(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Donnerstag, 12. Dezember 2013, Nr. 289, Seite 23)
Der heute in Europa vorherrschende Bildungsbegriff ist politisch aufklärerisch: Bildung zur Selbstverwirklichung, Bildung als Emanzipation. Die «Kompetenzen», die dazu in Plänen und Programmen niedergeschrieben werden, sind auf gesellschaftspolitische Zielvorstellungen abgestimmt.
Bildung ist heute kein Lernprogramm für die Jugend, sondern ein lebenslänglicher Prozess der Anpassung an neue Situationen und Herausforderungen. Die Vorstellung von einer steuerfinanzierten «Lernmaschinerie», die zu einem «Abschluss» führt, der dann einen einmaligen «Übertritt ins Berufsleben» ermöglicht, ist überholt.
Deshalb ist auch die strikte Trennung von Lehren und Lernen durch eine arbeitsteilige, professionalisierte Spezialisierung neu zu überdenken. Wer lebenslänglich lernt, muss auch lebenslänglich bereit sein, seine Erfahrungen und sein Wissen weiterzugeben. Dies bleibt nicht ohne grundlegende Folgen für das herkömmliche Bildungssystem. Der sogenannte «zweite Bildungsweg» mit einer frühen Konfrontation der Lernenden mit der Berufswelt, die das Lehren als Funktion nicht einfach tel quel dem Staat delegieren kann, sollte kein Auslaufmodell sein, sondern als Gegenmodell zu jener Verschulung und Akademisierung propagiert werden, die sich zunehmend von den Realitäten des Arbeitsmarktes abkoppelt und damit das Problem der Jugendarbeitslosigkeit verschärft oder gar verursacht.
Drei bildungspolitische Ansätze
Selbstverständlich wird es auch in Zukunft Institutionen geben, die als «Schule» und als «Hochschule» im herkömmlichen Sinn funktionieren und vor allem jugendliche Absolventen haben, die von professionell ausgebildeten Lehrpersonen ausgebildet werden, die sich hauptberuflich der Menschenbildung widmen. Die lebensbegleitende und letztlich auch selbstbestimmte und -finanzierte Verknüpfung von Lernzeit, Arbeitszeit, Lehrzeit, Familienleben und Musse verlangt aber in Zukunft viel flexiblere und lernfähigere Bildungsangebote. Auch das lebenslange Lehren ohne permanenten Bezug zur Berufs- und Arbeitswelt ist nicht der pädagogischen Weisheit letzter Schluss.
Für den deutschen Begriff Bildung gibt es in andern Sprachen kaum adäquate Übersetzungen. Englisch «education» ist «Erziehung», und «formation», das vom Ausdruck her eigentlich nahe bei «Bildung» liegt, ist praxisbezogene Ausbildung, also gerade das, wovon man sich mit dem kulturell aufgeladenen Begriff Bildung auf Deutsch abgrenzen möchte.
Es lassen sich drei unterschiedliche bildungspolitische Ansätze unterscheiden: der liberale, der konservative und der emanzipatorische.
Aus liberaler Sicht beruht Bildung auf einer geglückten Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden. Sie entsteht in einem freien Tauschprozess, Tausch im weitesten, auch nichtmateriellen Sinn des einvernehmlichen Gebens und Nehmens. Geben ist bekanntlich seliger als Nehmen, aber um geben zu können, muss man zunächst erwerben und haben. Das Geben auf Kosten Dritter ist vor allem in der Politik beliebt, es widerspricht aber dem Tauschprinzip und taugt daher nicht als Kommunikationsbasis unter grundsätzlich Gleichberechtigten. Bildung ist also das Resultat geglückter Kommunikation. Diese kurze und unmittelbar einleuchtende Umschreibung findet sich weder in der Fachliteratur noch in bildungspolitischen Programmen, obwohl der Gedanke als solcher bestimmt nicht neu ist.
Aus konservativer Sicht besteht die Bildung aus einer Vermittlung von traditionellen Werten, die fortlaufend auf neue Herausforderungen abgestimmt werden: Bildung durch soziokulturelle Tradition, verbunden mit massvoller Innovation.
Keine zentrale Organisation
Der heute vor allem in Europa vorherrschende Bildungsbegriff ist politisch aufklärerisch, im parteipolitischen Koordinatennetz «Mitte-links»: Bildung als Voraussetzung von Selbstverwirklichung, Bildung als Emanzipation und als Befähigung zu einer auf die Vernunft abgestützten politischen und wirtschaftlichen Mitbestimmung. Dahinter steckt die Vorstellung, dass es der Sozialwissenschaft in Zukunft gelingen werde, die Grundbedürfnisse der Menschen wissenschaftlich empirisch zu ermitteln. Aus diesem wissenschaftlichen Sein, so hofft man, lasse sich ein bildungspolitisches Sollen ableiten, das dann in Plänen und Programmen als «Kompetenzen» festgeschrieben und allgemein vorgeschrieben werden könne.
Diese sollen nicht primär auf die jeweiligen wirtschaftlichen Arbeitsmarktbedürfnisse, sondern auf gesellschaftspolitische Zielvorstellungen abgestimmt sein. Die wirtschaftliche Realität hat sich dann in erster Linie den Zielen und Plänen der Bildungspolitik anzupassen und nicht umgekehrt. So lautet das ambitiöse Programm einer öffentlich organisierten und finanzierten Bildungsvermittlung, die sich auf den Primat der Politik abstützt.
Diese drei hier vereinfacht einander gegenübergestellten Bildungskonzeptionen sind glücklicherweise, wenigstens zum Teil, auch kombinierbar. Die liberale Auffassung von einem offenen Ideenmarkt bildungspolitischer Optionen lädt die konservativ-evolutionär Überzeugten und die emanzipatorisch Ausgerichteten ausdrücklich ein, sich am fundamentalen Austausch zu beteiligen und ihre Angebote auf einem offenen, nicht vom staatlichen Zwang zur Vereinheitlichung und Zentralisierung beherrschten Bildungsmarkt zu offerieren. Der Wettbewerb der Ideen und Konzepte und eine Vielfalt von öffentlichen und privaten Bildungsangeboten sind für ein erfolgreiches Bildungswesen entscheidend.
Bildung ist, wie übrigens auch Politik, ein Experiment des Menschen mit dem Menschen, dessen Ausgang nach freiheitlicher Auffassung nicht prognostiziert werden kann und darum auch nicht allgemeinverbindlich und zentral organisiert werden soll. Wer Bildung vermittelt, muss selbst bereit sein, permanent zu lernen, und das Wagnis eingehen, bleibende Werthaltungen an immer wieder neue Herausforderungen anzupassen.
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Robert Nef ist Stiftungsratspräsident des Liberalen Instituts und der STAB-Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur.