft in drei Teilbereiche zu gliedern: Politik, Wirtschaft und Sozio-kultur. (Niklas Luhmann hat daraus seine Theorie von Systemen und Subsystemen entwickelt). Die Wirtschaft ist m.E. kein «Subsystem» der Gesellschaft und die Gesellschaft ist möglicherweise besser als ein sich dynamisch entwickelnder hochkomplexer Organismus zu deuten. Die Vorstellung von Systemen verbaut den Blick auf das Dynamische, rational nicht Fassbare. Wirtschaft ist im weitesten Sinn “Human Action” (wie dies Ludwig von Mises im Titel seines Hauptwerkes zum Ausdruck bringt): Informationsaustausch, Güteraustausch, Dienstleistungsnetzwerk, Arbeitsteilung, Kommunikation schlechthin, und jede Reduktion auf ein materielles Gewinnstreben im engeren Sinn, führt in die Irre. Darum ist die Gegenüberstellung “Sozialismus” hier, “Kapitalismus” dort, und evtl. “Dritter Weg” in der Mitte oder jenseits, durch eine Fragestellung bestimmt, die nie zu befriedigenden Antworten führen kann.

«Den» Kapitalismus und «die» Wirtschaft gibt es gar nicht. Sie sind ein polemisches Konstrukt, die Projektion einer Verschwörungstheorie, bzw. der Ausdruck eines Feindbilds ihrer Kritiker. Es gibt die Institution des Geldes, eine durchaus geniale Erfindung, mit jener des Rades, der Sprache oder der Schrift vergleichbar. Wer daraus nur den Ursprung aller Gier ableitet, muss funktionierende Alternativen dazu anbieten können. Es gibt die Institution des Staates, ebenfalls eine menschheitsgeschichtliche Errungenschaft (die allerdings möglicherweise im Positiven überschätzt wird). Eine vergleichbare Institution namens «Wirtschaft» gibt es nicht. Wirtschaft ist ein hoch komplexer Vorgang, bei dem die Bedürfnisbefriedigung über Tausch und Arbeitsteilung abgewickelt wird. Die Meinung, «Wirtschaft» bzw. «Weltwirtschaft» könne von ein paar Supermächtigen «veranstaltet» werden, beruht auf einer gefährlich naiven Überschätzung der Steuerbarkeit hoch komplexer Phänomene. Es schimmert die Erwartung durch, diese geldgierigen Mächtigen müssten lediglich durch eine vernünftige humanitär ausgerichtete intelligente Führungscrew (zu der man gern gehören möchte) ersetzt werden, und der Planet wäre gerettet und sämtliche Übel besiegt. Das kapitalistische Wirtschaften wird aber nicht veranstaltet. Der Tausch ist in Form des Stoffwechsels ein Naturphänomen, eine Voraussetzung organischen Lebens, und Arbeitsteilung gibt es auch im Tierreich.

Bemerkungen zu Kapitel 1:

Kapitalismus und Globalisierung

Tettamanti zeigt anhand Lottieris Unterscheidung von Globalisierung und Globalismus auf, dass die Wirtschaft und die Politik unterschiedliche Bezugsräume haben und dass es immer weniger Sinn macht, wenn man die Wirtschaft in merkantilistischer Manier an nationalstaatliche Grenzen fesseln will. Mit andern Worten: Weltwirtschaft (Globalisierung) ist realistisch, und sie bietet Vorteile für alle. Ein Weltsaat (Globalismus) hat hingegen erheblich mehr Nachteile als Vorteile, weil er den Pluralismus beschneiden, den Wettbewerb um die bestmögliche Politik beschränken und damit kreative Ungleichheiten und Lernprozesse verhindern würde.

Das Thema Globalisierung steht heute im Zentrum der ideologisch-politischen Auseinandersetzung. Die Linken haben im letzten Jahrhundert den “langen Marsch” durch die Sprache (und durch das an Mittelschulen vermittelte allgemeine Geschichts- und Wirtschaftsverständnis) gewonnen, und wir Marktwirtschaftler müssen als Widersacher dieser Irrlehren immer wieder in der Sprache der Gegner reden, wenn wir diese nicht systematisch zurückweisen. Das beginnt schon beim Gebrauch der Begriffe «Kapitalismus» und «Wirtschaft».

Die Sozialisten hatten einmal die Utopie der Globalisierung für sich gepachtet: den Weltkommunismus. Er blieb aber ein Desiderat einiger Intellektueller. Der real existierende Sozialismus war stets ein National-Sozialismus, bzw. ein Imperial-Sozialismus unter sowjetischer Vorherrschaft. Darum reagieren die heutigen sozialistischen Intellektuellen so empfindlich auf das von den Kapitalisten ziemlich erfolgreich eingeleitete Projekt der Globalisierung, das sich allerdings noch in einem Frühstadium befindet und von niemandem veranstaltet und gesteuert wird. Der Begriff «Globalisierung» ist irreführend. Globalisierung ist das, was sich abspielt, wenn der Interventionismus und der Protektionismus von Nationalstaaten und Wirtschaftsblöcken dereguliert, bzw. schrittweise aufgehoben wird. Sie ist weder gut noch schlecht, sie findet einfach statt. Globalisierung setzt sich nicht durch, weil sie von Mächtigen gewollt wird, sie ist eine Begleiterscheinung der technischen Zivilisation mit ihren Kommunikationsmitteln, die sich rein technisch durch politische Organisationen nicht mehr zensurieren und kontrollieren lassen.

Globalisierung wird sehr häufig mit einer «Entfesselung der Marktkräfte» gleichgesetzt, welche die Ungleichheit fördere und die sogenannte «Schere zwischen arm und reich» noch mehr öffne und damit den sozialen Frieden gefährde. Es kann nicht bestritten werden, dass die Deregulierung des Welthandels, die man auch Globalisierung nennt, die Ungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern verschärft hat. Nur: Ist eine Rückkehr zur Regulierung, ist eine Reregulierung oder Umregulierung, eine Aufteilung der Welt in Blöcke, ein gangbarer Weg, um das Problem der zunehmenden Ungleichheit zu lösen, und sind die Armen absolut gesehen ärmer geworden, oder nur in Relation zu den Reicheren?

Möglicherweise müssen Sozialismus und Kapitalismus als Stufen der Entwicklung vom grösseren zum kleineren Irrtum und nicht als These und Antithese verknüpft werden. Kapitalismus ist das, was sich abspielt, wenn es keine zentrale Instanz gibt, welche Allgemeinverbindliches formuliert und erzwingt. Der Kapitalismus funktioniert auch ohne Weltbank und UNO. Er braucht keinen Weltstaat als politische Infrastruktur, welcher ihn «veranstaltet» und auch keine weltweite Verschwörung einer mächtigen profitgierigen Clique. Der Übergang vom “national-sozialistischen” Zeitalter zum global-spontanistischen bzw. -kapitalistischen Zeitalter könnte als ein Vorrücken auf der Entwicklungsspirale in der menschheitsgeschichtlichen Evolution gedeutet werden. Aus dieser Perspektive wird die argumentative Schwäche der gleichberechtigten Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapitalismus gut sichtbar. Alle Bemühungen um eine Synthese und um einen «Dritten Weg» zwischen dem, was zunehmend obsolet wird, weil es nicht funktioniert und dem, was sich faktisch durchsetzt, weil es den real-existierenden Menschen entspricht, wären dann verlorene Liebesmüh’.

Bemerkungen zu Kapitel 3:

Öffentliche Güter und Marktversagen

Tettamanti plädiert auch in diesem Kapitel für eine Optimierung des Zusammenwirkens von Markt und öffentlicher Infrastruktur, mit einer gut begründeten Präferenz für den Markt. Immerhin schliesst das Kapitel, zwar realistisch, aber etwas resigniert, mit dem Wunsch, man möge doch der Marktwirtschaft wenigstens »ihren Spielraum geben». Dahinter steht das Motto: So viel Staat wie nötig, soviel Markt als möglich. Damit kommt er argumentativ den Interventionisten schon ein weites Stück entgegen. Die Intervention wird damit zu einem graduellen Problem, obwohl sie ein prinzipielles ist. Der Markt versagt beim Verteilen knapper Güter nicht, aber er bewirkt unter Umständen Resultate, die aus sozialpolitischer Sicht korrekturbedürftig sind.

Für die einen ist das Marktversagen und für die andern das Staatsversagen die Wurzel aller Übel, und beide Erklärungen basieren auf einer unzulässig vereinfachenden Fragestellung und Schuldzuweisung. Die Politiker können sich als Akteure in einem System, das auf dem Mehrheitsprinzip beruht in vielen Fällen gar nicht anders verhalten, als sie dies tun und dasselbe gilt für die Akteure auf dem Markt, der dem Abweichen vom Gewinnstreben sehr enge Grenzen setzt. Das Wachstum der Staatsaufgaben und der Staatsausgaben ist nicht ausschliesslich durch einen unstillbaren Machthunger der politisch Einflussreichen zu erklären und auch nicht nur durch den Erfolg der etatistischen Linken.

Europa steht nach 1989 vor einer neuen Situation. Während die Länder des ehemaligen Ostblocks schrittweise und nicht ohne Rückfälle vom Sozialismus verabschieden konnten, grassiert im “alten Europa” eine merkwürdige Mischung von Markt und sozialistischem Interventionismus. Die traditionelle Landwirtschaft überlebt in Europa nur dank Protektionismus und Interventionismus. Die Altersvorsorge ist durch das Umlageverfahren mindestens teilweise verstaatlicht, Schlüsselbereiche wie Bildung, Gesundheit und Kommunikation sind als «service public» weitgehend planwirtschaftlich organisiert und müssen daher plafoniert, rationiert und preiskontrolliert werden. Diese Tatsachen erfreuen sich bis weit in das Lager der sogenannt pro-marktwirtschaftlichen bürgerlichen Parteien einer hohen Akzeptanz. Man argumentiert wie folgt: Weil es in diesen Bereichen um Lebenswichtiges geht, um die positive Bereitstellung von “Voraussetzungen der Freiheit”, muss man auch aus liberaler Sicht für gemischtwirtschaftliche oder planwirtschaftliche Lösungen eintreten.

Es ist wirklich paradox. Selbst Wissenschafter und Politiker, welche zugeben, dass Planwirtschaft auf die Dauer nicht funktioniert, insbesondere weil sie unfähig ist, Innovationen zu bewirken und umzusetzen, plädieren in jenen Bereichen, die besonders zukunftsträchtig sind, für die Beibehaltung staatlicher oder halbstaatlicher Lösungen. Die schrittweise Herauslösung des Bildungswesens und des Gesundheitswesens aus den Fesseln der Planwirtschaft, der konsequente Übergang zur Benutzerfinanzierung in Kombination mit Subjekthilfe, die Trennung von Gesundheitspolitik, Bildungspolitik und umverteilender Sozialpolitik sollte für all jene ein vordringliches Postulat sein, welche von der Unfähigkeit der Planwirtschaft, Probleme nachhaltig zu lösen überzeugt sind. Warum sollte diese ausgerechnet in diesen innovationsbedürftigen und von unterschiedlichsten und stark schwankenden persönlichen und gesellschaftlichen Präferenzen gesteuerten Bereichen funktionieren, wenn sie doch nicht einmal normale Konsumgüter und einfache Dienstleistungen wie Transport und Telekommunikation befriedigend produzieren und verteilen konnte?

Sind Staatsversagen und Marktversagen überhaupt kommensurable Prozesse? Meine These: Hinter jedem (oder fast jedem) sogenannten Marktversagen steckt ein Staatsversagen. Aber der Staat kann sich mit Anleihen bei der Privatautonomie immer wieder vor einer definitiven Entlarvung seiner Ineffizienz retten. Im Schweizer Gesundheitswesen ist dies besonders deutlich sichtbar, es hat trotz und nicht wegen seines wachsenden etatistischen Anteils funktioniert.

Trotz der allgemeinen Beliebtheit des Subsidiaritätsprinzips, nach welchem Privatautonomie das Normale und Staatsintervention die Ausnahme ist, grassiert im politischen Tagesgeschäft die gegenteilige These. Die Beweislast wird, meist ohne das man dies zugeben würde, umgedreht. Man geht davon aus, der Staat könnte prinzipiell alles lösen, wenn er nur das Geld und das Personal hätte. Man müsse aber, wohldosiert und gezähmt, auch noch etwas Markt zulassen, gewissermassen als notwendiges Unkraut im etatistischen Gärtchen, als kreative Zugabe und als Experimentierfeld für Nischenbedürfnisse (z.B. in Form von Privatkliniken und Privatschulen). Das ist die These vom «Primat der Politik», die von linken und rechten und mittleren Etatisten verbreitet wird, und die sich bis weit in bürgerliche Kreise hinein einer grossen Beliebtheit erfreut und die eigentliche «Hausphilosophie» vieler schweizerischer Konkordanz-Exekutiven ist. Für alles Wichtige, Unerlässliche ist der Staat zuständig, den Rest kann man, kontrolliert und gewissermassen «auf Abruf» und «auf Bewährung», dem freien Spiel des Marktes überlassen.

Immerhin ist heute eine Mehrheit davon überzeugt, dass ein weiteres Wachstum der staatsfinanzierten Infrastruktur unrealistisch ist. Als Rezept für den geordneten Rückzugs aus der steuerfinanzierten Infrastruktur wird von liberaler Seite in der Regel die Privatisierung propagiert. Privatisieren heisst aber verkaufen, und ob ein Verkauf gut ist, hängt auch vom Käufer und von den mit ihm ausgehandelten Konditionen ab. Der politisch-strategisch gangbarere Weg führt m.E. über das Postulat der konsequenten Benutzerfinanzierung. Wer eine Leistung beansprucht, muss prinzipiell für die Kosten aufkommen, unabhängig davon, wer Eigentümer einer Institution, eines Betriebs oder einer Anlage ist. Prinzipiell sollte diese mindestens nachhaltig kostendeckend betrieben werden. Wer auf eine Dienstleistung vital angewiesen ist und sie nicht finanzieren kann, sollte über eine steuerfinanzierte Subjekthilfe dazu befähigt werden. Damit rückt die gesamte Infrastrukturpolitik ins Umfeld der Sozialpolitik, was die Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten «öffentlichen Gütern» nicht löst, aber zu den richtigen Fragestellungen führt und zu einem rationaleren und effizienteren Mitteleinsatz. Eine solche Lösung nützt den Benachteiligten mehr als der allgemeine Gratiszugang, welcher zur Kostenexplosion und zur Ineffizienz führt.

Auch wer staatliche Aktivitäten und Interventionen im Infrastrukturbereich mit grösster Skepsis beurteilt, kann sich nicht davor dispensieren, den Kernbereich der Staatsaufgaben zu definieren. Hayek hat den Stellenwert des Staates in einer freien Gesellschaft wie folgt umschrieben: «In der freien Gesellschaft ist der Staat eine von vielen Organisationen – die einzige, die erforderlich ist, um für einen wirksamen äußeren Rahmen zu sorgen, innerhalb dessen sich-selbst-erzeugende Ordnungen bilden können.» Der liberale Minimalstaat beschränkt sich also auf das Rechtswesen, in dem allgemeine und abstrakte Gesetze das Funktionieren des Marktes ohne Betrug und Gewalt gewährleisten, sowie auf die Herstellung innerer und äusserer Sicherheit.

Bemerkungen zu Kapitel 5:

Kapitalismus und Demokratie

Tettamantis Analyse der Zusammenhänge zwischen politischer Freiheit und wirtschaftlicher Konkurrenz ist ausgewogen. Seine Schlussfolgerungen sind ein Plädoyer für eine kreative Verbindung von Kapitalismus und Demokratie. Dabei ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Die Realität in Europa zeigt ein anderes Bild. Vor allem in Westeuropa hat in den letzten Jahrzehnten vor allem der Soft-Sozialismus vom Mehrheitsprinzip profitiert. Das ist vermutlich leider kein Zufall, sondern die Folge eines Systems, in dem sich eine Mehrheit auf Kosten einer Minderheit Vorteile verschaffen kann.

Demokratie und Wohlfahrtsstaat sind auf die Dauer unverträglich. Demokratie kann nur in einem Staat überleben, welcher seine eigene Zuständigkeit limitiert und vor allem die zulässige Steuerlast und die Quote der Umverteilung begrenzt. Die Notwendigkeit einer Begrenzung des Wohlfahrtsstaates und eines Ausstiegs aus dem Teufelskreis wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung ist kein Postulat der Ideologie oder der finanzpolitischen Effizienz, sondern eine Frage der Existenz und der Überlebensfähigkeit einer Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung. Der Wohlfahrtsstaat ist nicht einfach “zu teuer”, er führt zu einem Zusammenbruch des Gesamtsystems. Wenn wir die rechtsstaatliche Demokratie erhalten wollen, müssen wir den Wohlfahrtsstaat abbauen und umbauen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass dieser “geordnete Rückzug” auf demokratischem Weg sehr anspruchsvoll ist, vor allem wenn bereits mehr als die Hälfte der Stimmbürgerschaft zu den Leistungsempfängern gehört. Am Ende einer Sackgasse bleibt nur der Rückweg offen.

Demokratie bedeutet zunächst einmal, dass eine Mehrheit das Recht hat, der Minderheit eine bestimmte Verteilungs- und Umverteilungsordnung zwingend vorzuschreiben. Genau besehen zielt die hier geäusserte kritische Sicht auf eine Spielart der unbegrenzten Demokratie, welche die Grundpfeiler der Freiheit im Sinn der Privatautonomie und des Minderheitenschutzes durch die Verabsolutierung des Mehrheitsprinzips mit Bekenntnissen – z.B. Sozialismus – verknüpft, welche nie mit Zwang durchgesetzt werden dürften. Demokratie tendiert ohne eingebaute Notbremsen zum Totalitarismus und zur Vergewaltigung von Minderheiten. Die letztlich entscheidende Minderheit ist das Individuum. Eine Gesellschaft ist auf die Dauer nur überlebensfähig, wenn sie sich auf möglichst vielfältig sozial praktizierenden Menschen stützen kann und aus einem Netzwerk von frei gewählten wechselseitig hilfsbereiten Menschengruppen besteht, die eine Kultur der Rücksichtnahme pflegen.

Bemerkungen zu Kapitel 6:

Einkommensschere und Armut in den reichen Ländern

«Wir haben nur die Wahl zwischen einer freien kapitalistischen Gesellschaft, in der jedermann zum Nutzen aller anderen reich werden kann, und einer unfreien Gesellschaft, in der nur die politische Kaste auf Kosten aller andern reich werden kann. Umverteilung ist ein Mechanismus, mit dem man den Wohlstand der vielen vernichtet und die Macht der wenigen züchtet.» (Roland Baader: Fauler Zauber, Schein und Wirklichkeit des Sozialstaats, Gräfelfing 1997, S. 159)

Das Bild von der Schere ist, wie Tettamanti anhand von Zitaten und Zahlen schlüssig nachweist, in zweierlei Hinsicht problematisch. Einmal suggeriert es ein Bild vom Wirtschaftsprozess, das nachweisbar unzutreffend ist. Eine auf Austausch und Arbeitsteilung beruhende Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel, bei dem die einen nur das gewinnen können, was die andern verlieren. Das Reichwerden der einen ist nicht notwendigerweise verknüpft mit dem Armwerden der andern. Die Reichen werden zwar reicher – zum Teil viel reicher und schnell reicher -, aber die Armen werden auch reicher, möglicherweise zu langsam und zu wenig nachhaltig und mit zu vielen Ausnahmen. Die Gründe dafür sind zu erforschen und man muss darüber ohne Voreingenommenheit und Vorurteile nachdenken und diskutieren. Irreführende Modelle und Bilder und einseitig interpretierte Statistiken helfen dabei nicht weiter, und es gilt auch hier: «Das gute Herz allein genügt nicht».

Umverteilung ist, wie Roland Baader zeigt, vor allem vom Resultat her etwas Fragwürdiges. Kein politisches System kann aber vollständig darauf verzichten, weil es einen Teil seiner Legitimation darauf abstützt. Aber wenn schon Umverteilung, sollte diese als solche transparent diskutiert werden und nicht in unentwirrbarer Vermischung mit einem etatistisch fehlgesteuerten Gesundheits- und Bildungswesen. Die Höhe und die Modalitäten sozialpolitisch motivierter Umverteilung (Subjekthilfe) sind das innenpolitische Thema par excellence. Es ist im Zusammenhang mit der Höhe der Besteuerung zu diskutieren und kleinräumig einem Wettbewerb über die Höhe der Steuern in Kombination mit umverteilenden Sozialleistungen auszusetzen. Der Preis für mehr Umverteilung müssen dann höhere Steuern sein.

Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Versuche, «arm» und «reich» durch Umverteilung anzugleichen zwar gut gemeint sind, schliesslich aber zum Schaden aller in einer Reduktion und Lähmung der wirtschaftlichen Produktivität enden, unter denen alle, und speziell die Ärmsten, zu leiden haben. Das Gegenteil des Guten ist in der Politik nicht selten das Gut-Gemeinte. Das gilt sowohl im internationalen als auch im nationalen Rahmen. Die Forderung der Deregulierung ist nicht einfach von den Industriestaaten oder von reichen Unternehmern erhoben worden, welche für sich selbst mehr Gewinne wollten, sondern auch von Fachleuten, welche zur Einsicht kamen, dass die Regulierung, vor allem im Bereich der Umverteilung nach dem Prinzip «den Reichen wegnehmen und den Armen geben» jene Ziele nicht erreicht, welche sie den Ärmeren verspricht. Neid ist auch in der Politik ein schlechter Ratgeber, die Frage nach der «gerechten Verteilung» lässt sich auch beim besten Willen nie befriedigend beantworten. Wenn man unabhängig vom Leistungs- und Knappheitsprinzip nach politischen Kriterien Mittel verteilt und umverteilt, setzt man nicht nur fragwürdige An- und Abreize, sondern begünstigt die Korruption im Netz zwischen Funktionären und Begünstigten. Insgesamt sinkt die Produktivität, und der «Kuchen», den es zu verteilen, bzw. umzuverteilen gibt, wird immer kleiner.

«Ausgleich», d.h. den Habenden etwas nehmen und es den Nicht-Habenden geben, ist für viele der Inbegriff «sozialer Gerechtigkeit». Und Förderung ist doch, so wird argumentiert, auch etwas Gutes, sie gilt als «marktkonforme Intervention». Dass dadurch die Mehrheit der Nicht-Geförderten empfindlich diskriminiert wird, scheint jene Aktivisten, die doch sonst so egalitär denken, überhaupt nicht zu stören.

Das kapitalistische Motto «enrichissez-vous» ist zurzeit nicht en vogue. Aber es macht eben trotzdem, im grösseren Rahmen gesehen als Methode der Überwindung von Notsituationen und Engpässen durchaus Sinn. Wenn jeder für sich sorgt, ist – mit einigen, allerdings erheblichen Ausnahmen – für alle gesorgt. Und für diese Ausnahmen sollte es non-zentrale soziale Netze geben. Solche Netze sind von den ökonomisch Erfolgreicheren zu betreiben und je mehr ökonomisch Erfolgreiche es gibt, desto besser können diese Netze sein. Ökonomischer Erfolg ist auch gut für die Gesellschaft, und darum sollte er gesellschaftlich zu mehr Anerkennung führen und nicht zu mehr Neid und Anfeindung. Die Meinung, der Reichtum der einen, gehe zu Lasten der Armut anderer, kann widerlegt werden. Der durch Arbeitsteilung bewirkte Produktivitätszuwachs ist kein Nullsummenspiel, sondern eine Win-Win-Situation, nicht in jedem Einzelfall, aber doch für eine auch statistisch belegbare grosse Zahl.

Der Mensch ist in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ein «tauschendes Wesen». Aber er ist mehr als nur ein Händler und ein Verkäufer seiner selbst. Auch für den Kapitalisten gibt es eine Welt “Jenseits von Angebot und Nachfrage”, nur hütet er sich davor, deren Grundwerte in eine allgemeinverbindliche Doktrin zu fassen. Auch Ideen, Werthaltungen und Lebensmuster sollen miteinander konkurrieren. Die Überwindung des reinen Händlerdenkens ist etwas Elitäres. Das schafft immer nur eine Minderheit. Die Mehrheit rennt dem Geld nach, möchte gern zu Lasten Dritter leben, oder strebt eine subtile Mischung von eigenständigem Geldverdienen und Leben auf Kosten anderer an. Soll man das alles verbieten, mit Strafe verfolgen? Soll man dem Durchschnittsmenschen das Gewinnstreben, den spontanen Egoismus bzw. Gruppenegoismus via Politik und Pädagogik austreiben? Nein! Egoismus und Gewinnstreben sind etwas Normales, weit Verbreitetes durchaus Sozialverträgliches. Allerdings: Eine Menschengruppe, die ausschliesslich aus kurzfristig kalkulierenden Egoisten besteht, ist einer andern Menschengruppe unterlegen, welche sich auf eine aus eigenem Antrieb überdurchschnittlich solidarische Elite verlassen kann, die sich um Hilfebedürftige kümmert und Schwächere nicht im Stich lässt – aus welchen Motiven auch immer. Wollen aber diese vorbildlich Sozialisierten ihr Verhalten allgemeinverbindlich vorschreiben und gesetzlich erzwingen, schwindet die auch bei Mehrheiten durchaus vorhandene spontane Hilfsbereitschaft, was zu einer subtilen Gratwanderung führt, zwischen Schaffung und Zerstörung. Hilfe ist ambivalent, weil sie Abhängigkeiten schafft. Das «Leben auf Kosten anderer» sollte als etwas die Mitmenschen grundsätzlich Belastendes nur in Ausnahmefällen und nur zeitlich limitiert akzeptiert werden. «Sozial sein» heisst in erster Linie einmal – und für alle – «niemandem zur Last fallen», in zweiter Linie, für jene, die dazu in der Lage sind, «helfen, wo man es für notwendig hält» aber mit Augenmass und längerfristig ausgerichtetem Verantwortungsbewusstsein.

Bemerkungen zu Kapitel 7:

Armut in den Entwicklungsländern

Die Kosten und Nutzen interpersonaler und interregionaler Umverteilung sind noch relativ schlecht erforscht, dasselbe gilt für die sogenannte Entwicklungshilfe, die nichts anderes ist als eine Umverteilung, die nicht zwischen einzelnen Menschen, sondern zwischen Nationalstaaten stattfindet. Tettamanti weist mit guten Gründen auf das bahnbrechende Buch des Empirikers Hernando de Soto hin. Entwicklungshilfe ist ein interventionistisch-sozialistisches Weltprojekt, das schon über mehrere Jahrzehnte läuft. Wie gross ist ihr Nutzen, wie gross ist ihr Schaden? Hat man zuviel, zu wenig oder das Falsche entwickelt bzw. durch einseitige Förderung behindert? Folgende Arbeitshypothese wäre zu verifizieren oder zu falsifizieren: Je weniger, desto besser. Während interpersonelle Umverteilung falsche An- und Abreize zwischen Personen setzt, bewirkt die Entwicklungshilfe möglicherweise dasselbe zwischen Regionen und Staaten.

Drei politische Zauberbegriffe werden oft in einem zu positiven Licht gesehen: Das Fördern, das Umverteilen im Hinblick auf einen «sozialen und regionalen Ausgleich» und das Helfen. Alle drei Aktivitäten haben auch ihre Schattenseiten, vor allem, wenn der Staat oder grössere Staatengemeinschaften durch Regulierungen als «Förderer», «Umverteiler» und «Helfer» auftreten. Im Bereich der Entwicklungspolitik hat man inzwischen die Erfahrung gemacht, dass gut gemeinte Hilfsprogramme alte Abhängigkeiten verschärfen und neue Abhängigkeiten schaffen und nicht selten das Grundproblem der Armut verewigen, statt es zu lösen oder lösbarer zu machen. Darum ist der Grundsatz »Trade not Aid» d.h. «Offener Handel statt Entwicklungshilfe» eigentlich im Umfeld der Entwicklungspolitik kaum mehr grundsätzlich umstritten, sondern nur noch in der konkreten Ausgestaltung und schrittweisen «Abfederung». Im Rahmen der innerstaatlich und innereuropäisch regulierten Wirtschafts- und Sozialpolitik werden die Schattenseiten von Hilfs- und Förderprogrammen noch zu wenig thematisiert. Auch dort ist die interpersonelle und die interregionale Umverteilung zwar oft «gut gemeint» und politisch populär, aber in ihrer mittel- und langfristigen Auswirkung im wahrsten Sinne des Wortes kontraproduktiv.

Die Deregulierung ist ein politischer Prozess, der sich sowohl innerhalb eines Staates oder einer Staatengemeinschaft als auch zwischen den Staaten und grossen Wirtschaftsregionen der Welt abspielt. Das Problem des Ausgleichs zwischen «arm» und «reich» wird innerhalb von Staaten unter dem Stichwort Umverteilung, Ausbau, Abbau oder Umbau des Wohlfahrts- bzw. Sozialstaats abgehandelt, während man auf globaler Ebene eher von Entwicklungspolitik, von Drittweltpolitik oder von «Solidarität mit den Ärmsten der Welt» spricht. Dahinter stecken zum Teil vergleichbare zum Teil sehr unterschiedliche Probleme. Der unregulierte Markt bewirkt eine Verstärkung der Ungleichheit, indem er den wirtschaftlich Erfolgreichen ihren Anteil am Erfolg belässt und den Nicht-Erfolgreichen grundsätzlich keine Dauerförderung oder Unterstützung durch Staatsmittel in Aussicht stellt, sondern höchstens «Hilfe zur Selbsthilfe».

Wer nur die zunehmende Ungleichheit beobachtet und misst, verkennt einige wesentliche Zusammenhänge, die sich bei einer Deregulierung auch zugunsten der Ärmeren auswirken. Gerade die Ärmsten haben auf offenen Märkten eine reelle Chance, aus der Armutsspirale auszubrechen und teilzunehmen an der weltweiten durch Technologie und Arbeitsteilung bewirkten Produktivitätssteigerung.

Fazit:

Zentrale Bedeutung der Zivilgesellschaft

Die Marktwirtschaftler und Freihändler sind – im ursprünglichen Sinn – eigentlich die richtigen «Sozialisten», weil sie letztlich die Zivilgesellschaft und nicht den Staat ins Zentrum stellen. Sie wollen, dass es, nach dem Slogan von Ludwig Erhardt, schliesslich «Wohlstand für alle» gibt und den «herrschaftsfreien Tausch». Auch erstreben letztlich das von Karl Marx formulierte Ziel, dass “die gemeinsame Verwaltung von Sachen anstelle der Herrschaft von Menschen über Menschen” zum Normalfall wird. Nur ist eben «die gemeinsame Verwaltung von Sachen» nicht zentral planbar. Sie muss sich vielmehr durch ein unendlich komplexes Geflecht von privatautonom ausgehandelten flexiblen und permanent adaptierbaren offenen Konsens-Clustern schrittweise entwickeln. Der gegen aussen – im eigenen Interesse – relativ offene Rahmen ist zunächst überhaupt nicht global. Kapitalistische Globalisierung verläuft nach dem Subsidiaritätsprinzip von unten nach oben, am besten in kleineren politischen Einheiten, die kleinstaatlichen Charakter haben, sich experimentell immer wieder neu in Konföderationen verbünden (Kant hat es in seinem Essay «Zum ewigen Frieden beschrieben), letztlich aber doch in globalen Kommunikationsnetzen verbunden sind, ohne je zentral gesteuert zu werden.

Robert Nef, geboren 1942, hat in Zürich und Wien Jurisprudenz studiert und mit dem Lizentiat abgeschlossen. Er war zwischen 1961 und 1981 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung und am Lehrstuhl für Rechtswissenschaft an der ETH Zürich. Seit 1979 leitet er das Liberale Institut in Zürich, einen Think-Tank zur Verbreitung liberaler Ideen. Seit 19194 ist er Redaktor und Mitherausgeber der Schweizer Monatshefte und betätigt sich im In- und Ausland als Referent und Publizist.

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