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Direkte Demokratie und Liberalismus

Lesedauer: 19 Minuten

Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip


Inhalt

  1. Zum Spannungsfeld zwischen dem Freiheitsprinzip und dem Mehrheitsprinzip
  2. Demokratie ist nicht eindeutig definiert
  3. Zur Unterscheidung von Direktdemokratie und parlamentarischer Demokratie
  4. Referendum als Volksveto
  5. Ist «Volkes Stimme Gottes Stimme»?
  6. Populismus und Mehrheitsprinzip, neuere Beispiele für Volksabstimmungen in der Schweiz
  7. Von der Ergänzungsbedürftigkeit direktdemokratischer Rahmenordnungen
  8. Je beschränkter Politik als solche ist, desto mehr direkte Demokratie kann gewagt werden
  9. Liberale Schranken des Mehrheitsprinzips
  10. Populismusgefahr in der direkten, halbdirekten und in der repräsentativen Demokratie
  11. Demokratie und Non-Zentralismus
  12. Lob des Non-Zentralismus
  13. Schluss

Literaturhinweise
Über den Autor

1. Zum Spannungsfeld zwischen dem Freiheitsprinzip und dem Mehrheitsprinzip

Liberalismus und Demokratie werden oft etwas voreilig als zwei völlig kompatible und harmonisch aufeinander abgestimmte politische Ideen dargestellt. Dass die beiden prinzipiell auch oft in Konflikt geraten, wird zu wenig beachtet. Zudem wird im Zusammenhang mit der demokratischen Mitbestimmung ziemlich kritiklos das Prinzip der Repräsentation als beinahe selbstverständlich anerkannt und vorausgesetzt. Jeder freiheitlich denkende und fühlende Mensch sollte aber die Frage, wer ihn denn wie und inwiefern politisch adäquat repräsentieren könne, viel ernster nehmen.

Politische Repräsentation setzt nämlich ein Kapital an persönlichem Vertrauen voraus, das durch die gegenwärtige Politik in keiner Weise gedeckt ist.

Die Repräsentation des eigenen Willens durch bevorzugte Parteien und gewählte Personen wird in einer pluralistischen, hoch vernetzten und immer zentraler regierten Gesellschaft mit unterschiedlichsten Wertvorstellungen und Interessen immer problematischer. Etwas überspitzt formuliert kann man Repräsentation durchaus als einen zu wenig hinterfragten Skandal bezeichnen.

Die Übereinstimmung von Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Repräsentation hält einer sorgfältigen Beobachtung nicht stand. Selbstbestimmung und Mitbestimmung geraten dann in Konflikt, wenn Mehrheiten die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung einschränken oder gar aufheben.

Aus liberaler Sicht hat die Selbstbestimmung vor der Mitbestimmung Vorrang. Jene Individuen und jene Minderheiten, die durch Mehrheitsentscheide fremdbestimmt werden, werden in ihrer Freiheit und Selbstbestimmung in gleicher Weise beschnitten wie durch autokratische Machthaber. Der einzige, allerdings wichtige, Unterschied besteht darin, dass Minderheiten in einer Demokratie die Chance haben, ihrer Meinung durch Überzeugungsarbeit zur Mehrheit zu verhelfen. Demokratische Mitbestimmung kann von allen, die individuelle Selbstbestimmung für entscheidend halten, höchstens als notwendiges Übel akzeptiert werden, wenn es um die Aufrechterhaltung des Friedens und um die gemeinsame Abwehr von Gefahren geht.

Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und direkter Demokratie kann am anschaulichsten anhand von Friedrich Schillers Schauspiel Wilhelm Tell aufgezeigt werden. Es gibt dort die drei Schlüsselszenen: Apfelschuss, Rütlischwur und die Erschiessung des Vogtes Gessler durch Tell. Die Zumutung, vom Kopf des eigenen Kindes einen Apfel zu schiessen, zeigt die Fratze der tyrannischen Fremdbestimmung. Bei der nächtlichen Verschwörung auf dem Rütli, beschliessen die Eidgenossen, durch demokratische Mitbestimmung diese Fremdherrschaft abzuschütteln und ihre eigenen Angelegenheiten autonom zu regeln. In der «Hohlen Gasse» erschiesst Tell den Tyrannen Gessler in einem Akt der Selbstbestimmung mit derselben Waffe, die er beim Apfelschuss benützte.

Tell, der Tyrannentöter, verkörpert die radikale individuelle Machtskepsis des Opponenten jeder Fremdbestimmung. Die Männer auf dem Rütli verkörpern den Konsens zur gemeinsam beweglichen Lösung gemeinsamer Probleme. Sie repräsentieren sich selbst und sind «das Volk».

Die Demokratie der Schweiz stand stets im Spannungsfeld dieser beiden Brennpunkte: Nein zur Fremdbestimmung, Ja zur konsensualen Problemlösung zwischen Beteiligten und Betroffenen, zwischen Steuerzahlern und Benutzern öffentlicher Einrichtungen.

Das libertäre Nein des Tell ist allerdings im Lauf der Jahrhunderte zunehmend durch eine sozialliberale und sozialdemokratische Bejahung von immer mehr staatlichen Einrichtungen und Bevormundungen überwuchert worden. Mehrheiten sind erfahrungsgemäss bereit, für mehr kollektive Sicherheit und für das Abschieben von persönlicher Verantwortung auf Zwangskörperschaften sehr viel an Selbstbestimmung aufzugeben. Dass dieses Nein zur Fremdbestimmung und Bevormundung nicht ganz verschwunden ist, verdanken wir nicht dem demokratischen Mehrheitsprinzip, sondern dem Wettbewerb zwischen kleineren, relativ eigenständigen politischen Gebietskörperschaften: dem Non-Zentralismus.

Darum habe ich bereits bei der Formulierung des Titels dieses Beitrags Wert darauf gelegt, dass der Non-Zentralismus neben dem Begriff des Liberalismus und der direkten Demokratie als «Drittes Prinzip» – nicht als «Dritter Weg» – erscheint. Das vereinfacht die Fragestellung nicht, aber es zeigt möglicherweise einen Weg aus dem Dilemma.

In meiner Dankesrede anlässlich der Verleihung der Hayek-Medaille habe ich im Jahre 2008 eine satirische Aktualisierung des Schillerschen Rütlischwurs vorgetragen.

Dies ist Schillers Originaltext:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Friedrich Schiller, Wilhelm Tell Zweiter Akt, Szene 2

Die sozialdemokratisch aktualisierte Variante des Rütlischwurs lautet wie folgt:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Rentnern,
uns zwangsversichern gegen alle Not.
Wir wollen Wohlfahrt, selbst auf Kosten unserer Kinder, eher Taktieren, als eigenständig sich behaupten.
Wir wollen trauen auf den Staat da oben
und uns stets beugen vor der Macht der andern.

Robert Nef, Liberales Institut, Zweitletzter Akt, zweitletzte Szene

Was liegt zwischen diesen beiden Texten – ausser natürlich dem eklatanten sprachlichen Qualitätsunterschied? Es sind 209 Jahre seit Schillers Tell und 721 Jahre seit der historischen Gründung der Eidgenossenschaft 1291.

Grob vereinfacht und verkürzt lässt sich dazu Folgendes bemerken:

Mein verballhornter aktualisierter «Rütlischwur» ist das, was an Freiheit noch übrig bleibt, wenn das Mehrheitsprinzip lange genug und mit zu wenigen Ein- schränkungen und in Kombination mit dem Repräsentationsprinzip praktiziert wird.

2. Demokratie ist nicht eindeutig definiert

Mit dem Begriff «Demokratie» werden sehr viele unterschiedliche politische Organisationsformen bezeichnet. Sogar der Markt als «tägliches Plebiszit», bei dem eine grosse Zahl von Individuen privatautonom vielfältigste Entscheidungen treffen, ohne eine Einigkeit erzielen zu müssen, ist schon als «demokratische Institution» bezeichnet worden, u. a. auch von Ludwig von Mises.

Andererseits werden auch Entscheidungsverfahren, die Einstimmigkeit voraussetzen oder anstreben bzw. «ohne Gegenstimme» oder «ohne Veto» beschliessen, mit guten Gründen ebenfalls als demokratisch bezeichnet. Das Mehrheitsprinzip ist also im Begriff «Demokratie» nicht notwendigerweise impliziert.

In der direktdemokratischen Praxis zeigt sich bei offenen Abstimmungen immer noch häufig die Sehnsucht nach einer Annäherung an die Einstimmigkeit. Bei Wahlen wird – so der Fachausdruck in den Landsgemeindekantonen – «gemehrt» – bei Abstimmungen möchte man eindeutige Mehrheiten sehen. Knappe Mehrheiten sind ohne Auszählung in offenen direktdemokratischen Abstimmungen auch schwer zu ermitteln, und Mehrheiten ahnen, dass die Durchsetzung von Entscheiden schwieriger ist, wenn die Entscheidung knapp ausgefallen ist.

Die Eidgenossenschaft, die man auch schon die älteste noch existierende Demokratie genannt hat, ist 1291 mit grosser Wahrscheinlichkeit gerade nicht durch Mehrheitsbeschluss geschaffen worden. Das politische Bündnis hatte den Charakter einer Sezession, einer Verschwörung gegen jede Fremdherrschaft – und zwar auf ewig. Das Bündnis wurde gewiss ausgehandelt, seine Vor- und Nachteile wurden individuell und kollektiv geprüft und öffentlich gegeneinander abgewogen. Im modernen Sinne abgestimmt wurde darüber wohl nicht. Verschwörer dulden in der Regel keine Minderheit, die sich zuerst der Verschwörung widersetzt und schliesslich überstimmt wird. Zudem haben sich die Eidgenossen im Lauf der späteren Jahrhunderte gegenüber ihren eigenen Untertanen keineswegs demokratisch verhalten.

Die moderne Demokratie, die nach dem Prinzip «ein Mensch eine Stimme», und «die einfache Mehrheit gibt den Ausschlag und die Minderheit fügt sich», ist aus liberaler Sicht kein verlässlicher Garant der Freiheit für alle, weil schlimmstenfalls fast die Hälfte der Beteiligten bzw. Betroffenen fremdbestimmt wird.

Das ist gemessen am liberalen Ziel einer möglichst hohen Selbstbestimmung keine gute Lösung, denn gerade der Wert der individuellen Selbstbestimmung wird oft von Mehrheiten unterschätzt.

Vor allem im amerikanischen Sprachgebrauch ist aber der Begriff Demokratie als Gegenbegriff zur Willkürherrschaft und zum Totalitarismus viel weiter gefasst und ausschliesslich positiv aufgeladen. Democracy, das ist der mythisch überhöhte amerikanische Traum von einer besseren Welt. Democracy meint in den USA eigentlich nichts anderes als das Gegenteil von Tyrannei, Totalitarismus, Willkür- und Gewaltherrschaft. Auch das, was wir in Europa differenziert als liberalen gewaltenteilenden Rechtsstaat bezeichnen, wird in den USA in einer ideengeschichtlichen Vereinfachung und Verkürzung «democracy» genannt.

Der egalitäre Grundsatz «ein Mensch eine Stimme» missachtet die Tatsache, dass es bei allen Entscheiden sehr unterschiedliche Grade der Betroffenheit gibt. Je zentraler ein Entscheidungsprozess organisiert wird, desto unterschiedlicher sind die räumlichen, sektoriellen und persönlichen Betroffenheiten durch Vorzüge und Nachteile. Bei Aktiengesellschaften gilt deshalb nicht das «Pro-Kopf-Prinzip», sondern jenes Stimmengewicht, das der finanziellen Beteiligung entspricht.

Dass auch der Grundsatz «Je betroffener desto beteiligter» als demokratisch bezeichnet werden kann, wird oft übersehen. Er bildet die Brücke zum Prinzip des Non-Zentralismus. Die Stimmen müssen nach diesem Prinzip nicht nur gezählt, sondern je nach räumlicher und finanzieller Betroffenheit auch gewogen werden können.

Die Literatur zum Thema Demokratie und Mehrheitsprinzip ist uferlos. Trotzdem gibt es meines Wissens wenige Untersuchungen zur Alltagspraxis aller Organisationen, die statutengemäss nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden, aber erfahrungsgemäss eher selten tatsächlich abstimmen. Das vorherrschende Entscheidungsverfahren in Vorständen und Aufsichtsräten ist die Diskussion, bzw. das Palaver, in dem sich dann die tatsächlich Einflussreichen durchsetzen und aus dem letztlich ein informeller Entscheid «ohne Gegenstimme» resultiert, bei dem Minderheiten sich nicht offen outen müssen und das Gesicht wahren können.

3. Zur Unterscheidung von Direktdemokratie und parlamentarischer Demokratie

In der Indirektdemokratie bzw. in der parlamentarischen Demokratie findet das Entscheidungsverfahren zwei- oder mehrstufig statt, und die Wählerschaft bestimmt nach allgemeinen Regeln lediglich die für die Mehrheitsentscheidungen zuständigen Vertreterinnen und Vertreter. Welche Selbstbestimmungsverluste damit verbunden sind, wird in der Regel zu wenig thematisiert.

Bei der Direktdemokratie wird bewusst darauf verzichtet, ein Parlament als Zwischeninstanz von gewählten Volksvertretern einzuschalten. Regierung und Volk stehen in einem direkten Dialog. In der sog. halbdirekten Demokratie (das ist das aktuelle System der Schweiz), werden beide Verfahren kombiniert.

Die Direktdemokratie hat alle Vorteile und Nachteile des Mehrheitsprinzips, das damit rechnet, dass eine Mehrheit am ehesten dazu in der Lage sei, das für das Gemeinwohl Notwendige und Erwünschte für alle verbindlich festzulegen.

4. Referendum als Volksveto

Für Verfassungsänderungen und Staatsverträge mit Verfassungsrang braucht es in der Schweiz obligatorisch die Volks- und Stände- (d. h. Kantons-) Mehrheit. Gegen Gesetze, die mit Parlamentsmehrheit beschlossen sind, können 50.000 Bürgerinnen und Bürger das Referendum ergreifen. Diese Möglichkeit des Referendums wirkt sich als permanente «Bedrohung» der parlamentarischen Meinungsbildung aus und bewirkt eine direkt demokratische Einschränkung der Macht der Repräsentanten.

Das Volk hat in der halbdirekten Demokratie ein Vetorecht gegenüber Entscheidungen, die sowohl in der Regierung als auch im Parlament mehrheitsfähig waren.

Seit 1874 gehört dieses Referendum genannte Suspensiv-Veto bei Gesetzen zum politischen System.

Als Ventil für vom Parlament vernachlässigte Verfassungsprobleme kennt die Schweiz das Initiativrecht. Mit 100.000 Unterschriften können die Stimmberechtigten eine Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung verlangen, wobei die Regierung die Möglichkeit hat, einen Gegenvorschlag zu unterbreiten.

Wenn Regierung und Parlament übereinstimmen, aber vom Volk nicht mehrheitlich akzeptiert werden, kann eine Volksmehrheit ein Veto aussprechen. Darin kann man, je nach Fragestellung und Standpunkt, eine zusätzliche neue Blockade sehen oder eine wichtige Notbremse.

Angesichts dieser Verfassungslage ist es nicht richtig, wenn man das Resultat einer Volksabstimmung, das für Parlament und Regierung verbindlich ist, als «Sieg» oder als «Niederlage» der Regierung bezeichnet.

Die schweizerische Staatsauffassung ist stark vom Legalitätsprinzip geprägt, d. h., die Regierung handelt im Auftrag des Volkes, und dieser Auftrag ist durch Verfassung und Gesetze weitgehend festgelegt. Der Spielraum für freies Regierungsermessen, kreative Interpretationen, Innovationen und gouvernementale Führung und Selbstverwirklichung ist eng. Auch die Auffassung von einer Regierung, die Visionen hat und dem Volk «den richtigen Weg in die Zukunft» weist und ihm (in mit Steuergeld finanzierten Kampagnen) das korrekte Verhalten in Abstimmungen beibringt, widerspricht dem Regierungssystem der Schweiz. Die Rollen sind hier eher umgekehrt besetzt. Eine Volksmehrheit kann dem Parlament und der Regierung ihren Willen aufzwingen und Vorlagen «bachab» schicken.

5. Ist «Volkes Stimme Gottes Stimme»?

Die Gefährdung der direkten Demokratie durch populistische Propaganda ist nicht zu unterschätzen. Allerdings neigt jeder Politiker dazu, die Verbreitung der eigenen Meinung als Information und Aufklärung zu bezeichnen und die Bemühungen der Gegner als Populismus und Demagogie.

Die Skepsis gegenüber der Demagogie der Gegner sollte daher konsequenterweise mit der Skepsis gegenüber jeder Art von Propaganda, auch von Regierungspropaganda, verknüpft werden.

Das Problem, dass das Volk zu wenig von komplexen Infrastruktur- und Finanzvorlagen versteht, muss man durch die Verlagerung auf bürgernähere Gebietskörperschaften und durch mehr Privatisierung lösen und nicht durch eine «Volkshochschule», bei der die Regierungsmitglieder die Lehrer der Nation spielen.

Wenn die komplexen Infrastrukturen, wie es liberalen Zielen entspricht, benutzerfinanziert sind, entscheiden Angebot und Nachfrage direkt über deren Finanzierung und Weiterentwicklung, und der demokratische Entscheid durch die Mehrheit wird nur in politischen Grundsatzfragen, beispielsweise bei einem Beitritt zu einer Staatengemeinschaft, aktuell.

Die Befürwortung der direkten Demokratie beruht auf einem Axiom, das man in Anlehnung an Goethe wie folgt charakterisieren könnte: «Das Volk in seinem dunkeln Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewusst». Das ist nicht die Devise von Demagogen, die das Volk führen bzw. verführen wollen, sondern von verantwortungsbewussten Politikern, die nicht blind an die Überlegenheit von Fachleuten, Bürokraten und Berufspolitikern glauben. Der Satz «Vox populi vox Dei» soll hier nicht als direktdemokratisches Dogma verkündet werden, sondern auch als Aufforderung zum Widerspruch. Die zynische Umwandlung des Satzes in «Vox populi, vox Rindvieh» hat vor allem dann seine Berechtigung, wenn über emotional aufgeladene Vorlagen abgestimmt wird, bei denen die massenmediale Beeinflussung einseitig erfolgt.

Strikt Liberale sind zu Recht gegenüber einem allumfassenden Demokratieverständnis skeptisch und befürworten die limitierte Demokratie, die nur subsidiär in die zivilgesellschaftliche Privatautonomie eingreifen sollte.

Wer ist «das souveräne Volk»? Das lässt sich nicht generell und abschliessend definieren. Aber je kleiner der Rahmen gewählt wird, desto enger ist die Beziehung zwischen Betroffenen und Beteiligten und desto beschränkter sind die Folgen von Fehlentscheiden und desto erfolgversprechender sind die gegenseitigen Lernpotenziale. Der optimale Träger der direkten Demokratie kann nicht die von Massenmedien beeinflusste Gesamtbevölkerung eines grösseren Nationalstaates oder gar einer kontinentalen Staatengemeinschaft sein.

6. Populismus und Mehrheitsprinzip, neuere Beispiele für Volksabstimmungen in der Schweiz

Die im Folgenden vorgenommene Beurteilung des Abstimmungsverhaltens ist rein persönlich. Aber auch wissenschaftliche Untersuchungen können die letzten Motive des Abstimmungsverhaltens kaum schlüssig ermitteln. Deshalb sollen einige Volksabstimmungen der letzten Jahre bezüglich des Faktors «Populismus» unter die Lupe genommen werden. Generell ist eine zunehmende Tendenz für Verfassungsänderungen aufgrund von temporären Stimmungslagen, die in den Massenmedien thematisiert und dramatisiert werden, zu beobachten. Dagegen sind allerdings auch gewählte Volksvertreter und Regierungsmitglieder im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und bei der Wahrnehmung der Regierungsfunktion keineswegs immun.

Die Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» wurde 2012 (aus liberaler Sicht erfreulicherweise) mehrheitlich abgelehnt, weil die negativen Folgen für die Wirtschaft vielerorts wahrgenommen wurden und die grosse Zahl der Rentner und Nichterwerbstätigen sich davon ohnehin keine Vorteile versprechen konnte.

Die Volksinitiative für ein generelles Bauverbot für Minarette wurde 2009 mehrheitlich angenommen, weil die auf 30 Prozent geschätzte Gruppe mit traditionell verankerten Fremdenängsten Unterstützung erhielt von religiös und feministisch motivierten Islamkritikern, die normalerweise in der Mitte oder Mitte-links stehen (je gut 10 Prozent). In den grösseren Agglomerationen, in denen ein Bau von Minaretten überhaupt in Frage gekommen wäre, wurde das Verbot abgelehnt. Dies liefert ein weiteres Argument, über solche Fragen so non-zentral wie möglich abstimmen zu lassen.

Ein EWR-Beitritt wurde 1992 knapp abgelehnt, weil die Regierung im gleichen Jahr ein EU-Beitrittsgesuch deponiert hatte. Der damals ebenfalls auf 30 – 40 Prozent geschätzte «harte Kern» der national ausgerichteten Beitrittsgegner wurde durch weitere 20 Prozent von Pro-Europäern ergänzt, die an der Tragfähigkeit und Zweckmässigkeit der real existierenden EU zweifeln, und die für einen Beitritt der Schweiz mehr Nachteile als Vorteile sehen. Dieses Bevölkerungssegment hat inzwischen um mindestens weitere 20 Prozent zugenommen.

Ein erweitertes Allgemeines Staatsvertragsreferendum wurde 2012 abgelehnt, weil eine Mehrheit vorallzu vielen Abstimmungen zurückschreckte und eine völkerrechtliche Blockierung und Isolation der Schweiz befürchtete.

Eine Initiative zum «Schutz vor Passivrauchen», die ein generelles Rauchverbot im öffentlichen Raum bewirkt hätte, wurde 2012 abgelehnt, obwohl die Raucher eine Minderheit von unter 30 Prozent stellen.

Noch in der Schwebe befindlich sind unter anderem drei Initiativen, die von linken Kreisen lanciert worden sind, die aber in ihrer egalitären Stossrichtung durchaus auch an populäre Instinkte appellieren, die bis weit in die politische Mitte hinein verbreitet sind.

Die sogenannte «Abzockerinitiative», die «überhöhte Boni und Gehälter» beschränken soll, die «1:12-Initiative», die in der Verfassung ein Lohnsystem verankern will, bei dem die Maximallöhne höchstens zwölfmal höher sein dürfen als die Minimallöhne. Zudem werden Unterschriften gesammelt für die Einführung einer einschneidenden nationalen Erbschaftssteuer ab 2 Millionen Vermögen.

Es zeigt sich bei den Volksinitiativen eine zunehmende Tendenz zu Themen, bei denen Rechtspopulisten und Linkspopulisten um die Gunst der politischen Mitte buhlen.

7. Von der Ergänzungsbedürftigkeit direktdemokratischer Rahmenordnungen

Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips muss aus strikt liberaler Sicht durch Minderheitenschutz, Kommunalautonomie, Wettbewerbs-Föderalismus, Non-Zentralismus und klassische Freiheitsrechte, die sich gegen die Staatsmacht richten, beschränkt sein.

Wenn dies der Fall ist, und je mehr dies der Fall ist, desto eher kann die Demokratie auch direkt sein.

Alle Fragen, die sich durch Mehrheiten entscheiden lassen, werden durch Volksmehrheiten ebenso gut (bzw. ebenso schlecht) beantwortet wie durch Parlamentsmehrheiten.

Dass Parlamentsmehrheiten im Referendumsfall auch noch den Filter der Volksmehrheit passieren müssen, bietet für freiheitliche Lösungen mehr Chancen als Risiken, bewirkt aber keinesfalls eine absolute Qualitätsgarantie.

Direkte Demokratie und Parlamentarismus sind keine Alternative, sondern können bzw. könnten optimal kombiniert werden. Ein Radikalliberaler zieht die Selbstbestimmung der Mitbestimmung vor, während ein Radikaldemokrat sein ganzes Vertrauen auf die Richtigkeit des Mehrheitsentscheids setzt bzw. den Mehrheitsentscheid als neutrales bzw. ambivalentes dezisionistisches Problemlösungsverfahren akzeptiert – oft nur mangels eines besseren.

Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind vor allem dann tendenziell überfordert, wenn ein Entscheid ein umfangreiches Sach- und Fachwissen voraussetzt. In Grundsatzfragen ist das Volk aber nicht mehr überfordert als das Parlament.

Eine Volksabstimmung ist kein Ausnahmezustand, bei dem die Regierung ein Plebiszit gewinnt oder verliert, sondern eine für die Regierung verbindliche Volksbefragung, die in jenen Fällen aktuell wird, wo allenfalls die Volks- und Kantonsmehrheit nicht mit der Parlamentsmehrheit übereinstimmt.

Die radikaldemokratische These, das Volk habe «als höchster Souverän» grundsätzlich immer Recht («Vox-populi-vox-Dei») ist aus liberaler Sicht problematisch. Sie entspricht zwar der schweizerischen Staatsauffassung, hat aber aus liberaler Sicht ambivalente Auswirkungen. Im Rückblick waren die Freiheits- rechte durch Volksentscheidungen immerhin nicht mehr gefährdet als durch Parlamentsentscheide und – in neuerer Zeit – durch Gerichtsentscheide. Das Volk hat sich in der Vergangenheit in der Schweiz oft mehrheitlich als «Hüter der Freiheitsrechte» (Zaccaria Giacometti) erwiesen.

Die Regierung der Schweiz hat als Exekutive in der (für die Zukunft wichtigen) EU-Beitrittsfrage jahrelang mit der Unterstützung der Parlamentsmehrheit und der meisten Medien, aber gegen den wiederholt bekräftigten Mehrheitswillen des Volkes regiert.

8. Je beschränkter Politik als solche ist, desto mehr direkte Demokratie kann gewagt werden

Die Ersetzung der halbdirekten parlamentarischen Demokratie durch neue Formen der direkten Demokratie ist ein aktuelles Thema. Leider wird die Diskussion um die Weiterentwicklung direktdemokratischer Verfahren immer noch von Anhängern der 1968-Mitbestimmungsideologie dominiert.

Die 68er Basisdemokraten haben in verhängnisvoller Weise das Postulat der Partizipation mit dem Postulat der Totalpolitisierung der Gesellschaft und dem damit verknüpften Primat der Politik gegenüber Kultur und Wirtschaft verbunden.

Die Debatte rund um neue Formen der politischen Partizipation ist zwischen Radikalliberalen und Radikaldemokraten nicht mehr fortgesetzt worden. Mög- licherweise können elektronische Formen der direkten Partizipation die offene Gemeindeversammlung bzw. die Landsgemeinde ersetzen oder ergänzen und den Verfahren der direktdemokratischen Beteiligung neue Impulse verleihen.

Die Idee der verbesserten Partizipation ohne dazwischen geschaltete Repräsentation ist aus liberaler Sicht nur tauglich, wenn die Zuständigkeit kollektiver politischer Institutionen auf die Kernaufgabe Recht (Schutz von Eigentum und Person) und kollektive Sicherheit eingeschränkt wird. Wenn wir basisdemokratische Verfahren auf das jetzige System politischer Allzuständigkeit aufpfropfen und nicht bei jedem Anliegen auch die mittel- und langfristige Kostenfrage thematisieren, endet das mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem plebiszitär-populistischen Desaster.

Der Erfolg des politischen Systems der Schweiz beruht nicht in erster Linie auf dem Prinzip der direkten Demokratie, sondern auf der Kombination von direkter Demokratie mit non-zentralen konkurrierenden Entscheidungs- und Besteuerungseinheiten, die eine Gegenüberstellung von allgemeinen Kosten und allgemeinem Nutzen voraussetzen.

Die Kleinräumigkeit fördert auch die Transparenz zwischen Staatsaufgaben und Staatsausgaben und Steuern, welche im lokalen Bereich durch die Identität von Infrastruktur-Benutzern, Steuerzahlern und Wählern gewährleistet wird. Die politischen Verantwortlichen müssen sich der direkten Kontrolle durch ihre Bürgerschaft immer wieder stellen.

Die direkte Demokratie kann zwar, kombiniert mit konkurrierenden Steuerhoheiten, die kontinuierliche Erhöhung der Staatsquote über längere Zeit bremsen, sie hat aber diesen Bremseffekt auch gegenüber Liberalisierungs- und Deregulierungsprogrammen. Radikale wirtschaftsliberale Reformen wären im non-zentral-direktdemokratischen System der Schweiz nicht möglich. Sie würden von der Koalition der Gegner aus verschiedensten Lagern und mit unterschiedlichsten Motiven verhindert.

Objektiv betrachtet sind Selbstbestimmung und Mitbestimmung gleichwertige und miteinander verbindbare Problemlösungsverfahren. Aus strikt liberaler Perspektive gilt es jedoch, der Selbstbestimmung den Vorzug zu geben. Mitbestimmung ist höchstens zweitrangig, weil vor allem originelle Menschen oft die Erfahrung machen, zur Minderheit zu gehören und deswegen fremdbestimmt zu werden. Der persönliche Autonomieverlust wird lediglich durch die Einsicht gemindert, dass wenigstens eine Mehrheit in den Genuss jener Lösung kommt, welche sie selbst gewählt hat.

Aus dieser Perspektive gibt es vielleicht wirklich jene Korrelation zwischen Demokratie und durchschnittlichem Glücksgefühl, die Glücksforscher empirisch nachgewiesen haben wollen.

Aber wie vergleicht und verrechnet man das relative Glücksgefühl der Mehrheiten mit dem Unglücksgefühl der immer wieder überstimmten Minderheiten? Am meisten «Glück» gewährt aus liberaler Sicht wohl eine Gesellschaft, welche ein Maximum an Selbstbestimmung ermöglicht, selbst wenn damit stets auch die Verantwortung für die Folgen übernommen werden muss.

Offen bleibt die Definition jener Probleme, die mit Vorteil über kollektive, erzwingbare Normen gelöst werden. Ihre Zahl dürfte eher abnehmen. Wer allgemeinverbindlichen Zwang einsetzen will, muss sich seiner Sache sicher sein. Es braucht den Nachweis, dass dadurch wirklich auf die Dauer für die Allgemeinheit ein Optimum erreicht wird. Die Tatsache, dass etwas «populär» oder «gut gemeint» ist, genügt nicht. Der Nachweis der Notwendigkeit, der Funktionstüchtigkeit, der Effizienz und der nachhaltigen Finanzierbarkeit wird in Zukunft bei rechtlichen Zwangsnormen und politischen Programmen und Projekten immer schwieriger werden.

In einer global vernetzten und hochkomplexen Gesellschaft nimmt der Anteil an nur noch individuell, temporär und «massgeschneidert» zu lösenden Problemen tendenziell zu, während der Anteil an generell-abstrakt und dauerhaft allgemein verbindlichen Zwangslösungen kleiner wird. Dies ist durch technische und zivilisatorische Entwicklungen bedingt und hat mit Ideologie oder Parteipolitik wenig zu tun. Aus diesem Grund ist es vorteilhafter, die gesellschaftssteuernden Normen in Zukunft eher der Privatautonomie anzuvertrauen als der Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips, das allgemeinverbindliche Verhaltensweisen unabhängig von ihrer Betroffenheit und Beteiligung kollektiv erzwingt.

Verantwortungsethiker fragen nach den langfristigen Folgen von Verhaltensweisen und Entscheidungen, während sich Gesinnungsethiker damit begnügen, dass etwas im Moment als «sozial gerecht» erscheint und einer «guten Gesinnung» entspringt. Aus liberaler Sicht nimmt der Stellenwert der Verantwortungsethik in der Politik zu, und ein allzu leichtfertiger und populistischer Umgang mit gesinnungsethischen Postulaten wird zunehmend gefährlich.

Demokratie muss sich auf wenige unveränderliche, allgemeinverbindliche und allgemeinverständliche Prinzipien beschränken, wenn sie glaubwürdig, effizient und finanzierbar bleiben will. Die Limitierung der Zuständigkeit des Staats zur Lösung von Problemen schützt den Staat vor Überforderung und Überschuldung und vor dem Verlust der Glaubwürdigkeit. Die ungebremste kontinuierliche Aufblähung von Staatsaufgaben und Staatsausgaben durch populistisch gesteuerte Mehrheits- und Massenprozesse führt hingegen letztlich zum Kollaps des politischen Systems.

Unter folgenden Bedingungen ist das Mehrheitsprinzip, und zwar auch das direktdemokratische, freiheitsverträglich:

9. Liberale Schranken des Mehrheitsprinzips

Erstens: Das Mehrheitsprinzip darf ausdrücklich nicht für Verteilungs- und Umverteilungsprozesse verwendet werden.

Zweitens: Das Mehrheitsprinzip ist zunächst auf die Vereinbarung von Regeln über die Wahl und Abwahl der für gemeinsame Angelegenheiten Beauftragten zu beschränken. Dieser Auftrag ist seinem Wesen nach zeitlich und inhaltlich zu beschränken.

Drittens: Das Mehrheitsprinzip eignet sich zusätzlich als Grundlage eines Vetos gegen neue Lasten und Regulierungen.

Es ermöglicht eine oft paradoxe, aber gegen «Mehr Staat» wirksame Koalition der Ablehner. Es gibt zwar keine psychologischen, aber doch entscheidungslogische Gründe, dass eine Ablehnung immer konsensfähiger und mehrheitsfähiger ist als eine Befürwortung, da die Gründe einer Ablehnung immer breiter abgestützt sind, als die einer Zustimmung.

Sind Mehrheiten zuverlässig und auf die Dauer dafür zu gewinnen, eine Ordnung aufrecht zu erhalten, welche Leben, Eigentum und Freiheit wirksam schützt und den Wettbewerb um die individuell zusagenden Lebensformen und Lebensinhalte für alle offen hält? Oder werden sich Mehrheiten früher oder später zusammentun, um auf Kosten der kreativeren und produktiveren Minderheiten mehr Sicherheit zu haben, indem die Freiheit aller eingeschränkt wird? So lauten die Grundfragen, deren Beantwortung möglicherweise berechtigte Zweifel an der positiven Auswirkung von Mehrheitsentscheiden wecken.

Weitere weit verbreitete Vorbehalte gegen das demokratische Mehrheitsprinzip ergeben sich aus der populistischen «Verführbarkeit» von Mehrheiten in der massenmedial gesteuerten Gesellschaft.

10. Populismusgefahr in der direkten, halbdirekten und in der repräsentativen Demokratie

Weltweit gilt die direkte Demokratie wegen ihrer populistischen Komponenten für freiheitsgefährdender als die parlamentarische Demokratie. Die meisten grundsätzlichen Schwächen, die man der direkten Demokratie anlastet (Emotionalität, Interessengebundenheit, Kurzfristigkeit, fehlende Reflexion), können aber auch bei der parlamentarischen Demokratie beobachtet werden, zum Teil sogar noch akzentuierter.

Eine grundsätzliche Einschränkung des Mehrheitsprinzips wird von zwei diametral entgegenstehenden Seiten her postuliert.

Auf der einen Seite stehen die Rechtsstaats- und Richtergläubigen, die Etatisten und die bürokratischen Zentralisten. Ihr Credo: Der soziale und international vernetzte Rechtsstaat geht vor Demokratie. Der abschliessende Entscheid über das Gemeinwohl soll nicht durch «launische Mehrheiten», sondern zunächst durch das Parlament und letztlich durch seriöse nationale oder internationale Bürokraten und gerichtliche Instanzen gefällt werden. Der soziale Rechtsstaat und das geltende Völkerrecht sollen vor der schrankenlosen direkten Demokratie geschützt werden.

Auf der anderen Seite stehen jene liberalen Wohlfahrtsstaatsskeptiker, die eine fortschreitende Aushöhlung fundamentaler Freiheitsrechte durch grenzenlos begehrliche Mehrheiten befürchten.

Was aus dieser Sicht beschränkt werden soll, ist die Allzuständigkeit der Politik zur Definition der noch zulässigen Freiräume von Individuen und privaten Zusammenschlüssen. Aus dieser Sicht besteht das vorherrschende Defizit in einer Überbewertung der sozialen Sicherheit gegenüber der individuellen Freiheit und in einem grassierenden Egoismus der gegenwärtigen Bevölkerung zulasten kommender Generationen. Volksvertreter, und in letzter Instanz Verfassungsgerichte, sollten die Lust an der gegenseitigen Bevormundung eindämmen.

11. Demokratie und Non-Zentralismus

Die Beobachtung, dass die Zentralisierung der Macht durch das Mehrheitsprinzip gefördert wird, ist zutreffend. Die These, Demokratie führe unweigerlich zu mehr Zentralismus ist berechtigt, aber zu wenig differenziert. Das Mehrheitsprinzip begünstigt tatsächlich die Zentralisierung, vermutlich gibt es aber auch noch viele andere politökonomische und politpsychologische Einflussfaktoren, die zentralisierend und harmonisierend wirken.

Bei der Beurteilung des Spannungsfeldes von Mehrheitsprinzip und Non-Zentralismus spielt die «Abstimmung mit den Füssen» eine wichtige Rolle, die sogenannte exit option, die von Albert Hirschmann analysiert worden ist. Sie spielt in der Aktionärsdemokratie die wohl entscheidende Rolle und gehört dort zur Grundlage ihres Funktionierens.

Auch die exit option, d.h. das Recht, mit den Füssen abzustimmen, muss als essenzielles «demokratisches Recht» bezeichnet werden. Die exit option, d. h. die permanent vorhandene Chance, Beteiligungen, die einem aus irgendwelchen Gründen nicht mehr zusagen, zu verkaufen, ist das wichtigste Recht des Aktionärs.

Ein oft unterschätztes, aber wichtiges demokratisches Recht ist die Kompetenz, über die Zugehörigkeit potenziell Mitbestimmender (d.h. über die Einbürgerung) abstimmen zu können. Das verkompliziert die Fragestellung zusätzlich und wäre ein eigenes Thema.

In politischen Systemen, die via Steuerprogression eine Umverteilung von reich zu arm praktizieren, führt das Mehrheitsprinzip früher oder später zu einer permanenten Überstimmung der relativ Reichen durch die relativ Armen, d. h., es findet jener Zerfallsprozess von Demokratie zur Ochlokratie (Herrschaft der unstrukturierten Masse) statt, der schon von Aristoteles beschrieben worden ist. Die unstrukturierte Masse wird nicht «immer mehr Zentralität» fordern, sondern einen nationalen Gruppenegoismus durch entsprechende Feindbilder fördern und zum politischen Hauptziel erheben.

12. Lob des Non-Zentralismus

Der Begriff Non-Zentralismus ist ungebräuchlich. Meist wird die Alternative zur Zentralisierung als Föderalismus, Dezentralismus oder auch als Subsidiarität und als Regionalismus bezeichnet. Die sprachliche Verwirrung wird dadurch verstärkt, dass diese Begriffe bei einer Übersetzung oft auch die Grundbedeutung ändern. Die in der Ideengeschichte zu Recht berühmten federalist papers waren zur Hauptsache ein Plädoyer für mehr bundesstaatliche Zentralmacht. Der Begriff Non-Zentralismus ist zwar wenig gebräuchlich, aber dafür eindeutig. Er hat allerdings den Nachteil, dass er etwas, das befürwortet wird, mit einem «Non» charakterisiert. Der gebräuchlichere Begriff De-Zentralisierung ist darum problematisch, weil er zunächst einmal ein Zentrum voraussetzt und dieses grundsätzlich auch nach dem Vorgang der Dezentralisierung bestehen lässt.

Mit der Negation «Non» (aber ohne die kämpferische Vorsilbe Anti-) soll eine offene Diskussion erleichtert werden. Die von mir verfasste Broschüre mit dem Titel «Lob des Non-Zentralismus» ist bisher auf Englisch, Russisch und teilweise auch auf Koreanisch, Georgisch und Chinesisch übersetzt worden. Bezeichnenderweise gibt es aber noch keine französische und auch keine ita- lienische Übersetzung.

Wir Schweizer haben unsere teilweise durchaus einmaligen Erfahrungen mit Non-Zentralismus und Lokalismus weltweit nicht immer aktiv genug kommuniziert. Der Basler Historiker Adolf Gasser hat zwar schon in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Gemeindefreiheit als mögliche «Rettung Europas» bezeichnet. Er ist heute weitgehend vergessen. Eine Neuauflage oder eine zusammenfassende Darstellung seines Lebenswerks wäre erwünscht.

Es gibt zwar in der Schweiz eine «intellektuelle Exportlobby» für das Gedankengut der «direkten Demokratie», die man europaweit propagieren möchte. Leider wird dabei der Stellenwert der historischen Verknüpfung mit der Gemeindeautonomie und mit einem politischen Wettbewerb der Gebietskörperschaften zu wenig beachtet. Unter den Staats- und Völkerrechtlern und Politologen dominieren auch in der Schweiz die Zentralisten. Non-Zentralisten gelten als oft konservative Dorftrottel, die den zum allseitigen, immer zentraleren Zusammenschluss ermunternden Zeitgeist nicht begriffen haben.

Die englische Sprache kennt den Begriff «localism», aber er ist leider eher nega- tiv besetzt, wie etwa (in Deutschland) «Kirchturmpolitik» oder (in der Schweiz) «Kantönligeist».

13. Schluss

Die Demokratie zerstört sich selbst, wenn es nicht gelingt, ihre Zuständigkeit zu limitieren. Eine «Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche» führt dazu, dass sich alle permanent darum kümmern müssen, das Verhalten der anderen durch allgemeinverbindliche Vorschriften zunächst zu regulieren und dann zu vereinheitlichen und zu kontrollieren. Dafür braucht es immer mächtigere und immer zentralere politische Strukturen mit Zwangsmonopol. Der Spielraum für Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Vielfalt und Spontanität wird dabei immer kleiner. «Geglückte Demokratie», wie ein neueres Buch von Edgar Wolfrum Deutschland zu nennen beliebt, erhält sich nicht dadurch, dass man in allen Bereichen «mehr Demokratie wagt». Im Gegenteil, man muss es wagen, das Mehrheitsprinzip in jene engen Schranken zu weisen, die weder die ökonomische noch die kulturelle Entwicklung einer spontanen Ordnung hemmen. Es braucht dazu das, was F. A. von Hayek in seinem Zürcher Vortrag schon vor über 30 Jahren postuliert hat: «Die Entthronung der Politik».

«Wenn die Sozialisten ehrlich glauben, dass (…) die Demokratie ein höherer Wert sei als der Sozialismus, dann müssen sie eben auf ihren Sozialismus verzichten. Denn wenn auch die heute bestehende Form der Demokratie zu Sozialismus treibt, so sind sie im Ergebnis doch unvereinbar. Politik unter diesen Bedingungen führt uns in einen Abgrund.

Es ist hohe Zeit, dass wir ihr [der Politik] die Flügel beschneiden und Vorkehrungen treffen, die den gemeinen Mann in die Lage versetzen, «Nein» zu sagen. Die schweizerische Einrichtung der Volksabstimmung hat viel dazu beigetragen, sie vor den schlimmsten Auswüchsen der sogenannten repräsentativen Demokratie zu schützen. Aber wenn die Schweizer ein freies Volk bleiben wollen, müssen wohl auch sie in der Einschränkung der Regierungsmacht noch weiter gehen als sie schon gegangen sind.»

«Eine unbeschränkte Demokratie zerstört sich notwendigerweise selbst, und die einzige Beschränkung, die mit Demokratie vereinbar ist, ist die Beschränkung aller Zwangsgewalt auf die Durchsetzung allgemeiner, für alle gleicher Regeln. Das bedeutet aber, dass alle Eingriffe in den Markt zur Korrektur der Einkommensverteilung unmöglich werden.»

Literaturhinweise

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Über den Autor

Robert Nef hat Rechtswissenschaften in Zürich und Wien studiert. Zwischen 1961 und 1991 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechtswissenschaft an der ETH Zürich. 1979 hat er das Liberale Institut gegründet, das er seit 2008 präsidiert. Von 1994 bis 2008 war er Mitherausgeber der Schweizer Monatshefte. Er ist Mitglied der Mont Pelerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft, Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur, Präsident des Vereins «Gesellschaft und Kirche wohin?» und Stiftungsrat der Stiftung «Freiheit und Verantwortung». 2008 wurde er mit der Friedrich A. von Hayek-Medaille ausgezeichnet

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