Die Familie ist ein Laboratorium, in dem mit Formen des Zusammenlebens und Kommunizierens experimentiert werden kann. Sie ist die Schule des Lebensunternehmertums, die Brutstätte der kreativen Dissidenz, der Rahmen für die Zähmung von Auswüchsen, sowie die Kleinbühne des Generationen- und Geschlechterkonflikts und der Kombination von Rivalität und Solidarität unter Geschwistern. Es ist kein Zufall, dass das alte Wort «freien», d.h. eine Partnerschaft eingehen und eine Familie gründen, denselben Wortstamm hat wie die Freiheit.
Die Familie wird oft etwas pathetisch als «Urzelle» der Gemeinschaft bezeichnet. Sie gilt allgemein als etwas Gutes, Erstrebenswertes und Schutzwürdiges, obwohl sie seit je auch ein Ort schwerster Konflikte gewesen ist. Weil Familien etwas so Notwendiges und Positives seien, wird meist etwas voreilig der Schluss gezogen, man müsse sie staatlich nicht nur schützen, sondern auch aktiv fördern. Was gefördert wird, wird aber von der fördernden Institution zunehmend abhängig. Man macht die zweifellos existierende Ausnahme der materiellen Unterstützungsbedürftigkeit zur Regel. Staatlich fördern heisst vom Staat abhängig machen. Die Eigenständigkeit wird dabei «kaputtgefördert». Wer die Familie «im Griff» hat, kann auch die Gesellschaft schrittweise indoktrinieren und beherrschen. Eine klare Abgrenzung zwischen Staat und Familie und andern Formen des Zusammenlebens ermöglicht die für eine gedeihliche Entwicklung notwendige Vielfalt und bietet für alle Beteiligten mehr Vorteile als Nachteile.
Persönliche Freiheit, Konsensehe, Familie, Privateigentum, Erbrecht, Niederlassungsfreiheit, Handels- und Gewerbefreiheit und nicht zuletzt auch Meinungsäusserungsfreiheit sind als Bausteine der Privatautonomie nicht vom Staat verliehen worden. Sie haben sich mit dem Staat, neben dem Staat und gegen den Staat schrittweise entwickelt, und sie sind von den Betroffenen und Beteiligten zunächst den Stammesfürsten und dann den tendenziell freiheitsfeindlichen religiösen und politischen Obrigkeiten abgerungen worden. Diese Elemente der Freiheit sind als liberale Errungenschaften durch das Tauschprinzip, durch die Markt- und Geldwirtschaft und einer aufgrund der technologischen Entwicklung (vom gedruckten Buch bis zum Internet und Mobiltelefon) immer weniger kontrollierbaren Kommunikation entstanden. Die offene interfamiliäre und interkulturelle Kommunikation hat den Abbau von Vorurteilen und Tabus gefördert, weil Menschen, die tauschen und einvernehmlich ihre Arbeit teilen, auch darauf angewiesen sind, rational miteinander zu kommunizieren. Offene Märkte und politisch schwer kontrollierbare Telekommunikation sind die Promotoren der Freiheit.
Politische Institutionen legitimieren meist nachträglich, was sich wegen spontaner Entwicklungsprozesse mit tragbarem Aufwand nicht mehr verbieten lässt. Aufklärung im Sinne der schrittweisen Überwindung von Aberglauben und Vorurteilen wird durch den herrschaftsfreien Tausch von Gütern und Dienstleistungen vorangetrieben. Offene Märkte unter vielfältigen Kulturbereichen und ungehinderte Kommunikationsmöglichkeiten garantieren zwar als solche noch keine liberale Zivilgesellschaft, aber sie schaffen gute Voraussetzungen dafür.
Meine eigene liberale Vorliebe für ein spontanes, eigenständiges und möglichst staatsunabhängiges Zusammenleben hängt mit der «Philosophie des Nonzentralismus» zusammen. Zentralisierung vermindert die Vielfalt möglicher Lernexperimente. Gelernt wird individuell und gemeinschaftlich durch das Vergleichen, durch die Vermeidung des erfahrungsgemäss Erfolglosen und Schädlichen und durch das Kopieren des Nützlichen. Das ist auf die Dauer weniger riskant als alle politische Harmonisierung, Zentralisierung, Vereinheitlichung, Verbindlicherklärung und Förderung des jeweils vorherrschenden ideologischen oder «wissenschaftlich erhärteten» sozialwissenschaftlichen Irrtums.
Jede Familie macht wieder andere Fehlerkombinationen und begeht eigene alte und neue Irrtümer. So bleibt der Lernprozess durch Wettbewerb um die erfolgreichsten Familienstrategien bzw. Familienfluchtstrategien stets offen. Private Vielfalt tritt an die Stelle von staatlich geförderter Einfalt. Das ist eine grosse Chance für die Entwicklungs- und Lernfähigkeit einer letztlich doch auf Familien basierenden Gemeinschaft.
Familie und individuelle Freiheit stehen in einem Spannungsverhältnis. und oft wird das Familienleben als Eingriff in ein eigenständiges Privatleben empfunden. Dennoch stehen frei gewählte und persönlich gestaltete Abhängigkeiten nicht im Widerspruch zur Freiheitsidee. Der Mensch ist als soziales Wesen nie völlig unabhängig. Entscheidend ist die persönlich verantwortete Wahl der eingegangenen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten. Die Übernahme der Verantwortung für die jeweiligen Folgen ist damit notwendigerweise verknüpft. Sie bringt stets eine selbst bestimmte Mischung von Freiheit und Bindung mit sich.
Erschienen in St. Galler Tagblatt vom 21. April 2012, Seite 2