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Die soziale Verantwortung der Wirtschaft gegenüber dem Staat

Lesedauer: 11 Minuten

Sechs Begriffsanalysen und sechs Thesen

Eine erschöpfende Abhandlung dieses anspruchsvollen Themas könnte etwa nach folgendem Schema erfolgen: Erstens: Was heisst “sozial”? Zweitens: Was heisst “Verantwortung”? Drittens: Was heisst “soziale Verantwortung”? Viertens: Was ist das Wesentliche an der “Wirtschaft”? Fünftens: Was ist bzw. was soll der Staat, bzw. was soll er nicht? Und sechstens: Wie lassen sich Wirtschaft und Staat unter dem Gesichtspunkt der sozialen Verantwortung sinnvoll abgrenzen? Dass ein solches Projekt nicht in einem kurzen Beitrag verwirklicht werden kann, ist evident. Trotzdem möchte ich weder auf eine kurze Analyse der Begriffe noch auf die Formulierung pointierter Thesen verzichten. Ich bin mir aber bewusst, dass damit eine mögliche Diskussion lediglich eingeleitet ist.

Alle bezeichnen sich selbst gerne als “sozial”, am liebsten dann, wenn damit keine persönlichen Opfer verbunden sind und wenn auf andere verwiesen werden kann, welche sozialer sein müssten, damit die Welt sozialer wäre. Vor allem der Sozialismus baut auf diese Spielart des staatlich verordneten sozialen Verhaltens, das dann irgendwann einmal zur verbesserten “Natur des Menschen” werden soll. Die Formel “je sozialistischer, desto sozialer” wird selten hinterfragt und noch seltener empirisch überprüft. Der real existierende Sozialismus hat während jener ein bis zwei Generationen, in denen er nach verschiedenen Mustern praktiziert worden ist, den real existierenden Egoismus eher geschürt als gezähmt. Die durchaus ernüchternde historische Bilanz des Sozialismus bei der Heranbildung sozialerer Menschen wird nur noch überboten durch die ökologischen Defizite von Staatseigentum und Staatswirtschaft.

Am unverfänglichsten ist die Verwendung des Worts “sozial”, wenn damit keine moralische Wertung verbunden ist, sondern wenn damit ganz einfach angedeutet wird, dass etwas den gesellschaftlichen Bereich oder ganz allgemein gesellschaftliche Aspekte betrifft. Damit ist allerdings wenig Klarheit gewonnen. Das Problem verschiebt sich einfach auf die Ebene der Übersetzung. “Sozial” wird gleichbedeutend mit “gesellschaftlich” bzw. “gesellschaftsbezogen” oder “gesellschaftlich relevant”. Damit wird immerhin jener moralisierende Hinweis auf das Altruistische, auf die Hilfe an Schwache und Bedürftige, eliminiert, Eigenschaften, die sich jene gerne zuschreiben, die sich als “sozial” oder “sozialistisch” bezeichnen, obwohl sie diese Aktivitäten auf Kosten Dritter praktizieren und ohne Rücksicht auf die Nachhaltigkeit. Hilfe, Unterstützung und Fürsorge sind für das Zusammenwirken von verschiedenen Menschen überlebenswichtig, aber die Behauptung, eine soziale Aktivität sei, gleichsam automatisch, schon der Inbegriff des Guten, ist so anmassend, wie die historisch und empirisch widerlegte Gleichsetzung von “Sozial” und “sozialistisch”. “Sozial verantwortlich” handelt ein Unternehmer nicht etwa dann, wenn er auf Gewinne verzichtet oder diese laufend umverteilt, sondern dann, wenn er sein Unternehmen so führt, dass es am Markt gute Überlebens- und Gewinnchancen hat…

Von Margaret Thatcher stammt der Ausspruch “There is no such thing as society”, so etwas wie die Gesellschaft gebe es gar nicht. Der Satz trifft höchstens die halbe Wahrheit, aber das ist immerhin ein beachtlicher Prozentsatz, der nicht bei allen Politiker-Sprüchen erreicht wird. So etwas wie die Gesellschaft, als abgeschlossenes und definierbares Ganzes, als handelndes Subjekt, gibt es tatsächlich nicht. So wenig wie die Schweiz, die Frauen, das Volk”, die Arbeiter. Trotzdem ist eine Gesellschaft etwas anderes als nur die Summe ihrer Individuen. Das gilt auch für einen Staat oder für eine Firma. Es gibt eine “Corporate Identity”, ein Zusammengehören, das sich auf Gefühle und auf Interessen und rationale Überlegungen stützt, oft in unentwirrbarer Mischung. Ökonomen nennen diese Art des Gemeinsinns heute “Sozialkapital”, die Politologen reden von “Solidargemeinschaft” oder “Grundkonsens” die Verhaltensforscher von “Face-to-face- Loyalität”. Damit ist die gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft in Gruppen gemeint, die sich von Angesicht zu Angesicht begegnen. Diese Spielart des Altruismus hat sich nach Meinung der Verhaltensforscher im Lauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte als die intelligenteste Form des Egoismus erwiesen. Umstritten ist allerdings die Frage, wie gross und wie komplex eine solche Gruppe sein kann bzw. sein soll, damit eine solche “Programmierung” noch spielt.

Das Ergebnis dieser kleinen Begriffsanalyse kann in einer ersten These folgendermassen zusammengefasst werden:

Sozial ist ein gesellschaftsbezogenes Verhalten, welches als intelligente und langfristig angelegte Form des Egoismus letztlich sowohl dem Individuum als auch der Gemeinschaft dienlich ist.

Zum Begriff “Verantwortung” und “soziale Verantwortung” mögen ein paar wenige kritische Hinweise genügen. Es gibt kaum einen Begriff, mit dem man verantwortungsloser umgeht. Allgemein beliebt ist das gegenseitige “Verantwortlich-Machen”, wie man das “Schwarz-Peter-Spiel” mit der Verantwortung bezeichnen könnte. Eine weit verbreitete Abwehrstrategie benützt die häufige, aber nicht gerade Sympathie erweckende Floskel: “Das ist echt nicht mein Problem.”
Dieser Gemeinplatz wird offenbar in jenen Seminaren vermittelt, in denen man den Kunden gegen Entgelt wieder zum “gesunden Egoismus” verhelfen möchte. Soziale Verantwortung wir dadurch nicht gefördert.

In jeder Gemeinschaft liegt irgendwo in der Mitte auch ein “Verantwortungshaufen”, den es zu verteilen gilt. Das “Prinzip Verantwortung” funktioniert umso besser, je mehr Menschen bereit sind, sich jenes Stück, das sie tragen möchten, selbst auszusuchen. Wer mehr tragen kann, soll auch mehr übernehmen, aber bitte wenn möglich ohne äussern Zwang. Der staatliche Zwang kommt erst ins Spiel, wenn nach der “Freiwilligenrunde” der Verantwortungsverteilung noch etwas übrigbleibt. Wenn dies allzu viel ist, so steht es schlecht um die Sozialbilanz dieser Gruppe, bzw. dieser Gemeinschaft. Mit Zwang kann man noch einiges korrigieren. Nur hat der Zwang zur Verantwortung die fatale Folge, dass er die Bereitschaft zur freiwilligen Übernahme verringert. Wer Verantwortung erzwingt, bewirkt einen Teufelskreis von immer mehr äusserem Zwang und immer weniger innerer Bereitschaft.

Dies führt zur zweiten These:

Soziale Verantwortung kann weder gegenseitig verordnet noch allgemeinverbindlich erzwungen werden. Sie entsteht aus der freiwilligen Übernahme aufgrund von Verträgen und aus der spontanen Bereitschaft unter Betroffenen und Beteiligten, die ihr intelligentes Eigeninteresse wahrnehmen.

Zu Recht stellt sich die Frage: Und was, wenn dies nicht der Fall ist? Es gibt kein Patentrezept für die Vermehrung des stets knapp vorhandenen sozialen Verantwortungsbewusstseins. Zwang kann höchstens eine Notlösung, eine temporäre Überbrückung sein. Letztlich kommt es darauf an, einen Staat, eine Wirtschaft, eine Gesellschaft so zu organisieren, dass es für eine grosse Mehrheit attraktiv ist, sich an den gemeinsamen Kosten und Nutzen zu beteiligen, und dass Trittbrettfahrer und Schmarotzer (die es immer geben wird) sich selbst diskreditieren oder schliesslich von der Mehrheit einfach als unerfreuliche Nebenerscheinung, gewissermassen als “Systempreis”, toleriert werden.

Eine erfolgversprechende Lösungsvariante besteht darin, den gemeinsamen Haufen der gemeinsamen Verantwortung nicht allzu gross aufzutürmen oder in kleineren Subsystemen aufzuteilen. Wer sich für alles Übel in der Welt verantwortlich fühlt, und wer diesbezüglich von Dritten immer wieder als “schuldig” hingestellt wird, resigniert schliesslich. Wer für alles verantwortlich gemacht wird, fühlt sich schliesslich für nichts mehr verantwortlich. Vermutlich hat jede gesellschaftliche und wirtschaftliche Aktivität ihr eigenes Optimum für die Verantwortungsteilung, und die Bereitschaften und Verweigerungen überlappen sich vielfältig, was schliesslich ein Vorteil ist und kein Nachteil.

Wir befinden uns heute im Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft. Dieser Systemwandel fordert neue Fähigkeiten heraus (Bedarf an Humankapital) und zehrt am vorhandenen Gemeinsinn (den man heute auch Sozialkapital nennt). Es entsteht auch ein grosser Bedarf an Forschung, Umschulung und Weiterbildung und an Unterstützung für die Ausgesteuerten. Von zentraler Bedeutung ist auch die Gründung neuer kleinerer und mittlerer Unternehmungen im Dienstleistungsbereich, wodurch neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen. Alle diese Aufgaben, nämlich die Kosten des Systemwechsels, lokalisiere ich im erwähnten “Verantwortungshaufen”, den es unter den Beteiligten und Betroffenen zu verteilen gibt.

Die bequemste jedoch schlechteste Lösung würde darin bestehen, dass man den Staat für den ganzen “Haufen”, für sämtliche Kosten des Systemwandels, etwa für Arbeitsbeschaffung, Forschung, Umschulung und soziale Überbrückungshilfen usw. voll haften lässt und die Wirtschaft einfach über zusätzliche Steuern zur Kasse bittet. Damit wären die Kosten des Wandels und die Verantwortung für deren Verteilung und Umverteilung verstaatlicht, und die Nutzen könnten zunächst ungeschmälert an die Share-holders gehen, die dann lediglich noch das Problem der mehr oder weniger legalen Steuerverweigerung zu lösen hätten. Kein Wunder, dass solche Lösungen in verschiedensten Lagern und aus verschiedensten Motiven populär sind, obwohl sie bisher nirgends nachhaltigen Erfolg hatten.

Die Unternehmer stehen vor der Herausforderung, sich am “Verantwortungshaufen” möglichst aktiv zu beteiligen, damit die Probleme über Investitionen und Innovationen und nicht über Steuern und Subventionen gelöst werden. Das heisst: Sowohl die Probleme im ganzen Bildungs-, Forschungs- und Entwicklungsbereich (die Mehrung des Humankapitals) als auch im zentralen Bereich der Sozialpolitik (die Mehrung des Sozialkapitals) sind vermehrt direkt durch die Wirtschaft und ohne Umweg über den Staat zu lösen. Dies bedingt ein Umdenken und Umlernen bei allen Beteiligten und Betroffenen.

Nun verbleiben für die terminologische Analyse noch die beiden Begriffe “Wirtschaft” und “Staat”.

Wirtschaft und Staat sind aufeinander angewiesen. Es gibt prinzipiell weder einen Vorrang der Politik noch einen Vorrang der Wirtschaft. Wichtig ist, dass es neben “Wirtschaft” und “Staat” noch einen weiteren Bereich gibt, der sowohl Probleme verursacht, als auch Chancen zu deren Lösung bereithält: die Sozio-Kultur, d.h. jener Bereich der Gesellschaft, der sich weder unter “Wirtschaft” noch unter “Politik” subsumieren lässt.

Um beim Thema “Staat und Gesellschaft” weder ins bodenlose Theoretisieren noch ins aktuelle und parteiliche Politisieren zu gelangen, halte ich mich im Folgenden an sechs kurze Sätze des deutschen Nationalliberalen Friedrich Naumann ( 1860-1919). Seine Politik war zeitgebunden und nicht besonders geradlinig. Aber die einer Rede entstammenden sechs Sätze sind eine überaus nützliche “Eselsleiter”, wenn es darum geht, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gegeneinander abzugrenzen.

Die sechs kurzen Sätze seien hier als “These drei” formuliert:

Der Staat, das sind wir alle. Der Staat darf nicht alles.
Die Wirtschaft (der Betrieb), das sind wir alle, die Wirtschaft (der Betrieb) darf nicht alles.
Die Gesellschaft, das sind wir alle. Die Gesellschaft darf nicht alles.

Zunächst zum Staat.

Der Staat, das sind wir alle. Der Staat darf nicht alles.

Damit sind die zwei Prinzipien moderner Staatlichkeit, “Demokratie” und “Rechtsstaat”, angesprochen. Sie ergänzen sich und stehen aber gelegentlich auch in wechselseitiger Spannung. In der heutigen Situation ist wohl der zweite Satz aktueller als der erste, da Demokratie als Prinzip ziemlich unbestritten ist, aber die politischen Rezepte für ein “limited government” fehlen. Der Staat verspricht heute als Umverteilungsmaschinerie das Blaue vom Himmel und kann dann seine Versprechungen nur halten, indem er sich verschuldet und damit das Problem und die Verantwortung auf die nächste Generation abschiebt. Das kann man kaum “sozial” nennen.

Doch nun zur Wirtschaft: Die Wirtschaft, das sind wir alle. Die Wirtschaft darf nicht alles. Im Zusammenhang mit meinem Thema liegt hier das Kernproblem. Einmal ist es wichtig zu sehen, dass “die” Wirtschaft nicht nur die Produzentenseite, die Arbeit- und Kapitalgeber umfasst, sondern auch die Konsumenten, die Kunden, die Arbeitnehmer. Und, was ganz wichtig ist: In einer Gesellschaft mit einer differenzierten obligatorischen Sozialversicherung sind alle Sozialversicherten unentrinnbar mindestens indirekt auch Kapitalisten, auch Share-holders.

Wo finden wir nun die Kriterien für das, was die Wirtschaft nicht darf? Ziemlich unbestritten ist der Hinweis darauf, dass sich die Wirtschaft nur im Rahmen der geltenden Rechtsordnung entfalten darf und den ordnungspolitischen Rahmen, das Zivilrecht, das Strafrecht, das Umweltrecht und auch das Steuerrecht zu beachten hat (sofern dieses nicht konfiskatorisch ist).

“Die Wirtschaft darf nicht alles”. Dahinter steckt noch ein weiteres Problem. Man kann wirtschaftliche Aktivität in einem weiteren oder in einem engeren Sinn definieren. Für viele ist “Wirtschaft” gleichbedeutend mit Aktivitäten, die sich im Tausch gegen Geld abspielen: Wirtschaft gleich Geldwirtschaft. Dies ist eine mögliche, aber doch ziemlich enge Auffassung. Es gibt auch einen Tausch im Bereich der Ideen, und es gibt auch Kompensationen, die sich nicht in Franken und Rappen auswirken. Die meisten Menschen wollen nicht einfach dauernd mehr Geld, sondern sehnen sich auch nach Anerkennung, Wohlbefinden, Vertrauen, Geborgenheit, Verständnis, Zuwendung, Erholung, Entspannung, nach Abenteuern, Fitness, Schönheit, Ruhm etc., alles Güter, die gegen Geld nicht einfach zu kaufen sind, wenigstens nicht telquel.

Solche Güter werden “gesellschaftlich vermittelt”. Ist das noch “Wirtschaft”? Ist das nicht viel mehr “Kultur”, bzw. “Sozio-Kultur”? Die Frage kann offenbleiben. Eine klare Grenzziehung ist nicht möglich. Man muss aber über diese Grenze reden. Ich vertrete persönlich einen weiten Begriff von “Wirtschaft”. Wirtschaft ist für mich kein materialistisches Übel, kein brutaler Wettbewerb um das tägliche Brot und auch kein Kampf zwischen Armen und Reichen, zwischen Habenden und Nicht-Habenden.

“Wirtschaft”, das ist der Inbegriff des Tauschens zwischen Menschen, die alle ihr aufgeklärtes Eigeninteresse wahrnehmen wollen und dürfen, die den friedlichen Tausch in Verträgen dem gewaltsamen Kampf vorziehen. Wirtschaft ist aus dieser Sicht nichts anderes als Kommunikation. Eine flexible Grenze zwischen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Aktivitäten birgt allerdings die Gefahr, dass schliesslich alles verwirtschaftlicht ist, es birgt aber auch die Chance, dass man die kulturellen und sozialen Komponenten des Wirtschaftens wieder mehr ins Zentrum rückt.

Und dies ist meine vierte These:

Es geht heute nicht um die Verwirtschaftlichung der Kultur und des Sozialen sondern um die kulturelle und soziale Veredelung der Wirtschaft, und zwar in ihrem ureigensten Interesse.

So ist beispielsweise Arbeit nicht nur einfach Broterwerb, sondern auch etwas eminent Soziales und Kulturelles, eine Verknüpfung von Kräften und Wegen. Arbeit in diesem Sinn, als gegenseitiger Dienst, als Tätigkeit des schöner, angenehmer und besser Machens, wird uns nie ausgehen.

Dies leitet über zu den letzten zwei Sätzen von Friedrich Naumann:

Die Gesellschaft, das sind wir alle. Die Gesellschaft darf nicht alles.

Die Gesellschaft hat eine Schlüsselfunktion. Der Kreis des terminologischen Exkurses schliesst sich. Wir sind wieder beim Wort “sozial”, das ganz neutral mit “gesellschaftsbezogen” gleichgesetzt werden kann. Aber auch hier taucht noch eine terminologische Schwierigkeit auf.

“Gesellschaft” als Begriff, wird im weiteren und im engeren Sinn gebraucht. Einmal kann man mit “Gesellschaft” das Ganze bezeichnen, Staat, Wirtschaft und Kultur. Man kann aber auch differenzieren. Eine klare Trennung von Staat und Gesellschaft, von Staat und Wirtschaft, kommt schliesslich beiden Bereichen zugute. Während ich an der Grenze von “Wirtschaft” und “Gesellschaft” für Offenheit plädierte, habe ich gute Gründe, “Staat” und “Gesellschaft” gegenseitig klar abzugrenzen. Wer diese Grenze nicht beachtet, hat schliesslich Mühe, die sozialen Aufgaben, die soziale Verantwortung noch von dem abzugrenzen, was in einem Staat obligatorisch vorgeschrieben wird. Wer “sozial” mit “staatlich” gleichsetzt, läuft Gefahr, in den Totalitarismus abzugleiten. Unvermittelt verwandelt sich alles zu einem “Dienst nach Vorschrift”, und nichts reizt bekanntlich mehr zum Übertreten, als ein Überschuss an moralisierenden Vorschriften.

Die These fünf deutet an, wo die entscheidenden Engpässe für die Bewältigung der Zukunft liegen:

Der eigentliche Engpass für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben liegt bei der “sozialen Verantwortung”. Sie ist ein knappes Gut, nicht nur auf der Unternehmerseite, sondern bei allen Beteiligten und Betroffenen.

Man unterscheidet heute drei Arten des Kapitals: Sachkapital, Humankapital und Sozialkapital. Letzteres ist besonders knapp und bildet heute einen entscheidenden Engpass. Ich sehe wenig Ansätze, wie nun dieses knappe Sozialkapital schnell und wirksam zu erhöhen wäre.

Wie produziert man Konsens, Gemeinsinn, “soziales Verantwortungsbewusstsein”? Wo und wie wird es gespeichert und vermehrt? Wohl am ehesten in den kleinen Gemeinschaften, in denen man erleben kann, dass sich Rücksichtnahme, Opferbereitschaft, Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft lohnen. Genügt dies? Möglicherweise ist das, was ich den “Verantwortungshaufen” genannt habe, so etwas wie eine Verschuldung gegenüber dem Sozialkapital. Der “Verantwortungshaufen” darf als Passivposten nirgends zu gross sein, und der Teufelskreis des Zwanges darf bei der Verteilung nur in Ausnahmefällen und nur befristet beschritten werden.

Nach diesen durch Thesen unterbrochenen Begriffsanalysen schliesse ich mit einem optimistischen Ausblick. Man hört immer wieder die Vermutung, dass die gegenwärtige Entwicklung der Wirtschaft in den Menschen die Brutalität, die Rücksichtslosigkeit und den krassen Egoismus fördere. Ich teile diese Auffassung nicht. Und dies ist meine sechste und letzte These:

Unsere Industriegesellschaft wandelt sich zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Wer erfolgreich Dienste leisten will, muss die Fähigkeit haben, sich in die Bedürfnisse seiner Kunden und Klienten einzufühlen, je intensiver desto besser. So wird ausgerechnet die Fähigkeit zur Sympathie auch zu einer ökonomischen Schlüsselqualifikation und zum Kriterium für wirtschaftlichen Erfolg.

Das “Sozialkapital” wird so auch zu einem Aktivposten, der nicht zu Lasten des Humankapitals und des Sachkapitals vermehrt wird, im Gegenteil. Sympathie zahlt sich aus, auch ökonomisch. Dies ist vor allem auch für Frauen eine frohe Botschaft. Je mehr die Fähigkeit des Einfühlungsvermögens wirtschaftlich zählt, desto mehr bekommen die diesbezüglich nicht besonders begabten Männer ein Gleichberechtigungsproblem. Eine fortschreitende Entwicklung von der Arbeit an der Maschine zur persönlichen Dienstleistung, zur Beratung, Forschung, Pflege, Bildung und Unterhaltung wird jene Kräfte im Menschen beanspruchen und fördern, für welche “soziale Verantwortung” keine Bremse, sondern ein Motor ist.

Von Nietzsche stammt der Ausspruch “Die Ökonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten”. Nietzsche ist immer ernst zu nehmen, aber man muss auch den Mut haben, ihm zu widersprechen, denn er selbst tut dies auch immer wieder… Sein Aphorismus stammt aus einer Zeit, in welcher die Industriegesellschaft gerade ihre harte Durststrecke durchzustehen hatte. An einem anderen Ort finden wir bei ihm den schönen Satz: “Bosheit ist selten”. Er ist im Hinblick auf eine Dienstleistungsgesellschaft tröstlich. Er entspricht auch meinen bisherigen persönlichen Erfahrungen. Die meisten sozialen Fehlleistungen entstehen nicht aus Bosheit, sondern aus Dummheit, Gedankenlosigkeit und Kurzsichtigkeit, und – was ganz wichtig ist – aus Systemmängeln, d.h. als ungewollte Nebenfolge von meist “gut gemeinten” Normierungs-, Organisations- und Interventionsprogrammen politischer Weltverbesserer. Wenn es also aus der Sicht der staatlichen Gemeinschaft einen sinnvollen Appell an die Verantwortlichen der Wirtschaft gibt, so lautet dieser nicht: “Seid sozialer!”, sondern: “Seid besonnener, denkt langfristiger, nehmt Eure Interessen sorgfältiger und intelligenter wahr!”.

Es lohnt sich.

Zusammenfassung

Die soziale Verantwortung der Wirtschaft gegenüber dem Staat
Die Begriffe “sozial”, “sozialistisch”, “Verantwortung”, “Staat”, “Wirtschaft”, “Gesellschaft” verlangen eine genauere Analyse, bevor man das Verhältnis von Wirtschaft und Staat beschreiben kann und daraus Thesen zu einer Verknüpfung mit sozialer Verantwortung ableitet. Staat, Wirtschaft und Sozio-Kultur sind und bleiben aufeinander angewiesen, wobei die Sozio-Kultur für die Aufrechterhaltung des Verantwortungsbewusstseins eine Schlüsselrolle spielt. Folgende Thesen eignen sich zur Einleitung einer Diskussion, welche die vielfältigen Probleme nicht löst, aber etwas transparenter macht.

  1. Sozial ist ein gesellschaftsbezogenes Verhalten, welches als intelligente und langfristig angelegte Form des Egoismus letztlich sowohl dem Individuum als auch der Gemeinschaft dienlich ist.
  2. Soziale Verantwortung kann weder gegenseitig verordnet noch allgemeinverbindlich erzwungen werden. Sie entsteht aus der freiwilligen Übernahme aufgrund von Verträgen und aus der spontanen Bereitschaft unter Betroffenen und Beteiligten, die ihr intelligentes Eigeninteresse wahrnehmen.
  3. Der Staat, das sind wir alle. Der Staat darf nicht alles.- Die Wirtschaft (der Betrieb), das sind wir alle, die Wirtschaft (der Betrieb) darf nicht alles.- Die Gesellschaft, das sind wir alle. Die Gesellschaft darf nicht alles. (Friedrich Naumann, 1912)
  4. Es geht heute nicht um die Verwirtschaftlichung der Kultur und des Sozialen sondern um die kulturelle und soziale Veredelung der Wirtschaft, und zwar in ihrem ureigensten Interesse.
  5. Der eigentliche Engpass für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben liegt bei der “sozialen Verantwortung”. Sie ist ein knappes Gut, nicht nur auf der Unternehmerseite, sondern bei allen Beteiligten und Betroffenen.
  6. Unsere Industriegesellschaft wandelt sich zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Wer erfolgreich Dienste leisten will, muss die Fähigkeit haben, sich in die Bedürfnisse seiner Kunden und Klienten einzufühlen, je intensiver desto besser. So wird ausgerechnet die Fähigkeit zur Sympathie auch zu einer ökonomischen Schlüsselqualifikation und zum Kriterium für wirtschaftlichen Erfolg.
Publiziert in: Walter Bührer (Hrsg.) et al., Die Schweiz unter Globalisierungsdruck, Staatliches Handeln mit und gegen wirtschaftliche Logik, Jahrbuch „Die Schweiz“ 1999/2000 der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Sauerländer, Aarau, 1999, S. 287ff.

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