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Familie und Staat

Lesedauer: 8 Minuten


(Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur)

STAB-Rundbrief Nr. 181

Zürich, im März 2015

An den Freundeskreis der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur

Von Robert Nef

Die Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung hat in November 2014 zum sechsten Mal seit 2009 eine breite Internetumfrage zu Zukunftshoffnungen durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die Hoffnung auf Harmonie im eigenen Privatleben zulegte und mittlerweile nach der Hoffnung auf eine glückliche Ehe und die eigene Gesundheit die drittwichtigste Hoffnung ist – deutlich vor Anliegen aus der Arbeitswelt, der Sozialpolitik oder der Religion. Dieser Befund wird von der Projektleitung wie folgt kommentiert:

Einerseits ist es erfreulich, dass die Werte des familiären Umfeldes wieder an Bedeutung gewinnen – trotzdem muss nachgefragt werden, ob es sich hier nicht auch um eine Flucht auf die «Insel Privatheit» angesichts der zunehmenden Komplexität in Politik und Wirtschaft handelt. Erleben wir ein «Déjà-vu» nach 200 Jahren? Im 19. Jahrhundert folgte auf die weltoffene, leidenschaftliche und grenzüberwindende Epoche der Romantik der Rückzug in eine konservative, ja geradezu spiessbürgerliche Sehnsucht nach einer beschaulichen Idylle von Haus, Hof und Heim im Zeitalter des Biedermeiers. Wird nun nach der multikulturellen Globalisierung der Postmoderne zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein ähnlicher Rückzug stattfinden?

Ist die Wiederentdeckung der Familie tatsächlich ein Rückzug in eine «gute alte Zeit» (die es nie gegeben hat), oder ist sie ein Aufbruch in eine auf Markt und Kommunikation basierende Zivilgesellschaft, die nicht mehr wie bisher immer wieder von nationalstaatlich ausgelösten und weltweit eskalierenden Kriegen und von staats- und planwirtschaftlich bedingten Krisen heimgesucht wird? Die Familie ist ein generationenübergreifendes sozio-biologisches Unternehmen, das eine langfristige Perspektive hat, und das menschheitsgeschichtlich in ihren vielfältigen Erscheinungsformen viel älter ist als z.B. die Nationalstaaten. Das Alter einer Institution ist natürlich keine Garantie für deren künftige ökonomische und moralische Funktionsfähigkeit, aber es zeugt mindestens von einer Resistenz gegenüber allen Angriffen und Versuchen der gezielten Abschaffung oder Ersetzung.

Was sich jahrtausendelang hält, sollte man nicht geringschätzen, selbst wenn nicht bestritten werden kann, dass die Familie auch ihre Schattenseiten hat und nicht alle Probleme lösen kann, die sich in einer arbeitsteiligen und technisch zivilisierten Welt stellen. Sie war und ist stets mit Familienzwisten zwischen den Generationen und unter den Geschwistern, aber auch zwischen verschiedenen Familien, verknüpft. Gerade deswegen ermöglicht sie jene Lernprozesse, die zur Kultur eines insgesamt friedfertigen Zusammenlebens führen.

Persönliche Freiheit, Privateigentum, Vertrag, Haftpflicht und Familie sind die Grundlage einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Möglicherweise hilft dabei auch noch eine sympathiefördernde primär durch und in Familien vermittelte Religion. Die Ehrung der Eltern und die Verehrung der Ahnen waren in allen familiengestützten Gesellschaften von zentraler Bedeutung.

Familie zwischen Religion und Staat

Die Familie als vielfältige, non-zentrale Basis der sozio-kulturellen Tradition ist von religiösen und politischen sowie Neuerungsbewegungen immer wieder radikal kritisiert worden, aber letztlich wollte man sie doch lieber auf der eigenen Seite haben als ihre Aufhebung zu erzwingen. Darum haben sich familienkritische, religiöse und politische Bewegungen kaum je dauerhaft von der Kernfamilie distanziert. Sowohl die Urchristen als auch die Kommunisten haben die Familien zunächst zwar höchstens toleriert, dann aber schliesslich doch als systemerhaltende Institution akzeptiert, gefördert, gezähmt und von sich abhängig gemacht. Eine Abschaffung war stets zu riskant oder schlicht nicht zeitgerecht und radikal genug realisierbar. Gesellschaften, welche die Familie abzuschaffen versuchten, konnten sich auf die Dauer nirgends durchsetzen. Das familienfeindliche, etatistische Sparta hat zwar im Peloponnesischen Krieg Athen militärisch besiegt, ist aber dann recht bald sang- und klanglos untergegangen.

Die Kirche hat sich schon früh (pädagogisch, ökonomisch und sozial) mindestens zum Teil als Korrektiv und zum Teil auch als Alternative zur Familie etabliert. Sie liess sich durch Familien finanzieren, im Mittelalter im grossen Stil durch die kirchliche Kollektivierung von ererbtem Eigentum, hauptsächlich Grundeigentum. Man konnte sich im Mittelalter ein «besseres Los» im Jenseits erwerben, wenn man sein diesseitiges Grundstück der Kirche vermachte. Und dabei liessen sich erst noch Erbstreitigkeiten vermeiden.

Wie der englische Publizist und Soziologe Ferdinand Mount nachgewiesen hat, war das Verhältnis zwischen Familie und Sippe einerseits (die ursprünglich ihren Zusammenhalt auf den Ahnenkult und auf eigene Familiengötter abstützten) und der Christengemeinde mit ihrem gemeinsam verehrten allmächtigen Gott anderseits, durchaus nicht spannungsfrei.1

Vielfalt als Ursprung der Robustheit

Jede Familie macht Fehler, aber nicht alle Familien machen immer wieder dieselben Fehler. Das ist der Hauptgrund für die Robustheit der Institution. Familien kommen und gehen, aber es gibt sie (als wandlungsfähige Institution) immer noch. Die Familie konkurriert erfolgreich mit andern politischen und religiösen Formen und Experimenten des Zusammenlebens, Zusammen-Sparens, des Erziehens, des Erbens und Vererbens und des Zusammen-Vorsorgens. Das Beharrungsvermögen und die Anpassungsfähigkeit einer sozialen Institution ist zwar kein Beweis für die moralische «Richtigkeit» und auch keine Garantie für den künftigen Erfolg, aber es zeugt doch von der Immunität und Abwehrkraft gegen alle Strömungen des gesellschaftlichen und technologischen Wandels und gegen Eingriffe und Angriffe verschiedenster Art.

Familien sind nach den Individuen die kleinstmöglichen Experimente des arbeitsteiligen und zeitweisen Zusammenlebens von ungleichen Menschen unterschiedlicher Begabungen und Charaktere, unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Ob die Familie das Urbild der «Oiko- Nomia» ist, oder ob sie z.T. meta-ökonomisch, biologistisch oder religiös metaphysisch begründet wird, ist eine offene Frage. Kleinexperimente mit allen Formen des Familienersatzes (Kibbuzim, Kommunen) sind gescheitert, das Grossexperiment Sozialstaat läuft noch, es bleibt auf Familien angewiesen und ist nach bisherigen Erfahrungen nicht erfolgreich und nachhaltig finanzierbar und praktizierbar.

Nach Auffassung des Wirtschaftsnobelpreisträgers Gary Becker ist die Familie auch eine wirtschaftliche Institution. Sie ist aus seiner Sicht ein integraler Bestandteil der Ökonomie im weitesten und besten Sinn und steht nicht ausserhalb des Tauschprinzips, wenn man das immaterielle, emotionale Geben, Nehmen, Nutzen und Teilen mit einbezieht. Ergänzend und z.T. alternativ zur Familie haben sich in neuerer Zeit auch private Versicherungen etabliert, die – teils eigenständig, teils aufgrund von staatlichen Regulierungen – familienergänzend eine «zweite Säule» der individuellen und gemeinsamen Vorsorge bilden.

Familie als Ideal und als Projektion der Sehnsüchte

Nicht alle Befürworter traditional bestimmter spontaner Ordnungen waren selbst erfolgreiche Familienmenschen. Die Vertreter der «Österreichischen Schule der Ökonomie» strebten alle nach jener möglichst spontanen, vielfältigen Verknüpfung von Individuum, Kleingruppe und anonymer Grossgesellschaft, von emotionalen und rationalen Verbindungen, Ideale, die sie persönlich nicht immer erreichen konnten. Man idealisiert oft das, was man selbst nicht hat, oder nicht in jener Qualität, die man sich wünschte.

Das Neue Testament ist nicht ausgeprägt familienfreundlich. Die Jünger haben ihre Familien verlassen, um Jesus nachzufolgen. Gegenüber seiner biologischen Familie äussert sich Jesus sinngemäss (bemerkenswert unbiologisch und liberal) «Meine Familie ist dort, wo ich verstanden werde». Die Nächstenliebe wird auch nicht primär als Familiensolidarität postuliert, im Gegenteil. Der «Nächste» ist im Gleichnis des Barmherzigen Samariters weder ein Verwandter, noch ein Nachbar, noch ein Volksgenosse, sondern ein Mensch in einer konkreten Notsituation, der auf unmittelbare, persönliche Hilfe angewiesen ist.

«Familie» wird heute als klagbares «Menschenrecht auf Familie» auch von Akademiker – Richtern in Menschenrechts-Gerichtshöfen – immer weiter und weltfremder definiert, und auch der privatrechtliche Begriff der «Ehe» ist nach neueren Gesetzgebungen weit von dem weg, was ursprünglich damit gemeint war. Dafür werden die traditionellen sozialen Verwandtenunterstützungspflichten durch Staatsrenten abgelöst: Diese Verlagerung in Richtung staatlicher Zuständigkeit führt zu einer widersinnigen Kombination von Ausweitung und Einschränkung kollektiver und privatautonomer Zuständigkeit im Bereich der Familie.

Familie als Urzelle des Staates?

Erbmonarchien versuchten das Prinzip Familie mit dem Prinzip Staat zu verknüpfen. Das kann funktionieren, ist aber pannenanfällig und degenerationsgefährdet und letztlich auf die Dauer riskant. Kleindemokratien mit Milizprinzip und strikt limitierter Zuständigkeit der Politik basierten in Stadtstaaten und in den Kantonen der Schweiz meist auch auf reichen und einflussreichen Familien, die ihr eigenes Wohlergehen mit dem Wohlergehen aller irgendwie in Einklang bringen wollten, eine Art Familienaristokratie. Das ist ebenfalls riskant, und oft nicht sehr friedlich, aber wohl doch etwas robuster, weil es einen Wettbewerb mehrerer Familien um den Einfluss gibt und weil sich die Degenerierten auf die Dauer nicht halten können.

In der Literatur werden sowohl die Spannung als auch die Analogie zwischen Familie, Staat und Religion immer wieder thematisiert. In der «Antigone» von Sophokles endet der Konflikt zwischen Staatsraison und Familienmoral tödlich. Franz Grillparzer hat den Staat als «Ehe unter Bürgern» bezeichnet, er selbst hat allerdings den Schritt zur Ehe nie gewagt. Der romantische Staatsdenker Adam Müller bezeichnete den Staat als «die Allianz der vorangegangenen Generation mit der Folgenden und umgekehrt», er deutete ihn also als Generationenvertrag und ist damit ein Vorläufer der nationalen wohlfahrtsstaatlichen Sozialversicherung, welche wichtige ökonomische Funktionen der Familie übernommen hat, allerdings ohne sie im Umlageverfahren nachhaltig garantieren zu können.

Der Staat kann die Familie nicht ersetzen

«Is national rational?» fragt der staatsskeptische Sozialphilosoph Antony de Jasay in einem grundlegenden Essay2 ohne zu einer definitiven Antwort zu gelangen. Ob die Territorial- und Sozialstaaten im herkömmlichen, europäischen Sinn und mit zunehmenden Staatsquoten und immer mehr Umverteilung und Bürokratie wirklich die ökonomische Funktion der Familie schrittweise übernehmen können, oder ob sie auf eine Krise hinsteuern, in der dann die Familien doch wieder als letztes Auffangnetz hervorgehen, bleibt eine offene Frage.

Vorläufig ergänzen, überlappen und konkurrieren sich die zwei Prinzipien der intergenerationellen Vorsorge (die staatliche und die familienbezogene) und ein Entscheid, welche Institution sich letztlich als robuster und anthropologisch adäquater erweisen wird, wäre zumindest voreilig. Selbst die während zwei Generationen durchgezogene kommunistische Ein-Kind–Politik hat in China den konfuzianischen Familiensinn nicht zerstören können. «Mehr Freiheit, weniger Staat» ist keine konservative Maxime, und es ist sehr wohl möglich, dass sich die traditionelle und im Kern anti-kollektivistische und anti-etatistische Familie langfristig gegen den herkömmlichen Staat behaupten wird, vor allem wenn sie sich privatautonom auch auf kapitalbezogene staatsunabhängige Vorsorgesysteme abstützen kann. Bestenfalls kommt es zu einer neuen Aufgabenteilung innerhalb eines «Burgfriedens».

Massendemokratien in Verbindung mit grossen Territorialstaaten, die sich bürokratisch und korporatistisch vernetzen, sind sowohl aus ökonomischer als auch aus soziologischer Sicht eine schlechte Idee, weil ihre Anreize auf sehr kurzfristigen und fragwürdigen (Wahl)-Erfolgen beruhen. Politische Systeme wollen heute auf allen Stufen die Familie ergänzen, unterstützen, flankieren, umdefinieren etc… Aber diese Kooperation wird schnell einmal zur Alternative, die mit der staatlichen Kaputtförderung der Familie endet oder enden kann. Zuerst wird die Familie durch «aktive Familienpolitik» staatsabhängig gemacht, und schliesslich übernimmt der Staat ihre wesentlichen Funktionen im Bereich Erziehung, Sozialisation und Vorsorge.

Die USA schöpfen ihre m.E. immer noch vorhandene Vitalität aus der Kombination von Familie und Religion als Alternativen zur Politik, die – leider – seit den Gründervätern immer wichtiger immer mächtiger und immer zentraler wird: Ein Zeichen des langsamen Niedergangs?

Sowohl die Staaten als auch die privaten Haushalte sind heute weltweit, zum Teil gegenseitig verschuldet. Verschuldung, auch die intergenerationelle Verschuldung, ist nichts Negatives, solange die Schulden nachhaltig bedient werden können und die Gläubiger eine gewisse Sicherheit haben. Das Pfand der privaten Hypothek ist das Haus und das Grundstück, letztlich häufig auch mit Familienbezug. Das Pfand der Staatsschuld sind die natürlichen Ressourcen im Staatseigentum und das Enteignungspotential der privaten Vermögen, sowie das Humankapital aller Staatsangehörigen, auch der kommenden Generationen, sofern es sich enteignen lässt. Dieses Privateigentum ist aber immer noch weitgehend in der Hand von Privaten und Familien, und damit kommt es irgendwann zum finanziellen Entscheidungskampf zwischen Staat und Familie.

Familienleben und Privatleben

Wer Freiheit und Vielfalt liebt, wird seine Sympathien eher der Familie als dem Staat schenken, selbst wenn man als Freund der individuellen Freiheit eingestehen muss, dass auch die Familie ein Kollektiv ist, und dass das Familienleben oft massiv ins persönliche Privatleben eingreift. Die Entscheidung für eine Familie ist aber freiwillig. Der bewusste Verzicht auf die Gründung einer Familie und auf die Fortpflanzung ist in einer freiheitlichen Gesellschaft eine allen offen stehende Option, sofern sie nicht auf Kosten gegenwärtiger und zukünftiger Mitbürgerinnen und Mitbürger erfolgt. Staatliche Familienförderung (die über eine vernünftige Entlastung hinausgeht) ist abzulehnen, weil sie die Familien vom Staat abhängig macht und die nicht in Familien Lebenden benachteiligt. Wenn allerdings eine grössere Zahl von Menschen die Kinderlosigkeit bevorzugt, sinkt die Bevölkerungszahl schnell einmal auf ein Niveau, das den nachhaltigen Fortbestand einer Population ökonomisch und sozio-kulturell in Frage stellt. Es kommt dann allenfalls über die Einwanderung zu einem neuen Ausgleich zwischen wohlfahrtsstaatlich gestützten Populationen mit sinkenden Geburtenzahlen auf der einen Seite und reproduktionsfreundlicheren Einwanderern auf der andern.

Dass heute in der Schweiz – nicht etwa bei Einwanderern oder in Bauernfamilien, sondern in der urbanen oberen Mittelklasse – eine Zunahme der Geburtenziffer zu beobachten ist, stimmt optimistisch und ist ein Silberstreifen am Horizont der demographischen Entwicklung. Die Schweiz hat punkto staatlicher Familienförderung keineswegs eine Spitzenposition. Trotzdem (oder vielleicht sogar deswegen?) steigt die Bereitschaft junger Familien aus eigenem Antrieb das «Abenteuer Mehrkindfamilie» zu wagen. Der neue Trend ist zwar in den Medien schon beschrieben worden, aber man hat ihn in der Schweiz und in Europa bisher noch kaum analysiert und kommentiert. Die Beobachtung, dass Bevölkerungen mit hohem Kultur- und Lebensstandard schrumpfen und schliesslich aussterben, scheint sich, wenigstens in der Schweiz, glücklicherweise nicht zu bewahrheiten.

1 Ferdinand Mount, The Subversive Family: An Alternative History of Love and Marriage, 1982, dt. Übersetzung, Die autonome Familie: Plädoyer für das Private; eine Geschichte des latenten Widerstands gegen Kirche, Staat und Ideologen, 1. Aufl., Weinheim 1982, Belz, Ed. Monat.
2 Schweizer Monatshefte, 76. Jahrgang, 1996, Heft 11, S. 19.

Der Autor Robert Nef ist Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur und Vizepräsident der Stiftung «Freiheit und Verantwortung» und Mitglied des Stiftungsrates des Liberalen Instituts.
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