(32. Franz-Böhm-Vortrag in der IHK Ludwigshafen, gehalten am 10. Februar 2005)
Zunächst möchte ich mich herzlich für die Einladung nach Deutschland bedanken. Ich bin sehr gerne hierher nach Ludwigshafen gekommen, und bei einer Industrie- und Handelskammer fühle ich mich sowieso immer schnell zu Hause. Das Verhältnis der Schweizer zu ihrem nördlichen Nachbarn ist im Lauf der Geschichte nicht immer ungetrübt gewesen. Aber Deutschland ist seit je unser wichtigster Wirtschaftspartner. Eine viel entscheidendere und tiefere Verbindung der Schweiz mit Deutschland ist aber kultureller Natur. Sie ist mit dem Namen Friedrich Schiller verbunden. Schiller hat mit seinem «Wilhelm Tell» den Eidgenössischen Staatsmythos in dichterische Form gegossen und unsterblich gemacht. Wenn ich heute einleitend dankbar auf diese Tatsache aufmerksam mache, geschieht dies nicht nur aus Anlass des Schiller-Jahres und weil vor etwas mehr als 200 Jahren das Stück in Weimar uraufgeführt worden ist. Mein Hinweis auf den liberalen idealsten Schiller ist auch mehr als ein Akt der Höflichkeit. Ich werde in meinem Referat mehrmals direkt und indirekt auf ihn Bezug nehmen. Schillers Freiheitsidee, wie er sie in seinem «Tell» auf die Bühne brachte, basiert auf zwei Säulen. Es geht unter anderem um das Spannungsfeld zwischen Tell, der als Tyrannenmörder das Widerstandsrecht gegen die angemasste Staatsgewalt verkörpert und den Gemeinsinn der Eidgenossen auf dem Rütli, die ihre gemeinsamen Probleme gemeinsam gelöst haben. Auf diesen zwei Säulen beruht wohl jede freiheitliche Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung: Machtskepsis und Gemeinsinn.
Ich hoffe, Sie spüren in meinem Referat die beiden Elemente, obwohl meine persönliche Sympathie eher dem Freiheitsunternehmer Tell gilt. Ich bin nämlich der Auffassung, wir sollten gegenüber dem heutigen Wohlfahrtsstaat in erster Linie den Geist des Widerstands mobilisieren. Allein, mit lauter Tellen, mit spontanen Individualisten, die angemasste Macht ablehnen und bekämpfen, funktioniert auf die Dauer kein Staat und keine Staatengemeinschaft. Es braucht auch das eidgenössische Bündnis, das auf dem Rütli beschworen wurde. Das ist unter anderem die Botschaft, die uns Schiller in seinem Schauspiel vermittelt, das mittelbar ja auch seine Antwort auf die Französische Revolution enthält.
Ich habe in Deutschland sehr viele Freunde und pflege einen regen Gedankenaustausch mit ihnen. Dabei stelle ich fest, dass es in Deutschland gegenüber der Schweiz auch eine Tendenz zur Idealisierung gibt. Viele glauben, beim kleinen südlichen Nachbarn sei alles besser. Diesen Wunschtraum von einem kerngesunden, direktdemokratischen, helvetischen Arkadien kann ich aus meiner Sicht nicht aufrechterhalten. Die Schweiz ist kein Modell, sie ist ein Experiment; ein ziemlich erfolgreiches, aber doch ein Experiment, und zwar eines, das noch nicht abgeschlossen ist und zur Zeit erhebliche Abnützungserscheinungen zeigt. Ich führe diese zum Teil auf mangelndes Selbstbewusstsein und Stehvermögen im Innern und zum Teil auf den europäischen Anpassungsdruck von aussen zurück.
Manchmal drängt es mich zu sagen, unsere Vorteile bestünden einfach darin, dass wir alle Fehler ein bisschen langsamer machen als unsere Nachbarn, und dass wir uns so die Möglichkeit offen halten, aus den Fehlern der andern zu lernen. Als Beispiel nenne ich die egalitäre Bildungsreform, bei der in Deutschland heute mit guten Gründen zurückbuchstabiert wird und die wir glücklicherweise nur in Ansätzen mitgemacht haben. Ein anderes Beispiel ist die Mitbestimmung in der Wirtschaft.
Die Schweiz ist ein Sonderfall, aber auch Deutschland ist auch ein Sonderfall, wie auch Frankreich, Italien und das UK und eigentlich jeder europäische Staat. Europa lebt davon, dass viele Sonderfälle nebeneinander und miteinander existieren und in einem hoffentlich auch in Zukunft friedlichen Wettbewerb voneinander lernen können. Europa kann nicht auf einem einzigen idealen Modell beruhen, das von Brüssel für allgemeinverbindlich erklärt wird. Es lebt seit je von vielfältigen Experimenten und hat dafür auch einen hohen – einen unnötig hohen – Blutzoll errichtet. Jedes politische System, jedes Gesellschaftssystem und jedes Wirtschaftssystem ist ein Experiment. Im Unterschied zur Schule, ist in der Politik und in der Wirtschaft «abgucken» erlaubt und sogar erwünscht. Man sollte im Systemvergleich herausfinden, was andernorts besser ist und besser funktioniert. Je kleiner die Gemeinschaften sind, welche mit der besten Form des Zusammenlebens, und damit auch mit der besten Wirtschaftspolitik experimentieren, desto kleiner sind die Risken grosser und fundamentaler Irrtümer.
Die Wirtschaftspolitik der Schweiz ist generell nicht wesentlich liberaler als die Deutschlands oder der EU, aber da wir die Irrtümer und die Fehler etwas langsamer und non-zentraler begehen, profitieren wir von einem kollektiven Lerneffekt, und ich hoffe, ich könne heute in meinen Stichworten diesbezüglich einige Erfahrungen vermitteln und Thesen zur Diskussion stellen.
Zur Einstimmung in das Thema möge das folgende Zitat dienen:
«Im Übrigen bleibt es eine wichtige Aufgabe, dem penetranten Versuch, die freie Marktwirtschaft, die wir meinen, als abgetan und altmodisch zu charakterisieren und eine andere, rechenhafte Auch-Marktwirtschaft etablieren zu wollen, unseren geistigen und seelischen Widerstand entgegenzusetzen. Gegenüber der klaren Ordnungsvorstellung der freien Marktwirtschaft ist der zweifelhafte Wert des heute so viel gerühmten «Pragmatismus» ins rechte Licht zu rücken. Ich gewinne indessen immer mehr den Eindruck, dass der Unternehmer an der Nützlichkeit einer Wirtschaftspolitik zweifelt, die ihm im raschen Wechsel zahlenmässiger Prognosen den Boden für echte unternehmerische Entscheidungen entzieht, aber ihn damit zugleich in eine immer stärkere Abhängigkeit geraten lässt. Wie soll er einer planenden Vorausschau auf mittlere und längere Sicht vertrauen können, wenn sich schon von Quartal zu Quartal nicht voraussehbare Wandlungen vollziehen. Wer allerdings die These bejaht, dass auf diesem Feld die Bürger eines Landes nur die Vollzugsorgane staatlichen Willens zu sein haben und somit der Staat mehr oder minder allein die Zukunft eines Landes oder Volkes bestimmt, wird für das innerste Wesen einer freien Marktwirtschaft kaum mehr Verständnis aufbringen können. Das aber ist wohl kaum zu befürchten, dass uns nur noch ein Termitendasein im Kollektiv übrigbleibt.»
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus einer Rede, die Ludwig Erhard im Jahre 1969 in der Schweiz gehalten hat, und die seinerzeit in den Schweizer Monatsheften, die ich heute redigiere, publiziert worden ist. Es freut natürlich den Redakteur einer Monatszeitschrift, wenn nach über 30 Jahren ein Beitrag immer noch so aktuell ist, denn das gilt beileibe nicht für alle Artikel. Ludwig Erhard hat den Begriff «soziale Marktwirtschaft» bekanntlich nur darum akzeptiert und mitverantwortet, weil er, wie er wiederholt betonte, eine freie Marktwirtschaft «per se» für sozial hielt. Ich teile diese Auffassung, aber sie ist heute bei all jenen in Vergessenheit geraten, die das Soziale als «Schranke» und als «Fessel» deuten, mit dem via Wirtschaftspolitik das Prinzip des Marktes zu «zähmen» sei. Damit sind wir schon mitten im Thema.
Als Autor eines Buchs mit dem Titel «Politische Grundbegriffe – eine Auslegeordnung» (Zürich 2002, NZZ Verlag) nehme ich Begriffe und Vortragsthemen sehr ernst. Wenn ich also über «Stichworte zu einer liberalen Wirtschaftspolitik» reden darf, habe ich dann meinen Auftrag erfüllt, wenn es mir gelingt, Stichworte zu formulieren, die im wahrsten Sinn des Wortes stichhaltig sind und zu einer Diskussion anstacheln. Zudem möchte ich einige Facetten zum Begriff «liberal» beifügen und erklären, was ich unter «Wirtschaft» verstehe und wie Wirtschaft und Politik miteinander verknüpft sind und verknüpft werden sollten. Wenn mir dies gelingen sollte, hat sich meine Reise nach Ludwigshafen gelohnt.
Zum Verhältnis von «Staat», «Wirtschaft» und «Gesellschaft»
Ich habe in meinem Buch versucht, das Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft abzugrenzen. Ich lehnte mich dabei an einen Vortrag von Friedrich Naumann, einem deutschen Liberalen an, der mir allerdings in seiner politischen Karriere nach rechts und links etwas zu anpassungsfähig erscheint – möglicherweise blieb ihm unter den gegebenen Umständen keine andere Wahl. In einem Vortrag machte Naumann ein paar Aussagen, welche das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft (er spricht im Originaltext vom «Betrieb») klären: «Der Staat, das sind wir alle, der Staat darf nicht alles. Die Wirtschaft, das sind wir alle, die Wirtschaft darf nicht alles. Die Gesellschaft, das sind wir alle, die Gesellschaft darf nicht alles.»
Zunächst zum Staat, den man heute das politische System zu nennen pflegt. «Der Staat, das sind wir alle.» Dieser Satz ist ein Bekenntnis zur Demokratie, und alle Leute, die den Staat hassen und beschimpfen, sollten wissen, dass sie in einer Demokratie auch ein bisschen sich selbst beschimpfen. Ich hasse den Staat nicht, aber ich markiere als Anti-etatist, wie ich noch ausführen werde, eine deutliche Distanz zu ihm. «Der Staat darf nicht alles». Dieser Satz beinhaltet die urliberale Skepsis gegenüber der unbegrenzten Staatsmacht. Ich habe diesen beiden Sätzen einen dritten hinzugefügt, der wie folgt lautet: «Der Staat kann nicht alles». Eines der Probleme, die wir haben, besteht darin, dass der Staat heute viele Dinge macht, die er gar nicht kann. Das ist eine der Sackgassen, in der wir stecken – auch in der Schweiz: Dem Staat werden Aufgaben übertragen und er übernimmt Aufgaben, die er auf die Dauer weder organisatorisch noch finanziell nachhaltig bewältigen kann. Darum wird er zu einer Institution, die Dinge verspricht, die letztlich nicht erfüllbar sind, eine Institution, die damit ihre Glaubwürdigkeit verliert und zum Lügen verdammt ist. Wenn ein Staat sein Kerngeschäft, seine Grundaufgaben bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nicht mehr befriedigend erfüllen kann, verliert er schrittweise seine Legitimität. Wer also den Staat auf das eingrenzen und zurückführen will, was er als Inhaber des Zwangsmonopols wirklich kann, ist nicht gegen den Staat.
«Die Wirtschaft, das sind wir alle. Die Wirtschaft darf nicht alles». Ich ergänze auch hier: «Die Wirtschaft kann nicht alles». Zunächst stellt sich die Frage, ob es so etwas wie «die Wirtschaft» überhaupt gibt. Das Feindbild des Kapitalisten mit der dicken Zigarre, der die Wirtschaft verkörpern soll, blendet vieles aus, das ebenfalls organisch zur Wirtschaft gehört. Die Wirtschaft besteht aus Produzenten und Konsumenten, aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wobei interessant ist, dass die Begriffe ja paradox verwendet werden. Wer offeriert denn in einem Arbeitsvertrag seine Arbeitskraft und wer nimmt das Angebot entgegen? Zur Wirtschaft gehört auch die ganze Infrastruktur. Ich wehre mich immer gegen eine zu enge Definition dessen was «Wirtschaft» ist und sein soll. Vielleicht leiden wir in ganz Europa darunter, dass wir im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, das Wirtschaftliche auf das rein geldmässige, Gewinnorientierte, oder – wie unsere Gegner sagen – Profitorientierte reduzieren. Wirtschaft lässt sich nicht auf den monetären Bereich einschränken. Wirtschaft ist Kommunikation, ist Austausch im weitesten Sinn. Auf Märkten werden nicht nur Güter und Dienstleistungen im engeren Sinne ausgetauscht. Es geht im Wirtschaftsleben nicht nur ums Geld, sondern auch um Anerkennung, Wohlbefinden, Befriedigung, um den guten Ruf, der eine wichtige Basis der Kreditwürdigkeit und der generellen menschlichen Glaubwürdigkeit bildet. Das lässt sich nie sauber auseinanderdividieren. Auch das Sponsoring, ja, auch das Mäzenatentum und die Caritas befinden sich nicht ausserhalb der Wirtschaft, weil ja die Mittel, die dort gespendet werden, alle zunächst einmal erwirtschaftet werden müssen. Dasselbe gilt auch bei der Umverteilung durch den Staat.
In jedem Arbeitsverhältnis ist der Lohn ein wichtiger Bestandteil, aber Arbeit ist nicht nur eine Tätigkeit, die mit Lohn abgegolten wird. Jeder Arbeitnehmer möchte auch anerkannt, akzeptiert und in seinem Wert geschätzt werden. Das ist vielleicht noch wichtiger als die rein wirtschaftliche Seite der Arbeit. Wer dem Menschen die Möglichkeit, zu arbeiten vorenthält, und ihn mit einer Rente abspeist, nimmt ihm einen Teil seiner menschlichen Würde. Lassen wir uns nicht von den Wirtschaftskritikern und –gegnern einen zu engen Begriff von Wirtschaft aufdrängen! Wirtschaft ist etwas sehr Umfassendes, das zwar Gewinnstreben einschliesst, aber nicht nur aus Gewinnstreben besteht. Wirtschaft ist Kommunikation im weitesten Sinn.
Der grosse, in Europa viel zu wenig bekannte Liberale Ludwig von Mises, ein prominenter Vertreter der sogenannten «Österreichischen Schule», der auch Mentor und Kollege von Friedrich August von Hayek war, hat sein Hauptwerk über die Wirtschaft mit dem Titel «Human Action» versehen. Wirtschaft ist für ihn einfach menschliches Handeln, «menschlich» im deskriptiven und normativen Doppelsinn des Wortes. Wer darunter nur den rationalen Tausch versteht, merkt sehr rasch, wie schwierig es ist, zu bestimmen, was denn «rational» bedeutet, denn in der Wirtschaft spielen emotionale Impulse eine zentrale Rolle. Alle, die mit der Vertragslehre des Privatrechts vertraut sind (und es ist kein Zufall, dass F.A. von Hayek Ökonomie und Rechtswissenschaft studiert hat), wissen, dass die Verbindlichkeit von Verträgen nicht von den Motiven der Vertragsparten abhängt, weil es schlicht unmöglich wäre, diese endgültig zu entschlüsseln. Wir kennen ja nicht einmal unsere eigenen «letzten Motive». Gewinnstreben mag eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, es ist aber nur eine Teilkomponente des menschlichen Verhaltens, eine Komponente, die vielleicht überschätzt wird. Rationalität und Gewinnstreben sind mögliche Deutungsmuster, aber sie vermögen nicht alle Tauschbeziehungen abschliessend zu erklären. «Wirtschaft» beruht also aus dieser Sicht auf einem Austausch, der sowohl auf rationalen als auch emotionalen und letztlich nicht vollkommen ergründbaren Motiven beruht. Wirtschaft ist das, was unter Menschen geschieht, wenn keine Zwangsgewalt interveniert. Oder auf Englisch: «Economy happens» bzw. «Market happens».
Ist Wirtschaft Wettbewerb und nur Wettbewerb? Wettbewerb wird von vielen gelobt und von wenigen geliebt. Viele Unternehmer haben kein anderes Ziel, als sich diesem Wettbewerb mit irgendwelchen Mitteln zu entziehen, indem sie sich mit anderen Firmen absprechen und zusammenschliessen oder indem sie sich mit der Politik verbandeln, meist beides in komplexer Kombination. Man hat auch schon versucht, die Politik und Wirtschaft voneinander abzugrenzen, indem man die Politik als «den Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt» definierte. Ich sehe das heute realistischerweise eher umgekehrt. Wirtschaft ist jener Spielraum, den die Politik ihr überlässt. Dazu gibt es einen empirischen Befund: die Staatsquote. Je nach dem, wie sie gemessen und definiert wird, liegt diese in Deutschland und auch in der Schweiz zwischen 40 und 50 Prozent, die Schweiz hat sich leider diesbezüglich in den letzten 20 Jahren ihren Nachbarn angepasst. Sie ist keine Steueroase mehr. Wenn wir uns an den guten alten Zehnten des Mittelalters erinnern, ist das, was der Staat heute von unserem Einkommen wegsteuert, eine historisch einmalige, aus liberaler Sicht skandalöse Ausnahmeerscheinung.
Man kann sich fragen, wie es dazu gekommen sei, und es gibt verschiedene Theorien darüber, warum diese massiven Eingriffe ins Privateigentum stattfinden und akzeptiert werden. Ein Grund dafür liegt sicher darin, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Kriege war. Die Folge dieser Kriege war die Zerstörung privater Vorsorgenetzwerke und das subsidiäre Einspringen der Organisation namens Staat in Bereiche, die früher innerhalb der Familie gelöst wurden. Mir ist es klar, auch wenn ich aus einem Land komme, das diesen Schritt nicht so schmerzlich mitmachen musste, dass es nach den Weltkriegen diese staatliche Unterstützung möglicherweise gebraucht hat, um die Not zu lindern und den sozialen Frieden zu sichern. Aber die Frage ist berechtigt, ob es nicht an der Zeit wäre, auch fiskalisch wieder zu friedlicheren Zuständen überzugehen. Aus meiner Sicht ist diese Zeit gekommen. Wir sollten in Europa die kriegswirtschaftliche Steuerquote auf friedlichere Steuerquoten herunterfahren. Ob wir je wieder auf 10 Prozent herunterkommen, weiss ich nicht, ich weiss aber, dass die Schweiz einen sehr kleinen und tüchtigen Nachbarn hat, nämlich das Fürstentum Liechtenstein, das mit einem Höchststeuersatz von 18 Prozent auskommt und damit sehr gut fährt. Die Gründe mögen vielfältig und nicht generalisierbar sein, aber allein die Tatsache, dass so etwas möglich ist und real existiert, stimmt einen Liberalen optimistisch.
Was heisst «liberal»?
Nun ein paar Bemerkungen zum Begriff «liberal». Der Begriff ist auf internationaler Ebene schon so vieldeutig, dass er fast keinen Sinn mehr vermittelt. In den USA sind die «Liberals» die Etatisten und Zentralisten, die noch mehr Probleme über den Staat lösen möchten. Der Begriff ist dort in sein Gegenteil verkehrt worden, was die Kommunikation auf internationaler Ebene erschwert.
Etwas eindeutiger, aber auch vielfach missbraucht, ist der Begriff der «Freiheit». Ich habe schon mehrmals versucht, diesen Begriff zu umschreiben. Dies ist mir nur in der Form eines Paradoxes annäherungsweise gelungen: «Freiheit ist jene Idee, die immer gleichzeitig unendlich bedroht und unendlich resistent ist.» Das eine müssen wir wissen, und das andere dürfen wir hoffen. Das ist – kurz zusammengefasst – der liberale Ansatz. Ich glaube, dass die unendliche Resistenz der Freiheit damit zu tun hat, dass eine negative Definition von Freiheit doch am nächsten an die Wahrheit herankommt: Freiheit als Abwesenheit von Zwang. Und Zwang weckt eben in der Regel Abwehrkräfte. Freiheit als Anti-Zwang: Das klingt nicht sehr feierlich und ist vielleicht sogar etwas kleinkariert, aber dafür ist es sehr präzise, und drückt auch das aus, was jeder am eigenen Leib erleben kann.
Freiheit als Grundprinzip der Wirtschaftspolitik
In der juristischen Doktrin hat man daraus eine Regel abgeleitet, die mir sehr am Herzen liegt, obwohl sie mir zu wenig weit geht: «In dubio pro libertate, im Zweifel für die Freiheit.» Ich gehe noch weiter und postuliere: «Freiheit als Grundprinzip», auch in der Wirtschaftspolitik. Ich weiss aber, dass in vielen Fällen dieses Grundprinzip ergänzt, vielleicht sogar notwendigerweise verletzt werden muss, aber alle, die das tun, tragen die Beweislast, dass Eingriffe wirklich im ursprünglichen Sinn not-wendig sind. Wenn man mir vorwirft, ich sei ja beinahe ein Anarchist, so antworte ich, das sei für mich eine Art denknotwendige Zwischenstation. Der Ausgangspunkt der Diskussion um die Frage «Wie viel Zwang brauchen wir?» liegt für mich bei null. Dann bin ich bereit zu akzeptieren, dass es zur Bekämpfung von Gewalt oft auch Gegengewalt braucht. Es braucht ein Strafrecht, es braucht ein Zwangsvollstreckungsrecht, eine Landesverteidigung und dann schrittweise, immer vom Begriff des Notwendigen her, bin ich bereit zu akzeptieren, dass sich die Freiheit gegenüber ihrem Widerpart namens Zwang immer wieder neu behaupten und bewähren muss.
Anarchismus ist ein wichtiges Denkmodell, aber kein politisches Programm. Der liberale Ausgangspunkt der Wirtschaftspolitik, ja, auch der Politik ganz allgemein, ist die Frage: «Ist das wirklich notwendig?» Ein liberaler Staat, wie wir ihn im 21. Jahrhundert verwirklichen sollten, muss die seit der «Magna Charta» in Ansätzen verankerte «Unschuldsvermutung» durch eine umfassende «Freiheitsvermutung» ergänzen. Jeder Katalog von Grundrechten sollte nur eine Aufzählung von besonders bedrohten Bereichen sein und darüber sollte, wie dies der liberale Schweizer Staatsrechtslehrer Giacometti, (übrigens ein Verwandter des Künstlers) postuliert hat, die Generalklausel stehen: Und im Übrigen besteht eine generelle Grundvermutung zugunsten der Freiheit aller Individuen. Die sogenannten Grundrechte (besser: Freiheitsrechte) sind damit keine in einem Katalog verbrieften, vom Staat verliehenen und meist gleich wieder relativierten Ansprüche mehr, sondern Beispiele für eine vorbestehende existenzielle Befindlichkeit, eine unüberschreitbare Schranke jeglicher Staatstätigkeit.
Hier eine kurze Zwischenbilanz: Ich habe bisher in meinem Vortrag ein paar Stichworte zum Begriff «Wirtschaft» formuliert. «Wirtschaft» muss in einem weiten Sinn gedeutet und verstanden werden, und ich vermute sogar, dass es keine guten Argumente gibt, die Wirtschaft vom Bereich der Kultur sinnvoll abzugrenzen. Daran anknüpfend habe ich versucht, Liberalismus und Freiheit zu umschreiben, und ich komme nun zu drei Grundsätzen, welche eine liberale Wirtschaftspolitik bestimmen sollten. Diese Grundsätze sind nicht von mir erfunden worden. Ich versuche lediglich, sie aus liberaler Sicht neu zu deuten.
Personalität: Den mündigen Menschen als Ursprung und Ziel begreifen
Jede liberale Staats- und Wirtschaftsordnung steht und fällt damit, dass sie die Eigenständigkeit der Person respektiert. Das führt zu einem Slogan: Wo bisher Zwang herrschte, soll sich neu Freiwilligkeit und Autonomie ausbreiten. Und das Stichwort soll heissen: von der Fremdbestimmung und Regulierung zur Selbstverantwortung. Ich weiss, dass dies nicht in einem Zug realisierbar ist. Das Ziel ist nur durch einen «geordneten Rückzug» aus entmündigenden Fehlstrukturen zu erreichen. Ich benütze dieses Bild, obwohl es mir im Freundeskreis auch schon viel Kritik eingetragen hat. «Warum diese militärische Terminologie, warum so kleinmütig und unspektakulär? Politik muss doch voranstürmen, attackieren!» Für mich enthält der Begriff «geordneter Rückzug» die ganze «Agenda» für das, was wir in Europa und insbesondere in Westeuropa – nicht nur in der Wirtschaftspolitik – in den nächsten Jahrzehnten zu tun haben.
Ausgangspunkt jeder freiheitlichen Politik sollte der mündige Mensch sein, dem zugemutet wird, seine Probleme eigenständig zu lösen. Eigenständigkeit als Grundwert bedeutet aber keinesfalls, dass das friedliche Zusammenleben in einer arbeitsteiligen Welt keine Kooperation braucht. Für jede Kooperation muss aber der Partner auch selbst etwas einbringen und in jedem Menschen steckt etwas Eigenes und Einzigartiges, ein Tauschpotential, das ihn für eine Kooperation wertvoll macht. Wer gegenüber seinem Mitmenschen in erster Linie Ansprüche stellt und auf Rechte pocht, wählt einen verhängnisvollen Einstieg in einen Prozess, der auf dem freien Austausch von Angeboten und Nachfragen aller Art beruht. Auch ein funktionierendes Gemeinwesen beruht auf der Übernahme von selbstgewählten Pflichten. Erst wenn ein solches Netzwerk von Verpflichtungsangeboten bereit steht, können analog dazu auch Rechte abgeleitet werden. Die Freiheit und Würde des Menschen beruht darauf, dass er seinen Beitrag an das Gemeinwesen, seine Verantwortung, möglichst selbst bestimmen kann. Eine Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern diese Eigenständigkeit einräumt, geht auch das Risiko ein, dass einzelne Menschen ihre Pflichten verletzen oder nur unvollkommen wahrnehmen. Abweichendes, verantwortungsloses und rechtswidriges Verhalten kann in einer liberalen Gesellschaft nie absolut verhindert werden. Es bleibt stets ein Restrisiko. Aber auch eine freiheitliche Gesellschaft darf und muss sich gegen Verbrechen und Missbräuche schützen. Soweit meine Ausführungen zum Prinzip der Eigenständigkeit der Person.
Subsidiarität: So privat und so bürgernah wie möglich werden
Ein zweites Grundprinzip heisst: «Personenbezogene, vertragliche und kleinräumige Netze der Hilfeleistung schaffen.» Der Slogan dazu: Wo bisher Zentralen herrschten, sollen neu kleine Einheiten konkurrieren. Entzentralisierung vorantreiben und Zentralisierung bekämpfen. Ich weiss, dass solche Bestrebungen auch in der Bundesrepublik vorhanden sind und dass diese an verschiedenen Stellen wieder abgeblockt werden. Aber Eigenständigkeit ist die Ausgangsbasis für alle Formen freiheitlicher Gemeinschaft. Wenn sie nicht generell und möglicherweise nicht einmal von einer Mehrheit gewünscht wird, so ist sie doch zumutbar. Wir müssen einander gegenseitig Mündigkeit zumuten, im wahrsten Sinn des Wortes. Eigenständigkeit existiert weder am Anfang noch am Ende des Lebens; wir werden – entgegen Schiller – nicht frei geboren, wir stehen zu Beginn des Lebens in einer vollständigen Abhängigkeit und verlieren auch im Alter oft wieder einen Teil unserer Unabhängigkeit. Wir sind dann möglicherweise auf die Netzwerke der Fürsorge und auf Hilfeleistung angewiesen. Aus freiheitlicher Sicht sollen solche Hilfeleistungen stets nach den Grundsätzen «So wenig wie möglich, so viel wie nötig.» ausgerichtet werden und «je privater desto besser». Was notwendig ist, lässt sich umso besser beantworten, je näher sich die Betroffenen und Beteiligten persönlich kennen. Darum ist auch die Nächstenliebe anthropologisch viel besser fundiert als die Fernstenliebe. Ich bin nicht für eine Abschaffung aller sozialen Aufgaben des Staates, aber ich möchte sie jenen politischen Organisationen zurückgeben, die eine Begegnung von Mensch zu Mensch ermöglichen und die die Leute kennen, damit sich keine Missbräuche etablieren. Also: Die zweite Säule des Zusammenlebens in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat sind die kleinen Netzwerke der Hilfeleistung.
Solidarität: Freiwillig zusammenwirken
Und nun das dritte Grundprinzip: «So zusammenwirken, dass letztlich alle etwas davon haben.» Der Slogan dazu: Wo bisher erzwungene Solidarität war, soll neu spontane Solidarität entstehen. Sie staunen vielleicht, von einem Radikalliberalen das Wort «Solidarität» zu hören, aber ich habe nur dann etwas gegen Solidarität, wenn sie etwa nach dem Motto «Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein» erzwungen wird. Denn Solidarität lebt davon, dass eine gegenseitige Kommunikation zwischen Helfenden und den Hilfebedürftigen besteht, und wenn wir Solidarität mit Zwang verbinden, dann zerstören wir letztlich die Bereitschaft zur Solidarität. Schritte in diese Richtung sind bereits gemacht worden. Es gibt auch internationale Untersuchungen zu diesem Problem: Man hat beobachtet, wie Menschen, die in Staaten leben, wo ein stark entwickelter Wohlfahrtsstaat vorhanden ist, das Gefühl verlieren, sie seien für ihre Mitmenschen, ihre Nächsten, unmittelbar verantwortlich; beispielsweise wenn die eigenen Eltern alt und bedürftig werden. Eine Umfrage hat gezeigt, dass ein Entwicklungsland wie die Philippinen die höchsten Werte innerfamiliärer Solidarität zeigt, wenn danach gefragt wird, ob alte und kranke Eltern ein Problem seien. Philippinos bezeichneten das als eine der entscheidenden wirtschaftlichen und sozialen Lebensaufgaben jedes Menschen. In Wohlfahrtsstaaten wie Schweden wird das anders gesehen. Die Versorgung alter Menschen wird als Staatsaufgabe wahrgenommen und nicht als persönliches Problem. Wer viel mit jungen Leuten zusammen ist, hört sehr häufig die Floskel: «Hören Sie mal, das ist nicht mein Problem.» Wenn das nun unisono alle Leute sagen, gelangen wir zu jener generellen persönlichen Enthaftung im sozialen Bereich, die schliesslich das soziale System als Ganzes zum Erliegen bringt. Deshalb ist der sogenannte Wohlfahrtsstaat eine riesige Unternehmung zur Abschaffung der gegenseitigen persönlichen sozialen Verantwortung.
Die drei Grundprinzipien, die ich erwähnt habe, sind nichts anderes als das, was schon die katholische Soziallehre formuliert hat: Personalität, Subsidiarität und Solidarität. Die Dreierformel ist, wenn man sie zweckmässig auslegt, zukunftstauglicher als «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». Sie könnte die ideelle Basis einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bilden.
Vorschlag für ein liberales «Credo»
In einem andern Buch mit dem Titel «Eigenständigkeit – die Schweiz ein Sonderfall» habe ich versucht, sieben Grundsätze eines bürgerlich-wertkonservativen Liberalismus zu formulieren, die ich abschliessend vortragen und kurz kommentieren möchte, weil ich testen will, ob sie als liberales Credo – adaptiert – auch für andere Länder brauchbar wären:
1. Wir vertreten einen radikalen Liberalismus. Warum «radikal»? Ich weiss, dass in Deutschland der Begriff «radikal» historisch negativ belastet ist (etwa im Zusammenhang mit dem Radikalenerlass aus den Sechzigerjahren). Ich möchte aber den Begriff so verstanden wissen, wie er ursprünglich gemeint war. Radikal sein heisst «an die Wurzel gehen» und «Dinge von der Wurzel her begreifen». Die grundsätzliche Skepsis gegenüber jedem Zwang und die Frage nach der Notwendigkeit bei jedem Eingriff in die Freiheit hat etwas Radikales. Der radikale Liberalismus ist eine politische Grundhaltung, die auf der Ebene des Denkens und des Formulierens von Zielen möglichst wenige Konzessionen an bestehende und nach dem Giesskannenprinzip «von allen an alle» umverteilende staatliche Institutionen und Strukturen machen will.
2. Wir wollen eine offene Marktwirtschaft. Ich bin ganz der Auffassung von Ludwig Erhard, dass Marktwirtschaft von sich aus eine soziale Komponente hat und keiner einschränkenden und relativierenden Adjektive bedarf. Als Liberaler sollte man kein schlechtes Gewissen haben, wenn man das aufgeklärte Eigeninteresse verfolgt und als Firma verhält man sich nur dann sozial, wenn man Gewinne oder wenigstens keine Verluste macht. Gewinnstreben ist sozial. Die Marktteilnehmer müssen sich intelligent und mit langfristiger Perspektive verhalten und der Markt muss frei und offen sein.
3. Wir sind wertkonservativ. Konservativ sein heisst «bewahren wollen», aber für eine schrittweise, organische Entwicklung eintreten. Wer sich zum Konservatismus bekennt, sollte sich zusätzlich dazu äussern, was aus seiner Sicht bewahrenswert ist und was änderungsbedürftig. Dabei gibt es zwei gegensätzliche Formen des Konservatismus: Die einen wollen Werte bewahren, die anderen Strukturen. Wertkonservative möchten an bestimmten Werthaltungen festhalten und sind darum gerade an jenem Wandel interessiert, der zur Verwirklichung ihrer Werte bestmögliche Bedingungen schafft.
4. Wir haben ein nationales Selbstbewusstsein. Warum sollen dies nicht auch Deutsche von sich sagen dürfen? Ich meine, es gehöre zur Natur der Menschen, dass sie sich mit einer Gruppe identifizieren, die eine gemeinsame Geschichte hat. Jedes Land hat ein Recht auf ein nationales Selbstbewusstsein und in jedem Land gibt es helle und dunkle Perioden der Geschichte. Die Identifikation muss mit den hellen Seiten geschehen. Wer das nicht zulässt, riskiert, dass zuletzt pathologische Formen des Nationalismus wieder erwachen.
5. Wir sind weltoffen. Je kleiner man ist, desto wichtiger ist es, seine Offenheit immer wieder zu demonstrieren. Aber auch Grosse brauchen heute Weltoffenheit. Das sollte all jenen ins Stammbuch geschrieben werden, die aus der EU einen autarken Wirtschaftsblock machen wollen. Die EU ist mit ihrem latenten Antiamerikanismus vielleicht doch nicht so weltoffen, wie sie behauptet.
6. Wir befürworten die Zivilgesellschaft.
7. Wir befürworten friedlich konkurrierende, non-zentrale politische Kleinsysteme. Die Kleinsysteme erlauben es, Irrtümer zu begehen und Fehler zu machen, aber ohne gravierende Folgen. Bürgersinn in seiner ursprünglichen Bedeutung bleibt hauptsächlich in der kleinen Gemeinschaft lebendig.
Zum Abschluss eine historische Reminiszenz – und zurück zu Schiller:
Ich habe kürzlich im Zusammenhang mit Schiller eine Biographie über Jeanne d’Arc gelesen. Für mich ist dieses einfache Mädchen aus der Provinz, das durch sein aktives Handeln in die europäische Geschichte eingegriffen hat, ein eindrückliches Beispiel für historisches Unternehmertum im weitesten Sinn. Was Jeanne d’Arc in die Wege leitete, hat für Europa weitreichende historische, politische und geistesgeschichtliche Folgen ausgelöst. Das Hirtenmädchen, das kaum seinen Namen schreiben konnte, hat bewiesen, dass Unternehmertum keine primär intellektuelle Angelegenheit ist. Es setzt vielmehr einen festen Willen, eine klare Vorstellung und eine Begabung für Kommunikation voraus – speziell auch für symbolische wirksame Akte. Johanna hat den König aus seiner Lethargie geweckt und zur Krönung geführt. Als Dank dafür wurde ihr dafür ein Wunsch gewährt. Er ist historisch überliefert und zeugt davon, dass die «Jungfrau von Orleans» nicht nur ein militärisches, sondern auch ein ökonomisches Genie war. Sie wünschte sich nämlich, dass ihr Heimatdorf Domrémy für alle Zeiten von Steuern zu befreien sei. Das zeigt, wie unternehmerisch, wie menschlich und wie praxisorientiert sie überlegte. Sie wollte nichts unmittelbar für sich, aber sie erkannte, dass sie ihrer Dorfgemeinschaft durch die Steuerbefreiung auf die Dauer den grösstmöglichen Gefallen erweisen konnte, einen grösseren als irgendwelche korrumpierenden Geschenke, die lediglich abhängig machen und die Eigeninitiative schwächen. Das gilt für Individuen, Firmen und politische Gemeinschaften. Das grösste Geschenk ist die Verschonung vor Eingriffen: Laissez faire. Der König hat seine Retterin dann zwar später fallen gelassen und konnte sie nicht vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen retten – den ihr übrigens Schiller in seinem Schauspiel erspart hat, indem er sie auf dem Schlachtfeld gleichzeitig sterben und gleich unsterblich werden liess. Die Steuerbefreiung von Domrémy galt aber immerhin bis zur Französischen Revolution. Jeanne d’Arc ist im 20.Jahrhundert aus nationalistischen und religiösen Gründen heiliggesprochen worden. Wenn es so etwas wie liberale Heilige oder eine Schutzpatronin des historischen Unternehmertums gäbe, gehörte sie allein schon wegen ihres bemerkenswerten Wunsches dazu.