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Vortrag «Prüfsteine liberaler Politik»

Lesedauer: 6 Minuten
Robert Nef, Leiter des Liberalen Instituts, Zürich

Vorgetragen am Radikal-liberalen Forum der Theodor-Heuss-Akadenmie in Gummersbach, 1.-3. September 1995, abgedruckt in: Dokumentation der Tagungsergebnisse der Friedrich Naumann Stiftung, Gummersbach 1995, S. 10-15

Wer sich heute politisch engagiert, bezeichnet sich fast regelmässig und über alle Parteigrenzen hinweg als «liberal – im eigentlichen und besten Sinn» und unterstreicht dies mit irgend einem dem Zeitgeist entsprechenden Adjektiv oder Bindestrich-Begriff und mit einem Positionsbezug leicht links oder leicht rechts der Mitte. Angesichts von so viel deklarierter Liberalität müsste sich eigentlich die Frage nach dem liberalen Gehalt der aktuellen Koalitionspolitik erübrigen, und eine Liberalismus-Verträglichkeitsprüfung von Parlamentsabgeordneten und Behördemitgliedern wäre ebenfalls überflüssig. Liberale Politik könnte sich damit begnügen, aufgrund der konservativen Formel «nach wie vor» das zu bewahren, was dem gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Kompromiss der organisierten Interessen entspricht. Leider sieht die Realität anders aus. Heute lassen sich die Anzeichen nicht mehr übersehen, dass dieser Kompromiss in keiner Weise zukunftstauglich ist – und zwar nicht nur aus liberaler Perspektive, sondern aufgrund von Zahlen und Entwicklungen, die gar nicht mehr parteipolitisch interpretiert werden müssen, sondern bei denen es nur noch darum geht, die Wahrheit zu sagen. Dies ist bekanntlich auf dem politischen Parkett keine allgemein verbreitete Tugend. Die vielgerühmte Politik des langsamen und sorgfältigen «Erdauerns» von Lösungen und der kleinen Schritte ist nur dann praktikabel, wenn die allgemeine Stossrichtung stimmt, und diese Stossrichtung ist in vielerlei Hinsicht alles andere als liberal. Liberale können sich weniger denn je damit begnügen strukturkonservativ zu sein. Sie stehen vor der Herausforderung zu mehr liberaler Konsequenz und – nennen wir es ruhig beim Namen – zu mehr liberaler Radikalität.

Wer radikalliberale Kritik äussert, darf sich nicht davor drücken, zu umschreiben was – aus dieser Sicht – unter «liberal» zu verstehen ist. Die Diskussion um diesen Begriff ist – vor allem unter Liberalen – nicht besonders beliebt, weil die berechtigte Furcht besteht, dass dabei innerhalb des liberalen Lagers grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten spürbar werden. Schlimmstenfalls kann es dazu kommen, dass Liberale sich gegenseitig den Liberalismus absprechen, sich gewissermassen gegenseitig exkommunizieren, und dies wäre ja wirklich nicht mehr liberal. Gibt es also überhaupt so etwas wie einen liberalen Grundkonsens, einen «kleinsten gemeinsamen Nenner» ?

Kein Produkt, sondern ein Verfahren

Aus liberaler Sicht gibt es keinen definierbaren Endzustand politischer Entwicklung, kein Produkt, welches sich inhaltlich abschliessend definieren liesse. Der Liberalismus hat auch kein gemeinsames scharf abgegrenztes und detailliertes Menschenbild, welches er an den Anfang oder ans Ende seiner Bestrebungen setzen will. Liberalismus ist kein Medikament, kein Wundermittel gegen alle Übel der Welt, er ist ein Verfahren, eine «Kur» (um beim medizinischen Bild zu bleiben), die gegen verfehlte und nicht über längere Zeit befriedigend praktizierbare Lebensweisen in der politischen Gemeinschaft verschrieben werden kann.

Mündigkeit – ein Weg

Diese «Kur» sieht als Ideal ein «gesundes Leben» in einer freien Gesellschaft mündiger Menschen vor sich, die zwar nicht konfliktfrei aber unter möglichst wenig Zwang und mit möglichst grosser Autonomie kooperieren. Liberalismus ist also ein Verfahren, ein Prozess, oder – wenn man will – eine Strategie des Zusammenlebens. Im Mittelpunkt steht in einer hoch arbeitsteiligen und intensiv vernetzten Welt keineswegs das isolierte Individuum – das ja ohne mitmenschliche soziale Beziehungen gar nicht überlebensfähig ist – sondern das flexible, die Freiheit respektierende, auf gegenseitigem Konsens beruhende friedliche Zusammenwirken, welches mündige Menschen im Auge hat, die sich im Regelfall eine eigenständige Gestaltung ihres sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungsnetzes zumuten, selbst wenn dies mit Schwierigkeiten und Ungleichheiten verbunden ist.

Liberalismus ist ein Verfahren, das auf Mündigkeit abzielt, im Wissen, dass diese durch gegenseitiges Zu-muten und nicht durch gegenseitigen Zwang gefördert wird. Die grundsätzliche Skepsis gegenüber jedem kollektiven Zwang unterscheidet die Liberalen von andern politischen Bekenntnissen und schafft jene Basis, auf der Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen zu einer gemeinsamen Politik zusammenfinden, auch wenn das, was alle verbindet, hauptsächlich negativ umschrieben wird.

Wider den Zwang

Politik kann als Prozess gedeutet werden, und demgemäss lassen sich – in Analogie – auch die Rollen der Angeklagten, der Kläger, der Richter und der Verteidigung unterscheiden. Auf der Anklagebank sitzen im politischen Prozess zunächst einmal die Behörden, die als politische Verantwortliche das staatliche Monopol des Zwangs handhaben, und die Wählerinnen und Wähler können an der Urne als Richter ihr Urteil fällen, während in der Öffentlichkeit die Ankläger und die Verteidiger zum Wort kommen. Alle Mandatsträger haben das Recht und die Pflicht sich zu verteidigen, denn es gibt ja durchaus legitime Gründe, aufgrund von gesetzlichen Grundlagen in das freie Spiel der Kräfte einzugreifen und auch gewisse Leistungen anzubieten. Entscheidend für die liberale Grundhaltung eines Behördemitglieds ist die konsequente und zurückhaltende Handhabung der gesetzlich beschränkten Machtbefugnisse und nicht der grosszügige Umgang mit dem Füllhorn der Umverteilung und das populäre Gewähren von Sondervorteilen. «Liberalitas» im Sinn der Freigebigkeit ist im Umgang mit Staatsmitteln aus liberaler Sicht gerade nicht gefragt. Aufgrund der Analogie zu einem Gerichtsverfahren lässt sich die Beweisführung im politischen Prozess anhand von vier Prüfsteinen charakterisieren.

Erstens: Vor allem Freiheit

«Im Zweifel für die Freiheit im Sinn der Spontaneität und der Nichtintervention.»

Auf dieser Regel beruht eine Kompetenzordnung, bei welcher der Staat für alles, was er unternimmt, den Beweis der Notwendigkeit erbringen muss. Dies geschieht aufgrund eines verfassungsrechtlichen Katalogs von Freiheitsrechten, der auch von demokratischen Mehrheiten zu respektieren ist. Dieser Katalog ist als eine Kompetenzordnung zugunsten der Privatautonomie zu interpretieren. Er zählt die Freiheiten nicht abschliessend auf, sondern schützt grundsätzlich jedes in Gegenwart und Zukunft aktuell werdende Freiheitsbedürfnis. Freiheit wird nicht als Geschenk des Staats an seine Bürgerschaft aufgefasst, sondern als vorbestehender Anspruch gegen den Staat.

Zweitens: Subsidiarität als Dezentralität

«Im Zweifel für die privatere und kleinräumigere Lösung.»

Diese Regel ist nichts anderes als eine notwendige Präzisierung und Ergänzung des altbekannten Subsidiaritätsprinzips, gemäss welchem Aufgaben erst dann an die staatliche Gemeinschaft bzw. an die höhere Gebietskörperschaft abgegeben werden sollen, wenn sie nicht mehr erfüllt werden können. Aktuell ist heute nicht die Zentralisierung, sondern die Rückgabe von Aufgaben an problemnahe und problemlösungsfähige Gemeinschaften, die vertraglich, personell und zeitlich beschränkte Verbindlichkeiten schaffen und auf zwingend allgemeinverbindliche Dauerregeln verzichten können. Dies ist in Zeiten zunehmender Konsensknappheit ein unbestreitbarer Vorzug.

Drittens: Unschuldsvermutung

«Im Zweifel für die Unschuld des Bürgers.»

Dieser fundamentale Satz richtet sich in erster Linie gegen den Überwachungs- und Schnüffelstaat. Die Unschuldsvermutung ist ein Pendant zur Freiheitsvermutung und darf aus liberaler Sicht nicht unterschätzt werden. Die Linke hat sich in diesem Bereich gelegentlich liberaler gezeigt als die Rechte, und es ist zu hoffen, dass das Prinzip unabhängig von den Gruppen, die es möglicherweise begünstigt, hochgehalten wird. Alles was der Staat nicht verbietet, ist grundsätzlich erlaubt, wobei davon auszugehen ist, dass eine Mehrheit freiwillig weitergehende ethische Schranken respektiert und sich nicht nur an Gesetze hält sondern auch an ethische Normen und soziale Konventionen. Das gegenwärtig bestehende Netzwerk von gesetzlichen Verboten und Geboten reduziert die Bereitschaft dazu, verleitet zu Übertretungen und zerstört mehr «öffentliche Ordnung» als es stiftet.

Viertens: Steuerskepsis

«Im Zweifel gegen die Steuerlast.»

Steuern sind für die Finanzierung von Staatsaufgaben notwendig. Wer aber Steuern nimmt, muss im politischen Prozess – nicht nur einmal sondern dauernd – den Beweis der Not-wendigkeit (im ursprünglichen und engen Sinn) erbringen. Mit einer Staatsquote von über 50 Prozent, haben wir uns in Europa an Staatseingriffe in Einkommen und Vermögen gewöhnt, die es bisher im Lauf der Geschichte in Friedenszeiten noch nie gegeben hat. Es ist an der Zeit, endlich auch im Bereich der Abgaben zu einer friedlichen Bürgergesellschaft zurückzukehren.

Vom Zweifel zum begründeten Vertrauen

Die vier Prüfsteine als «Beweisregeln» sind auf den ersten Blick ein Misstrauensvotum an die in diesem Zusammenhang angeklagten politischen Macht- und Verantwortungsträger. Weil es sich aber um Regeln in einem öffentlichen, fairen Prozess handelt, in welchem die Gegenseite (die ja zum Teil derselben politischen Partei angehört) durchaus ihre überzeugenden Gründe und Beweise vorlegen kann, dienen sie letztlich nicht dem Abbau sondern dem Aufbau politischen Vertrauens. Sie verschärfen auch nicht den Streit unter politisch Gleichgesinnten, da sie ja nur eine Einigung auf Verfahrensegeln beinhalten. An welchem Punkt man sich von den Argumenten der Gegenseite überzeugen lässt, bleibt offen, und es stellt sich weniger die polarisierende Frage, wie «links» oder wie «rechts» (bzw. wie «bürgerrechtsliberal». «wirtschaftsliberal» oder «nationalliberal») man reagiert, sondern wo sich – von Fall zu Fall und von Person zu Person – die Skepsis in eine Zustimmung verwandelt, wenn einmal die liberalen Zweifel überwunden sind. Ein radikaler Liberalismus provoziert daher keine zusätzlichen unproduktiven Flügelkämpfe in einem ohnehin immer fragwürdigeren «Links-Rechts-Spektrum». Er zeigt einen Weg, den Liberale auf weiten Strecken gemeinsam vorwärtsschreiten können. Je radikaler Skepsis und Zweifel gegenüber der Staatsmacht sind, desto schwerer müssen die Argumente wiegen, welche zugunsten einer Intervention, einer Subvention oder einem staatlichen Leistungsangebot vorgebracht werden. Das rationale Gespräch mit den grundsätzlich Gleichgesinnten, die sich aufgrund von Argumenten früher als die radikalliberalen Skeptiker von der Notwendigkeit von Freiheitsbeschränkungen, Staatsaufgaben und Steuerlasten überzeugen lassen, bleibt auch parteiintern stets offen. In einer dem Liberalismus und der Demokratie verpflichteten Partei ist es unvermeidlich, dass die einen eher die demokratische Identifikation («Der Staat – das sind wir alle») ins Zentrum stellen, die andern eher die liberale Skepsis («Der Staat darf nicht alles»)…

Jedes Zusammenleben beruht auf einer Mischung von Identifikation und Abgrenzung, wobei erstere – vor allem im persönlichen Umfeld – überwiegen sollte. Die historischen Erfahrungen im Zusammenhang mit politischen Systemen legen aber doch nahe, dass dort ein gewisses Misstrauen im persönlichen aber auch im öffentlichen Interesse liegt. Wer in einer politischen Funktion über das Monopol des Zwangs verfügt, weil es ihm auf Zeit und auf Abruf anvertraut ist bzw. anvertraut wird, sollte keine Mühe haben, sich einem Test aufgrund der vier Prüfsteine zu unterziehen und damit seine «Liberalismusverträglichkeit» unter Beweis zu stellen. Die politischen Systeme stehen zur Zeit in allen wohlfahrtsstaatlichen Demokratien unter dem Druck einer zunehmenden Aufgaben- und Ausgabenlast. Die grosse Zahl der Staatsklienten wird aber durch die Gewährung von staatlicher Unterstützung im Rahmen einer Umverteilung und durch die Bereitstellung eines umfassenden staatlichen Dienstleistungsangebots nicht zufriedener, sondern stellt – von Neid und Frustration getrieben – immer neue Forderungen an den Staat, der seinerseits die Gruppe der wirklich Bedürftigen nicht im erwünschten Mass aus der Sackgasse der Bevormundung herausführen kann. Wer diesen Staat nur an den Vorteilen misst, welche politische Mandatsträger für die eigene Gruppe von Betroffenen «herausholen», verkauft seine Stimme an die Meistbietenden und ruiniert damit das Gemeinwesen.

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