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Geschichte – jene Wechselwirkung von oben

Lesedauer: 4 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 6, 1992 – Seite 523-525)

DAS BUCH

Der Zürcher Historiker Peter Stadler hat neben seinen wichtigen Monographien «Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich» (1958). «Karl Marx» (1966), «Der Kulturkampf in der Schweiz» (1984) und «Pestalozzi» (1988) zahlreiche Aufsätze zur europäischen Geschichte publiziert, hauptsächlich in der «Neuen Zürcher Zeitung». Aufsätze sind oft Vorstufen zu grösseren Werken, manchmal auch Nebenprodukte, deren Wert vor allem der interessierte Laie schätzt. Was in Forschung und Lehre «nebenbei gefunden und formuliert wird» und als «Versuch» gilt, hat oft eine wichtige Funktion. Die Herausgabe von Sammelbänden, welche solche Versuche dem Leser wieder zugänglich macht, befriedigt daher nicht einfach den Sammlertrieb und die biographischen Dokumentationswünsche der Autoren, sondern dient gerade jener Leserschaft, die sich mit Entdeckerfreude einer vielfältigen Lektüre widmet, ohne jene Fachkenntnisse mitzubrin¬ gen, welche auch grössere Wälzer geniessbar macht.

Der hier besprochene Sammelband1 vereinigt 40 Aufsätze, die Peter Stadler in den letzten 30 Jahren publiziert hat. Im Vorwort, das eine bemerkenswerte «kleine Geschichtstheorie» skizziert, wird auch der Buchtitel erklärt. «Geschichte somit als ständige Wechselwirkung von Mächten. Mächtigen und Ideologien? Und die Armut? Bildet sie nicht eine stille, doch permanente, über- wie unterhistorische Dominante alles Geschehens, weit wichtiger als jene Wechselwirkung von oben, die Geschichte heisst?» (S. 8).

Stadler bezweifelt die massgebliche Bedeutung der «Geschichte von unten», und er tut dies nicht triumphierend, sondern angesichts der Tatsachen resignierend. Auch in diesem Zusammenhang darf das. was wahr ist. nicht mit dem Wünschenswerten verwechselt werden. Selbst heute nimmt der geschichtlich Interessierte «im Grunde lieber Anteil an den Mächtigen als an den Armen», denn das Publikum setzt sich aus Menschen zusammen, die grossenteils «selber so ganz und gar nicht mächtig sind» (S. 9). Die wissenschaftliche Erkenntnis wird sich nie ganz vom Interesse lösen, und auch Historiker können ihre «Einschaltquoten» nicht völlig ignorieren, genau so wenig wie Zeitschriften ihre Abonnentenzahl…

Mit seinen «Reminiszenzen zum Geschichtsstudium um die Jahrhundertmitte» will der Autor nicht das Interesse auf seine eigene Person lenken, im Gegenteil – er stellt sich damit selber in einen zeitgeschichtlichen und soziologischen Zusammenhang, wird selbst zur Quelle und schafft Voraussetzungen, um seine Texte gegenwartsbezogen und auch psychologisch und soziologisch zu deuten, einzuordnen und zu relativieren.

Fast die Hälfte des Sammelbandes befasst sich mit «Variationen zum Thema Schweiz, Zürich und Europa». Dabei geht es nicht darum, «einen geschichtlichen Sonderfall Schweiz herauszuheben», sondern «bestimmte Abweichungen von den Verlaufsformen im Reiche sichbar (zu) machen, ebenso Impulse, die auf Deutschland weitergewirkt haben» (S. 51). Diese vorsichtige Ausdrucksweise prägt sämtliche Beiträge. Mythen werden sorgfältig und kritisch analysiert – auch der Mythos von der Mythenzertrümmerung. Wer sich vom aktuellen Stichwort «Alleingang» herausfordern lässt. findet zahlreiche Belege dafür, aber auch die intensive Vernetzung mit dem jeweiligen Umfeld wird nicht heruntergespielt.

Besonders aktuell ist der Beitrag über das «Geschichtsbild» der Schweiz von Österreich. Am Beispiel der Aussenpolitik wird gezeigt, «dass Kleinstaat nicht einfach gleich Kleinstaat ist, dass jeder Staat auch von seiner Vergangenheit be¬ stimmt ist». Gerade in der Diskussion um die Beibehaltung oder Aufgabe der schweizerischen Neutralität vermisst man heute gelegentlich das Denken in jenen historischen Zusammenhängen, auf die Stadler in vielfältigster Weise immer wieder aufmerksam macht.

Einen weitern Schwerpunkt des Sammelbandes bilden historische Porträts aus Frankreich, unter anderen von Mazarin, Benjamin Constant, Michelet und Adolphe Thiers – eher feine Zeichnungen als Ölgemälde. Zeichnungen, die auch geprägt sind von den Vorlieben des Porträtisten. Benjamin Constant wird übrigens mit seinem «deutschen Kopf und französischen Herz» zutreffend nicht als «grosser Schweizer» gewürdigt, sondern im Rahmen des Kapitels «Schwerpunkt Frankreich». Sein vergeblicher Versuch. «Napoleon zu liberalisieren» (S.224), könnte angesichts populistischer Staatschefs auch heute durchaus aktuell werden. Im Beitrag über «Karl Marx und die Geschichte» finden wir jene subtile Mischung von Anerkennung und Kritik, die auch Stadlers grosse Marx-Monographie kennzeichnet und auszeichnet. Mit guten Gründen wird der Einfluss von Marx auf die Geschichtsschreibung mit dem Einfluss von Max Weber verglichen – und letzterem – vor allem für die Bundesrepublik – Priorität eingeräumt. Marx hatte im Gegensatz zu Weber kein Sensorium für den Staat, und auch das Verständnis für die Religion ging ihm letztlich ab. So blieb er denn für zwei der drei geschichtsbestimmenden «Potenzen» (im Sinne Jacob Burckhardts nahezu blind, was historisch und politisch einschneidende Folgen hatte.

Die Kontroverse um die deutsche Frage hat die schweizerische Geschichtsschreibung nach 1945 geprägt. Das Verhältnis zum grossen und wirtschaftlich expansiven nördlichen Nachbarn ist auch heute nicht frei von Spannungen. Die Mischung von Bewunderung. Neid und Kritik, von Vertrauen und Angst, von Zuneigung und Ablehnung ist im Zusammenhang mit der europäischen Integration mehr unterschwellig als manifest wirksam. Stadler verweist mit Nachdruck auf Werner Näf, den in Bern wirkenden St. Galler Historiker, dessen Studie «Die Eidgenossenschaft und das Reich» («Schweizer Rundschau», Oktober 1940) trotz seiner Zeitgebundenheit höchst lesenswert ist.

Eine gehaltvolle Miniatur befasst sich mit dem Verhältnis von Erzählung und Geschichtsschreibung im letzten Jahrhundert und entwickelt auf knapp drei Seiten eine allgemeinverständliche und einleuchtende Theorie dazu. Die einzige Rezension im Sammelband befasst sich mit der siebenbändigen Jacob-Burckhardt-Biographie von Werner Kaegi. In Anknüpfung an Burckhardt wäre denn auch auf die im Vorwort von Stadler erwähnten Zusammenhänge von «Ökokrise» und dem «Primat des Ökonomischen» kritisch einzugehen. Die Ökokrise ist nicht die Folge eines «Zuviel» an Ökonomie und auch nicht das Resultat ihres Primats. Der Haushalt des Menschen kann mit dem Haushalt der Natur nur dann nachhaltig zusammenwirken. wenn die Wirtschaft, d. h. Produktion. Handel und Konsum. Bestandteile der Kultur sind – eine der drei geschichtsbildenden «Potenzen» neben «Staat» und «Kirche». «Cultura» im umfassenden Sinn von «Pflege» steckt auch im Begriff «Agri-Kultur» und verweist auf die Bedeutung der Nachhaltigkeit. Ein Primat der Ökonomie als eigentliche Grundlage jedes Haushaltens braucht also keineswegs in die «Zerstörung unserer Lebensverhältnisse» (S. 10) umzuschlagen, im Gegenteil, eine intelligente, langfristig ausgerichtete Ökonomie ist das hoffnungsträchtigste Überlebensprinzip.

Der zum Weiterlesen und Weiterdenken anregende und wertvolle Sammelband dokumentiert eindrücklich, welch wichtigen Beitrag zum kulturellen Leben jene Zeitungen und Zeitschriften wahrnehmen, welche Raum bieten für anspruchsvollere wissenschaftliche Beiträge, die sich auch an allgemein interessierte Nicht-Spezialisten wenden. Bücher und Aufsätze von Spezialisten für Spezialisten gibt es mehr als genug

Robert Nef

1 Peter Stadler: Zwischen Mächten. Mächtigen und Ideologien. Aufsätze zur europäischen Geschichte. Zürich 1990. Verlag «Neue Zürcher Zeitung».

Schweizer Monatshefte – Heft 6, 1992 – Seite 523-525

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