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Der sogenannte Alleingang

Lesedauer: 4 Minuten

(Schweizer Monatshefte – Heft 4, 1992 – Seite 262-264)

Der sogenannte Alleingang sollte nicht mehr so genannt werden. Es ist wohl kaum mehr zu eruieren, wie und wann diese unsinnige Bezeichnung Eingang gefunden hat ins offizielle Vokabular der schweizerischen Europapolitik, und es wird ebenso schwer sein, den Begriff wieder zu eliminieren, der sich über jegliche historische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Realität hinwegsetzt. Die Schweiz ist vielfältig vernetzt, und sie war es schon, bevor «Vernetzung» zum Modewort wurde. Wer also den Ausdruck «Alleingang» verwendet und unterstellt, es handle sich um den «Status quo», ist entweder historisch blind oder er betreibt subtile Polemik; denn tatsächlich wäre ein Alleingang im Sinne der Autarkie – und der auch nur teilweisen Abkoppelung – mit radikalsten, revolutionärsten und auch schmerzhaftesten Umstellungen verbunden, die ausserhalb jeder historischen Kontinuität liegen. Nicht einmal die Extremsituation der militärisch-politischen und ideologischen Isolierung im Zweiten Weltkrieg kann mit dem Begriff «Alleingang» zutreffend charakterisiert werden, denn der «Igel Schweiz» musste sich auf der Nahrungssuche immer wieder entrollen, und er hätte ohne selektives und subtiles Kommunizieren und Taktieren nicht überlebt. Ein konsequent zu Ende gedachtes Szenario «Alleingang» wäre also nur aufgrund einer schrittweisen Abkoppelungs- und Entnetzungsstrategie zu erreichen, so wie sie etwa in den siebziger Jahren aus radikal grüner Sicht für gewisse Drittweltländer gefordert worden ist. Inzwischen sind aber unter dem Eindruck von Erfahrungen und von gegenläufigen Trends diese Modelle selbst von ihren konsequentesten Verfechtern relativiert worden. Im «Raumschiff Erde» wird ein Alleingänger schnell einmal zum Irr- oder Amokläufer.

Immerhin – wer die ganze internationale Vernetzung der technischen Zivilisation als Irrweg betrachtet, befürwortet – aus seiner Sicht – zu Recht den Ausstieg und optiert für einen Alleingang in der Hoffnung, dass der Alleingänger als Pionier gerade nicht allein bleiben möge. Der Begriff eignet sich also auch für diese Option schlecht. Wenn sich demgegenüber konservative Anhänger einer neutralen und unabhängigen Schweiz als Befürworter des Alleingangs bezeichnen, so kann dies nur auf einem einseitigen oder allseitigen Missverständnis beruhen. Wer – aus welchen Gründen auch immer – eine Skepsis hegt gegenüber einem Beitritt der Schweiz zur EG oder zum EWR, sollte sich jedenfalls beharrlich dagegen wehren, mit dem undifferenzierten und polemischen Stempel des «Alleingängers» versehen zu werden. In dieselbe Richtung zielt eine Warnung vor der grob vereinfachenden Interpretation von Umfrage- und Abstimmungsergebnissen: Nicht jedes Nein zum EWR- bzw. zum EG-Beitritt ist ein Bekenntnis zum konservativen Nationalegoismus und zur protektionistischen Xenophobie.

Die Fragestellung des Bundesrates, die im «Gutachten Hauser»1 zu beantworten war, betrifft zwar noch ganz lapidar «die wirtschaftspolitischen Konsequenzen der drei europapolitischen Alternativen EWR-Vertrag, EG-Beitritt und Alleingang» (Gibt es das – drei Alternativen, müsste man nicht von Varianten reden?) In der Antwort ist dann differenzierend von Szenarien die Rede, «Status quo». «EWR-Vertrag» und «EG-Beitritt». Übervorsichtig heisst es: «Das Szenario Status quo kann somit nicht automatisch mit dem Alleingang gleichgesetzt werden.» Das Gutachten trägt implizit der Tatsache Rechnung, dass auch der Status quo das Resultat einer Entwicklung darstellt, und dass dessen Fixierung auf eine Fortdauer eines gegenwärtigen Zustands mit grossem Aufwand verbunden wäre und wenig wahrscheinlich ist. Auch die Bezeichnung «Status quo» ist – losgelöst von ihrer fragwürdigen Verknüpfung mit dem Begriff «Alleingang» – missverständlich. So oder so bereitet eine neutrale oder gar positive Umschreibung der Nicht-Beitritts-Varianten Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten werden noch verstärkt durch die Tatsache, dass ein Beitritt zu einer Gemeinschaft oder das Eingehen von bilateralen und multilateralen Verpflichtungen eben nicht bekannte Zustände koordiniert und aufeinander wirken lässt, sondern Entwicklungsprozesse mit Entwicklungsprozessen verknüpft, deren möglicher unabhängiger Fortgang ebenso ungewiss ist, wie der Verlauf nach einer Verbindung. Die Schweiz ist – wie auch die EG – kein Zustand, sondern ein Entwicklungspotential mit offenem Ausgang…

Jede Entwicklung kann als Folge von Austauschprozessen gedeutet werden. Jean Piaget hat die Entwicklung des individuellen Organismus als einen Prozess der Anpassung folgendermassen beschrieben: «Generell wird die Umwelt beständig der Struktur des Organismus assimiliert, während letzterer sich gleichzeitig der Umweltakkommodiert. Mithin kann die Anpassung (Adaptation) als Gleichgewicht zwischen derartigen Austauschbeziehungen umschrieben werden.2»

Bei aller gebührenden Vorsicht, welche im Zusammenhang mit Vergleichen zwischen Organismen. Individuen und Staaten angebracht ist. kann eine solche Gegenüberstellung doch komplexe Zusammenhänge veranschaulichen. Die Schweiz als zeitlich und räumlich ver- netztes Resultat einer Entwicklung hat weder in Europa noch in der Welt als Alleingängerin überlebt, sondern in der Dialektik von Anpassung und Widerstand. Wir konnten unser Umfeld immer wieder in der Weise assimilieren, dass die eigenen Bedürfnisse respektiert bzw. wenigstens geduldet wurden. Diese Assimilierung hatte und hat aber auch ihren Preis: jene minimale Akkommodation, welche in der Bereitschaft besteht, auf Eigenheiten zugunsten eines Umfeldes zu verzichten, wenn dies notwendig ist.

Bei der Diskussion um eine EG-Beitritt der Schweiz wird es also darum gehen, die zukunftsträchtigste Variante zu finden, welche eine optimale Mischung von Mitbestimmung und Selbstbestimmung, von Anpassung und Widerstand, von Assimilation und Akkommodation mit sich bringt. Diese Diskussion soll auch in den «Schweizer Monatsheften» offen und kontrovers fortgesetzt werden. Dabei wird man auf modellhafte Vereinfachungen und vor allem auch auf optimistische und pessimistische Annahmen über künftige Entwicklungen nicht verzichten können. Irreführende Bezeichnungen sollten aber nicht zusätzliche Verwirrung stiften. Insbesondere sollte folgendes nicht ausser acht gelassen werden: Die EG ist nicht
Europa, und Europa-Offenheit ist nicht gleichbedeutend mit Weltoffenheit. Es gibt also unter den EG-Beitrittsskeptikern nicht nur konservative Isolationisten und Autonomisten. sondern auch liberal-marktwirtschaftliche Universalisten. Auch die Beitrittsoptionen sind nicht nur vom Mut und vom Geist der Offenheit geprägt, sondern unter Umständen auch von Kleinmut und vom Opportunismus in der Anpassung.

1 Hauser. Heinz/Bradke. Sven: EWR-Vertrag, EG-Beitritt, Alleingang, Wirtschaftliche Konsequenzen für die Schweiz. Gutachten zu Händen des Bundesrates, Ruegger, Chur/Zürich 1991, Kurzfassung, Bundesamt für Konjunkturfragen, Bern 1991. – 2 Piaget, Jean: Probleme der Entwicklungspsychologie, Kleine Schriften, Syndikat, Frankfurt a.M. 1984, S. 137.

«Die Offenheit des Erkenntnisprozesses ist an die uneingeschränkte und permanente Rückkoppelung von Theorie und Experiment gebunden. Sie beschränkt sich nicht nur auf die Naturwissenschaft, sondern umfasst auch den experimentellen Umgang mit unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Organisationsformen und gesellschaftlichen Institutionen. Es ist diese dem Erkenntnisprozess kongruenle Offenheit des gesellschaftlichen Systems, die im Westen den Menschen weitgehend von Produktionszwängen befreit, ihm mehr soziale Sicherheit und einen Lebensstandard gebracht hat, der in keinem anderen Gesellschaftssystem bisher erreicht worden ist. Diese Offenheit scheint eine der menschlichen Natur adäquate Existenzbedingung zu sein. Sie ist die Grundlage der westlichen Kultur.»

Bruno Fritsch. Das Prinzip Offenheit. München 1985. S. 150

Schweizer Monatshefte – Heft 4, 1992 – Seite 262-264

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