Schriftliche Fassung des Vortrags an der Hauptversammlung des «Neuen Rütlibundes», gehalten am 2. Juni 2018 im Flüeli-Ranft
Die Schweiz hat eine wunderbare Gründungsgeschichte, an die der «Neue Rütlibund» mit guten Gründen anknüpft. Es spielt keine Rolle, ob sich die Geschichte genau so abgespielt hat oder ob sie als Gemeingut der Erinnerung und Überlieferung für unser Land prägend geworden ist. Die Schweiz beruht auf dem erfolgreichen Widerstand gegenüber Fremdbestimmung von aussen (symbolisiert durch Tell) und auf dem Willen, einvernehmlich, gemeinsam beweglich die gemeinsamen Probleme zu lösen (symbolisiert durch den Bund auf dem Rütli). Neinsagen und Widerstand leisten allein genügt aber nicht, um gleichzeitig Freiheit und Menschenrechte zu schützen. Es braucht auch die dauerhafte Bereitschaft zur gemeinsamen und friedlichen Lösung von gemeinsamen Konflikten.
Das Schauspiel «Wilhelm Tell» ist nicht einfach eine dichterische Gestaltung des Ursprungs der Schweiz. Schiller selbst war nie in der Schweiz, aber er kannte sie durch die Schilderungen seines Dichterfreundes Goethe und durch ein genaues Studium der wichtigsten damals verfügbaren Quellen. Den Bundesbrief von 1291 kannte er nicht. Schiller war zunächst ein Anhänger der Französischen Revolution, und in seinen «Räubern» sympathisiert er mit der Rebellion gegen etablierte Mächte. Als die Französische Revolution in die Hände von atheistischen Fanatikern geriet, die den Gottesdienst durch einen «Kult der Vernunft ersetzten» und ihre Gegner erbarmungslos köpften, wendete sich Schiller von ihr ab. Sein Schauspiel «Wilhelm Tell» ist der Versuch, die Ideen «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» mit einem Minimum an Gewalt und auf der Basis des Einvernehmens zum Durchbruch zu verhelfen. Ganz wichtig ist die Schlussszene, in der die Adelige Bertha sich zu den Eidgenossen bekennt und ihre Leibeigenen freiwillig aus der Knechtschaft entlässt.
Friedrich Schiller weist in seinem »Wilhelm Tell” auf den engen Zusammenhang zwischen Widerstand und Gemeinschaft hin. Tell erschiesst den Tyrannen Gessler und wird zum Inbegriff des gerechtfertigten Tyrannenmörders. Das Stück ist gewissermassen eine positive Alternative zur blutigen Revolution, die aus dem Ruder läuft, ihre eigenen Kinder frisst und schliesslich in eine neue Tyrannei der Revolutionssieger und ihrer neofeudalistischen Nachfolger mündet. Schiller zeigt eine Revolution gegen fremde und anmassende Machthaber, die in eine Aussöhnung mündet und einen friedlichen Neubeginn ermöglicht. Die «Drei Eidgenossen» Walter Fürst, Werner Stauffacher und Arnold vom Melchthal symbolisieren nicht nur die drei Generationen (Grossvater, Vater und Sohn) sondern auch die drei Grundhaltungen gegenüber dem Staat: Konservativ, bürgerlich und dissident.
Schillers «Tell» ist übrigens kein «Männerstück». Die entscheidenden Weichenstellungen erfolgen durch Frauen. Der zögernde Stauffacher wird durch seine Frau ermahnt, er müsse sich aufraffen, vorwärts schauen und mit andern gegen Fremdherrschaft zusammenwirken.
Man hat oft die Geburtsstunde der Freiheit mit dem Tyrannenmord und dem Widerstandsrecht gleichgesetzt. Die Bedeutung der Dissidenz und des Nein-Sagens gegenüber politischer Macht ist wichtig. Dies ist aber nur die Hälfte der politischen Befreiung. Wer sich vom Tyrannen befreit hat, steht in der Folge vor dem Problem, gemeinsame Probleme gemeinsam beweglich zu lösen. Rechte – auch Menschenrechte – müssen nicht nur durch die Bedrohung durch Tyrannen geschützt werden, sondern als Aufgabe der Gemeinschaft, auch gegen die Bedrohung durch Mehrheitsentscheide, da sich ja stets auch eine »Tyrannei der Mehrheit” etablieren lässt. Es muss jenes Minimum an politischen Zwangsstrukturen geschaffen werden, das Ordnung gewährleistet, die gemeinsame Verteidigung dieser Ordnung sicherstellt, gleichzeitig aber auch die Freiheitsrechte der Individuen und die Autonomie von Minderheiten schützt.
Es muss auch eine Grenze für die Regierungsstrukturen dieser inneren Ordnung fixiert werden. All das haben – und dies ist nicht nur mythisch sondern auch historisch – die auf der Waldwiese »Rütli” versammelten Eidgenossen beschlossen, beschworen und verbrieft. Daraus folgt eine mögliche Definition von Freiheit, die nur drei Worte beansprucht, die aber ohne Kenntnis der Gründungssage und Gründungsgeschichte der Schweiz nicht verständlich ist. Freiheit gleich »Tell plus Rütli”, d.h. Widerstand gegen fremdbestimmende Autoritäten und Mächte in Verbindung mit der Bereitschaft zur Einordnung in eine freie Gemeinschaft.
Tell symbolisiert das Konzept der negativen Freiheit, die Eidgenossen auf dem Rütli symbolisieren die Notwendigkeit, sich ein gemeinsames positives Programm zu geben, je knapper desto besser, der Bundesbrief von 1291 hatte auf einem einzigen Pergamentblatt Platz. Leider ist der Vertrag von Maastricht viel umfangreicher. Es ist unbestreitbar, dass die Formulierung eines positiven Konzepts, das die Menschen zur Freiheit führt, und zur Freiheit befähigt, eine wichtige Sache ist. Nur ist es sehr schwierig, darüber einen dauerhaften Konsens zu finden. Wer weiss denn wirklich und mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und -verbindlichkeit, was den mündigen Menschen ausmacht?
In der Menschheitsgeschichte haben in konservativen Phasen die starken Väter die schwachen Söhne geopfert, entweder buchstäblich oder durch rigorosen Anpassungsdruck. In revolutionären Phasen haben die erstarkenden Söhne die schwächelnden Väter umgebracht, ebenfalls buchstäblich oder im übertragenen Sinn.
«Im Frieden begraben die Söhne die Väter, und im Krieg die Väter die Söhne» (Herodot). Kulturelle Fortschritte werden möglich, wenn sich Väter und Söhne versöhnen, zu Partnern und zu Freunden wurden und einen friedlichen Erfahrungsaustausch pflegen. Das ist die Alternative zur These, dass entweder die Väter oder die Söhne zum Opfer werden müssen.
Der Mythos des Vatermordes einerseits und des Sohnesopfers (bzw. das Auffressen der Kinder) anderseits gehört zum Menschheitserbe der Mythologie. Der griechische Gott Kronos verschlang seine Kinder, um das Risiko des Gestürzt-werdens zu vermeiden. Zeus, der einzige Sohn, der durch seine Mutter heimlich gerettet werden konnte, hat ihn dann auch tatsächlich gestürzt. Der im letzten Moment vermiedenen Sohnesopferung im Alten Testament (Abraham und Isaak) steht die tatsächlich vollzogene Sohnesopferung im Neuen Testament gegenüber.
Der am Kreuz vollzogene Opfertod des Gottessohnes im Neuen Testament ist allerdings nicht das «Ende der Geschichte». Die Opferung erfolgt im Einverständnis mit dem Opfer. Die Basis des Christenglaubens ist die Auferstehung und die anschliessende Erhebung des Sohnes zum Weltenrichter, der «zur Rechten des Vaters sitzt» und nach der Trinitätslehre sogar «eins ist mit ihm». Es gibt also für gläubige Christen im Grundkonflikt zwischen Vater und Sohn letztlich eine glückliche Vereinigung. Dies ist m.E. ein Wendepunkt der Menschheitsgeschichte, weil es mindestens in der christlichen Tradition die Dialektik der abwechslungsweisen Vater- und Sohnesopferung unterbrochen hat. Es gibt seither die exemplarische Synthese der Versöhnung.
In der «Bürgschaft» von Schiller, kommt es nicht zum angedrohten stellvertretenden Opfertod des Bürgen. Der Vater-Tyrann schliesst, beeindruckt durch die Freundes- und Vertragstreue, seinen Frieden mit dem potentiellen Tyrannentöter. Der Täter hätte seinen Tyrannenmord-Versuch (in deutlicher Anspielung an das Neue Testament), «am Kreuze bereuen» sollen! Der Vater-Tyrann verzichtet auf die Kreuzigung und schliesst mit seinem potentiellen Mörder Frieden. Er stellt das Prinzip Freundestreue (pacta sunt servanda) über das Prinzip der Rache und will «im (neuen) Bunde der Dritte» sein – eine deutliche Anspielung an die Trinitätslehre. Frieden entsteht durch Racheverzicht, Versöhnung und Freundschaft. Das ist die skizzierte Problemlösung des klassischen Idealisten Schiller in seiner «Bürgschaft».
Eine andere Sohnesopfer- und Versöhnungsgeschichte gibt die ebenfalls von Schiller verwertete Sage von Tells Apfelschuss wieder. Der Vater riskiert das vom Tyrannen befohlene potentielle Sohnesopfer. Der Sohn vertraut auf das Können des Vaters und zeigt sich kooperativ, also vertrauend und gehorchend. «Dein Wille geschehe». Das Opfer findet nicht statt, weil der Vater den Test besteht. Der Sohn zweifelt keinen Moment am Können und an der Treffsicherheit des Vaters. Er verhält sich darum adaptiv und nicht dissident. Der Vater hätte seinerseits, wenn es zum «Sohnesopfer» gekommen wäre, nicht gezögert, sofort zum Tyrannentöter zu werden. Tatsächlich kommt es ja später in der «Hohlen Gasse» doch noch zum Tyrannenmord. Darum ist das Schauspiel mindestens teilweise revolutionär. Zwischen Vater Tell und Sohn Walter gibt es allerdings keine Konflikte. Der Sohn lässt sich von seinem Vater in einem längeren Dialog («Vater, ist’s wahr…?») staatsbürgerlich belehren. Mehr Anlehnung als Auflehnung. Die intergenerationelle Aussöhnung von Vater Tell und Sohn Walter wird in der Folge allerdings dadurch getrübt, dass die Mutter Hedwig dem Vater Tell die riskierte Opferung des Sohnes letztlich nicht verzeihen kann. Dies ist ein wichtiges Detail. Die Frauen (Gertrud, Berta und Hedwig) spielen im Wilhelm Tell die entscheidende Rolle der «kreativen Dissidenz».
(Vgl. dazu meinen Aufsatz «Die Familie, Konflikt und Versöhnung» in «Mut», Juli/ August 2012, S. 79 ff., hier z.T. wörtlich zitiert).
Doch nun direkt zum heutigen Thema: Christliche Soziallehre.
Ich beginne mit einer These: Die drei Grundbegriffe der katholischen Soziallehre «Personalität, Subsidiarität und Solidarität» sind nichts anderes als ein Rettungsversuch, die durch die Französischen Revolution diskreditierte Dreierformel «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» neu zu interpretieren, möglichst ohne alle sprachlichen Anklänge an die – aus katholischer Sicht – politisch durch die Jakobiner schwer belastete Dreierformel.
Die drei aus dem Latein entlehnten «Ersatzbegriffe» sind zwar schwer verständlich. Sie sind aber auch tiefsinnig und vieldeutig, was nicht unbedingt ein Nachteil ist, weil dadurch auch Interpretationsspielräume offen bleiben.
Der Slogan «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» soll übrigens von einem katholischen Priester in Anlehnung an die christliche Dreifaltigkeit geprägt worden sein. Gottvater, der den Menschen in ihrer Gottähnlichkeit Freiheit geschenkt und zugemutet hat, steht für «Freiheit», Christus der alle Menschen in gleicher Weise (aber doch jeden individuell) zur Nachfolge aufruft steht für Gleichheit und den Heiligen Geist, der Frieden und Versöhnung zwischen den in der Familienrealität oft zerstritten Söhnen und Schwestern ermöglicht, steht für Brüderlichkeit. Dass unter diesem Motto, auch wegen Missverständnissen und Fehlinterpretation sehr viel Blut geflossen ist, kann nicht den Initianten des Dreierprogramms angelastet werden.
Die katholische Soziallehre ist kein geschlossenes System und soll interpretierbar und an neue Herausforderungen adaptierbar bleiben. Ich habe nichts dagegen, wenn man das Adjektiv «katholisch» durch «christlich» ersetzt, wenn dadurch nicht suggeriert wird, dass es ausserhalb der römisch-katholischen Kirche kein echtes Christentum gebe. Aber diese These ist m.E. heute glaubwürdig überwunden.
Im Folgenden werden die drei Prinzipien mit liberalen und allgemein-politischen Grundprinzipien verglichen.
Personalität
Das Personalitätsprinzp ist naturrechtlich fundiert, und das Naturrecht ist eine wichtige gemeinsame Wurzel von Liberalismus und Katholizismus, obwohl die «Natur des Menschen» in der Sozialphilosophie sehr unterschiedlich definiert wird und es auch Liberale gibt, die deshalb gegenüber jeder Naturrechtslehre skeptisch bleiben.
Das Personalitätsprinzip steht auch nicht im Widerspruch zum freiheitlichen Kerngehalt unseres Privatrechts. Dort steht das Personenrecht an erster Stelle und bildet den «Aufhänger» der ganzen Privatrechtssystematik.
Es gibt keine grundlegenden Spannungen zwischen dem Personalitätsprinzip in der katholischen Soziallehre und liberalen Grundwerten. Im Gegenteil: Das Personalitätsprinzip deckt sich weitgehend mit der liberalen Konzeption des verantwortlichen Individuums und seiner privatautonom ausgestalteten Einbindung in die Gemeinschaft. Man kann Freiheit als Geschenk Gottes deuten, das uns – im besten Sinn – zugemutet wird und das wir uns aus diesem Grund auch gegenseitig zugestehen und zumuten sollten. Freiheit kann aber auch einfach als menschheitsgeschichtlicher Grundwert gedeutet werden. Auch Nichtchristen und Agnostiker können die Freiheit an die erste Stelle ihrer Wertskala setzen. Dann wird Freiheit einfach zu einer der Voraussetzungen eines friedlichen und produktiven Zusammenlebens, sofern man Freiheit nicht nur für sich beansprucht, sondern auch andern zugesteht und mit Toleranz verknüpft. Kurz: Man kann an die Freiheit glauben, ohne an Gott zu glauben, aber man kann aus christlicher Sicht nicht an Gott glauben, ohne dass dieser Glaube auf einem freien Entscheid beruht – , auf einem Bekenntnis, das sich auf das Evangelium stützt. Personalität bedeutet die Verknüpfung von Freiheit und Verantwortung und die Pflicht, für die Folgen des eigenen Verhaltens einzustehen.
Subsidiarität
Etwas anspruchsvoller ist das Verständnis des Subsidiaritätsprinzips:
Das Subsidiaritätsprinzip ist seit seiner Verankerung im Amsterdamer Vertrag der EU in Europa ein Modethema. Alle reden davon, und niemand weiss genau, was darunter zu verstehen ist. In der Schweiz gehört es zu den Grundprinzipien unserer Staatsorganisation, allerdings mit einer betont zentrumsskeptischen Spielart, die mir persönlich sympathisch ist, und für die ich auch hier einige Argumente vorbringen möchte. Ich will daher kurz erläutern, worum es geht, da ich überzeugt bin, dass das Prinzip auch Ihnen durchaus bekannt ist, möglicherweise aber nicht unter diesem «Label». Das Subsidiaritätsprinzip basiert auf einer grundsätzlichen Trennung von Individuum, Staat und Gesellschaft. In der katholischen Soziallehre findet sich die klassische Formulierung, «dass der Mensch als Individuum jede an ihn herantretende Aufgabe selbst erfülle, soweit er dazu fähig ist. Die Gemeinschaft muss subsidiär eingreifen.» Dasselbe gilt im hierarchischen Aufbau des Staates. Die unterstmögliche, kleinstmögliche Stufe soll prinzipiell zuständig sein, und das Übertragen einer Aufgabe an einen grösseren Verband braucht eine Begründung. Man muss nachweisen, dass die untere Stufe nicht fähig ist, das Problem befriedigend zu lösen.
Mit all diesen Formulierungen ist wohl eine Tendenz zugunsten individueller Lösungen im möglichst kleinen Kreis angelegt. Aber sämtliche Formulierungen «im Zweifel», «möglich-nötig» «soweit fähig», sind im höchsten Grad interpretationsbedürftig. Die Gefahr, dass das Prinzip durch Interpretation der Bedingungen, unter denen dann doch der übergeordnete Verband «geeigneter» ist, zentralisierend angewendet wird, höhlt das Prinzip aus.
Zahlreiche Verfassungen garantieren eine möglichst «einheitliche Verteilung» des Wohlstands und subventionieren Rand- und Problemgebiete. Die Förderung und die Umverteilung durch Regionalfonds, Strukturfonds und Subventionen gehört zu den wichtigsten und beliebtesten Funktionen des Zentralstaates. Politik degeneriert dann zu einem Gerangel um möglichst viele Subventionen. Deshalb bin ich gegenüber allen Arten von Umverteilung, aber speziell gegen interregionale Umverteilung persönlich skeptisch. Es lässt sich nachweisen, dass ein Teil der Steuergelder, die in die Peripherie als Unterstützungsmittel fliessen, schliesslich wieder in die Zentrale zurückkehren und im Effekt nur die Abhängigkeit der Peripherie von der Zentrale verstärken und den Wettbewerb verfälschen. Doch dies ist ein eigenes Thema, das ich hier nur antönen wollte.
In der Politik kommt es immer wieder zu Situationen, in denen Massnahmen das Gegenteil von dem bewirken, was sie beabsichtigen und was von den Propagandisten behauptet wird. Das Subsidiaritätsprinzip wird dadurch sehr häufig bei der Anwendung in sein Gegenteil verkehrt, weil immer wieder neue Argumente für die «bessere» Zuordnung» an zentralere und höhere Instanzen gefunden werden.
Problematisch wird es, wenn man in Anwendung des Subsidiaritätsprinzips die Fähigkeit zur Problemlösung auch an der Finanzierbarkeit misst. Ein zentralisiertes Steuersystem, bei dem zunächst alle Steuergelder in die Zentrale geleitet werden, wird notwendigerweise eine «Unfähigkeit» zur Erfüllung von Infrastrukturaufgaben untergeordneter Instanzen hervorbringen und praktisch eine Einbahnstrasse zur Zentralisierung signalisieren. Es ist natürlich paradox, wenn man das zentralisierte Steuersystem aufrecht erhält und nur die Aufgaben dezentralisiert, ohne den Gemeinden und Gliedstaaten die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Diese perfide Form der Dezentralisierung hat vielerorts zur Diskreditierung des Subsidiaritätsprinzips und des Föderalismus und der Gemeindeautonomie beigetragen.
Es gibt aus verschiedensten Gründen (die sorgfältig zu analysieren wären) einen politiökonomischen und sozio-kulturellen Druck zu mehr Zentralität. Das Subsidiaritätsprinzip muss daher als Gegentrend in dem Sinn präzisiert und radikalisiert werden, dass es für die Rückgabe von Kompetenz, Verantwortung und Finanzierung an die möglichst kleine bzw. problemnahe autonome bzw. privatautonome Trägerschaft optiert, sobald ein Problem auf der höheren zentraleren Stufe nicht mehr adäquat gelöst bzw. nachhaltig finanziert werden kann. Ich weiss, dass dies ein sehr utopisches Programm ist, denn welche Zentralgewalt ist zu einem «geordneten Rückzug» bereit?
Die hier propagierte Lösung öffentlicher Aufgaben auf kommunaler und regionaler Ebene ist allerdings nicht in allen Fällen und auch nicht für alle öffentlichen Aufgaben optimal. Die Gemeinden und Regionen können ihre Autonomie auch durch eine demokratisch und populistisch gestützte Reglementiererei missbrauchen. Auch auf Gemeindeebene muss der Grundsatz der politischen Machtbegrenzung gelten, und es darf keine grenzenlose Demokratie zu Lasten irgendwelcher Minderheiten praktiziert werden.
Ein grosser Teil der Probleme, die man in den letzten dreissig Jahren durch Regionalisierung, Zweckverbände, Finanzausgleich und Zentralisierung glaubte organisieren und reglementieren zu müssen, sind in Zukunft durch Privatisierung (nach dem Konzept: Benützer zahlt, Staat leistet allenfalls Subjekthilfe) zu lösen. Auch die persönliche Direkthilfe «von Mensch zu Mensch» sollte nicht vollständig durch staatliche Sozialwerke ersetzt werden. (Mehr dazu in: Robert Nef, Lob des Non-Zentralismus, 2. Auflage, St. Augustin 2008)
Solidarität
Das Prinzip der Solidarität wirft zahlreiche politische und praktische Probleme auf. Es kann nicht einfach mit «Brüderlichkeit» oder «Schwesterlichkeit» gleichgesetzt werden, denn Brüder verhallten sich (wie auch Schwestern) sehr oft überhaupt nicht solidarisch.
In der Französischen Revolution wurden Verstösse gegen die Brüderlichkeit mit dem Tode bestraft. Bekannt ist der durchaus unchristliche, aber in der Menschheitsgeschichte (auch unter Christen) häufig praktizierte Wahlspruch: «Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein».
Solidarität ist ein gutes, erstrebenswertes Ziel, aber sie muss grundsätzlich aus freiem Antrieb gewählt und praktiziert werden. Zwangssolidarität ist keine echte Solidarität. Wenn Solidarität erzwungen wird, entfernt sie sich vom christlichen Menschenbild.
Die häufigste Form der Solidarität ist die Gruppensolidarität, die auf einem Gefühl gemeinsamer Zugehörigkeit und auf dem Bewusstsein des Aufeinander-angewiesen-Seins beruht.
Es ist heute in einer technisch zivilisierten und global offenen Welt wichtig, dass sich die Solidarität aus dem Geist der Personalität und der Subsidiarität ausdehnt und weiterentwickelt.
Wie kann der «Geist der Solidarität» auf grössere Gruppen, ja, auf die ganze Menschheit ausgedehnt werden? Ein Weg dazu wäre die Suche nach gemeinsamen Vorstellungen über das, was für alle und für immer gerecht ist. Dies ist aber nicht nur anspruchsvoll, sondern wahrscheinlich unmöglich.
Aus christlicher Sicht ist die Gerechtigkeit «in Gottes Hand» und kein Mensch und keine Gruppe kann sich anmassen, ein politisches Programm zu entwerfen, das «Gerechtigkeit für alle und für immer» garantiert. Wichtig ist, dass auch Menschen mit unterschiedlicher Auffassung über Gerechtigkeit friedlich miteinander zusammenleben, lernen, leisten, tauschen und kommunizieren.
Im Psalm 85 wird das Verhältnis von Friede und Gerechtigkeit als «gleichberechtigt» geschildert: «Friede und Gerechtigkeit küssen sich».
Friede ist der höhere und konsensfähigere Wert als Gerechtigkeit, denn die Frage, was für alle und immer gerecht sei, löst immer wieder Streit aus. Friede dagegen ist bei gutem Willen auch unter Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen über Gerechtigkeit möglich. Es gibt unter vielfältigen Menschen unendlich viele Unterschiede und damit auch Ungleichheiten. Ist es wirklich Aufgabe der Politik, hier alle und alles «gleich» zu machen?
Viele Kriege und gewaltsame Auseinandersetzungen sind für mehr bzw. für eine andere Gerechtigkeit geführt worden. Beide Seiten der Kämpfenden hofften, dass Friede neu entstehen könne, wenn man über die gemeinsame Gewährleistung der Gerechtigkeit einig sei, d.h. wenn sich die Gerechtigkeitsvorstellung der eigenen Partei durchgesetzt hätten. Das Motto dieser politischen und religiösen Kriegführung war stets: Wir schliessen mit euch erst Frieden, wenn ihr unsere Vorstellung von Gerechtigkeit akzeptiert.
Zum wahren Frieden führt aber nur eine Umkehr der Prioritäten: Zuerst Friede und dann ein offener Dialog über das was man individuell und gemeinsam für gerecht hält. Auch politische Auseinandersetzungen könnten sich friedlicher abspielen, wenn auf eine aggressive Durchsetzung eigener zentral definierter Gerechtigkeitsvorstellungen verzichtet würde, bzw. die Friedensstiftung einer Schiedsinstanz anvertraut würde. Dies bedingt innerstaatlich Meinungspluralismus, begrenzte Regierungsmacht und eine glaubwürdige Verteidigungsfähigkeit und aussenpolitisch vermittelnde und friedensstiftende Schiedsinstanzen mit Sanktionsmöglichkeiten.
Die judeo-christliche Maxime «Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst» liegt zwar «Jenseits von Angebot und Nachfrage» im engeren wirtschaftlichen Sinn, aber sie bringt auch eine Erfahrung zum Ausdruck, die in einem fundamentaleren, ethisch-moralischen Haushalt mit dem Prinzip der Gegenseitigkeit verknüpft bleibt. Die Maxime setzt zwar nicht voraus, aber sie schliesst ein, dass man ja möglicherweise auch selbst einmal jemanden braucht, der einen als Nächster liebt und deshalb nicht im Stich lässt.
Nächstenliebe rechnet nicht damit, aber sie hofft darauf, dass andere dieses Angebot aus eigenem Antrieb ebenfalls machen. Diese Hoffnung erfüllt sich zwar nicht immer, aber sie ist doch insgesamt unter friedlich zusammenlebenden, gutwilligen Menschen nicht aus der Luft gegriffen.
Entscheidend ist auch hier nicht ein dauerhafter Konsens darüber, was gerecht sei, sondern ein diesbezüglich friedlicher, gewalt- und herrschaftsfreier Diskurs. Friede ist der höhere und konsensfähigere Wert als Gerechtigkeit, denn die Frage, was für alle und immer gerecht sei, löst immer wieder Streit aus, während Friede bei gutem Willen auch unter Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen über Gerechtigkeit möglich ist.
Aus religiöser Sicht manifestiert sich das Problem der Gerechtigkeit wie folgt: Nur Gott weiss, was letztlich gerecht ist, und wer sich anmasst, das für alle und für immer zu wissen, «spielt Gott». Aber was bedeutet dies in einer weitgehend säkularisierten Welt? Weiss die Wissenschaft, was gerecht ist, wissen es Mehrheiten besser als Minderheiten, weiss es eine Elite? Religiöse Menschen gehen davon aus, dass nur Gott dies wisse, und Agnostiker begnügen sich damit, dass niemand dies wisse.
Diese Demut der einen und diese intellektuelle Zurückhaltung der andern bedeutet für Freiheitsfreunde sehr viel. Sie brauchen untereinander, wenn es um eine gerechtere Welt geht, nicht zu streiten, ob Gott existiere oder nicht, und sie können einander diesbezüglich in Ruhe und in Freiheit lassen. Zum Glauben kann niemand gezwungen werden. Es gibt einen Glauben an die Freiheit ohne einen Glauben an Gott, aber es gibt keinen christlichen Glauben an Gott, ohne einen Glauben an die Freiheit. Die Engel der Weihnachtsgeschichte haben den Hirten keine neue Epoche mit mehr Gerechtigkeit angekündigt, sondern Frieden für alle Menschen, die guten Willens sind. (Dieser Abschnitt des Vortrags folgt zum Teil wörtlich einem am 15. Januar 2018 in der NZZ publizierten Artikel zum Thema «Gerechtigkeit, Freiheit und Friede»).
Gemeinwohl und Nachhaltigkeit
Abschliessend noch ein Wort zu den zwei weiteren Prinzipien der katholischen Soziallehre: zum Gemeinwohlprinzip und zum Nachhaltigkeitsprinzip. Das Gemeinwohlprinzip ist die gemeinsame Basis von persönlicher und kirchlicher Caritas und staatlicher Sozialpolitik. Beide Bestrebungen sollten sich sinnvoll und wirksam ergänzen. Das Grundproblem ist die Tatsache, dass staatliche Sozialpolitik auf dem fragwürdigen Prinzip der Zwangssolidarität beruht. Man wird gezwungen, an einem Umverteilungssystem teilzunehmen, das allerdings von Mehrheiten beschlossen worden ist. Wenn dieser Zwang nun einfach jene bedauerlichen Lücken füllen würde, die in einer immer anonymeren, rationaleren und liebloseren Gemeinschaft unübersehbar sind, könnte man dies noch durch das Subsidiaritätsprinzip rechtfertigen. Nun gibt es aber leider den fatalen Zusammenhang, dass eine immer weiter ausgebaute Zwangssolidarität die echte Solidarität von Mensch zu Mensch zunächst ersetzt und dann verkümmern lässt. Damit wird jene Entwicklung gefördert, die zu noch mehr Anonymität und noch mehr sozialer Kälte führt. Ein Teufelskreis, in dem Mitmenschlichkeit durch Zwang ersetzt wird, Personalität durch Anonymität.
Das Nachhaltigkeitsprinzip ist aus meiner Sicht nichts anderes als die Praxis des Solidaritätsprinzips im Hinblick auf künftige Generationen. Auch hier stecken wir in einer schwierigen Situation. Weltweit gehört es zu den allgemeinmenschlichen Anliegen, die praktisch in keiner Religion fehlen, dass folgendes gemeinsames Ziel in jeder Elterngeneration Priorität hat: Es soll der nächsten Generation mindestens gleich gut und wenn möglich besser gehen als uns selbst. Das ist die praktische Anwendung des Nachhaltigkeitsprinzips im weitesten Sinn. Noch nie ist so viel von Nachhaltigkeit gesprochen worden und noch nie haben sich Eltern- und Grosselterngenerationen derart schamlos gegenüber künftigen Generationen verschuldet, zunächst finanziell, aber auch ökologisch – und beides hängt miteinander zusammen.
Es ist an der Zeit, dass die allgemeinmenschlich verankerte Familienmoral nach dem Prinzip «Niemand soll dauerhaft auf Kosten anderer leben», wieder auf grössere Gemeinschaften angewendet wird. Sie muss mit dem ökonomisch-ökologischen Prinzip verknüpft werden: Was knapp ist muss teuer sein, und dies führt zu einer «haushälterischen Nutzung».
Die katholische Soziallehre, die man nach dem in diesem Vortrag zum Ausdruck gebrachten Verständnis auch einfach «christliche Soziallehre» nennen kann, stellt hier m.E. die richtigen Wegweiser auf.
Personalität stellt die Gotteskindschaft im Sinn der Einzigartigkeit des Individuums und des freien Entscheids für den Glauben ins Zentrum, Subsidiarität den Vorrang kleiner und kleinster Gemeinschaften vor dem Staat, und Solidarität die freie Wahl der Zugehörigkeit und der Bestimmung des Beitrags, den man dort für andere leisten will: Vater, Sohn und Heiliger Geist – ein frei gewähltes Bekenntnis. So gesehen ist die katholische Soziallehre mit freiheitlichen Grundwerten nicht nur vereinbar, sondern deckungsgleich.
Kritik erwünscht: robertnef@bluewin.ch
Die neuesten Buch-Publikationen sind: «Politische Grundbegriffe, eine Auslegeordnung»; «EigenStändig», Sonderfall Schweiz, 2002, «Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Wohlfahrt und den Staat», Zürich 2005. Die Friedrich August von Hayek Gesellschaft würdigte seinen konsequenten Einsatz für liberale Werte 2008 mit der Verleihung der Hayek-Medaille und 2016 empfing er in Hamburg die Roland-Baader Auszeichnung.
Ehrenamtlich präsidierte Robert Nef von 1986 bis 2006 den Stiftungsrat des Ostschweizerischen Kinderspitals St. Gallen und von 2004 bis 2016 die in Zürich domizilierte Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur (STAB). Robert Nef wohnt in St. Gallen, ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen und Grossvater von fünf Enkelkindern.