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Unbegrenzte Demokratie mündet in Knechtschaft

Lesedauer: 5 Minuten

(NZZ – Meinung & Debatte – Freitag, 29. Oktober 2021, Seite 17)

Mehrheiten tendieren dazu, durch staatliche Umverteilung auf Kosten produktiver Minderheiten leben zu wollen. In der Mehrheitsdemokratie braucht es deshalb politisch unantastbare Freiheitsrechte. Gastkommentar von Robert Nef

Ist das Mehrheitsprinzip als Verfahren kollektiver Entscheidungsfindung mit der Idee der Freiheit dauerhaft vereinbar? Wer die gegenwärtige sozialstaatliche Realität aus strikt liberaler Optik beobachtet, zweifelt schnell einmal an der Vereinbarkeit.

Aber es gehört zu vielen Prinzipien, dass sie nicht restlos vereinbar sind und bei der Anwendung zur Abwägung zwingen. Wenn beispielsweise eine Mehrheit von Nettoempfängern eine Minderheit von Nettozahlern dauernd überstimmen kann, bewirkt dies einen Eingriff in deren Freiheit und Eigentum. Wer dies vermeiden will, muss bereit sein, dem Mehrheitsprinzip jene Schranken zu setzen, die verhindern, dass das Freiheitsprinzip ausgehebelt wird.

Teufelskreis des Interventionismus

Auf den ersten Blick ist es unmöglich, das Mehrheitsprinzip mit einer dauerhaften Freiheitsgarantie für alle zu verknüpfen. Jede unbegrenzte Demokratie tendiert nämlich zur zwangsweise umverteilenden Sozial-Demokratie und zu einer zunehmenden Politisierung, Etatisierung und Zentralisierung aller Lebensbereiche. Wer die Freiheit vor einer fortschreitenden Verstaatlichung oder gar vor ihrer Abschaffung schützen will, muss bereit sein, das Prinzip der Demokratie einzugrenzen, ohne es abzuschaffen.

Im 19. Jahrhundert gab es in der Schweiz eine hitzige Debatte zwischen Liberalen und Demokraten, an der sich auch Jeremias Gotthelf, auf der liberalen, und Gottfried Keller, auf der demokratischen Seite, beteiligten. Der hellsichtige Basler Historiker Jacob Burckhardt gehörte ebenfalls zu den Kritikern der Massendemokratie. Jene Liberalen, die schon im 19. Jahrhundert vor der freiheitsbeschränkenden Tendenz des Mehrheitsprinzips warnten, haben nun im Rückblick aus dem 21. Jahrhundert leider in erschreckendem Ausmass recht bekommen. Das Mehrheitsprinzip ist nur freiheitsverträglich, wenn es einerseits institutionell durch politisch unantastbare Freiheitsrechte abgeschirmt wird und anderseits in kleinen politischen Gemeinschaften praktiziert wird, die in einem Steuer- und Dienstleistungswettbewerb stehen und bei denen die politische Mitbestimmung durch die stets offenstehende Exit-Option ergänzt wird. Unbegrenzte Demokratie ist ein Weg zur Knechtschaft im totalen Umverteilungs- und Bevormundungsstaat.

Eine Kombination von Liberalismus und Demokratie ist nur möglich, wenn Mehrheiten zuverlässig und auf die Dauer dafür zu gewinnen sind, eine Ordnung aufrechtzuerhalten, welche Leben, Eigentum und Freiheit wirksam schützt und den Wettbewerb um die individuell zusagenden Lebensformen und Lebensinhalte für alle offenhält. Andernfalls werden sich Mehrheiten früher oder später zusammentun, um auf Kosten der kreativeren und produktiveren Minderheiten mehr Sicherheit zu haben, indem sie die Freiheit aller immer mehr einschränken.

Das wäre weiter nicht verheerend, wenn diese Einschränkung wenigstens limitierbar wäre und nicht in einen Teufelskreis von zusätzlichen Einschränkungen münden würde, mit denen man die Mängel, die bei den Folgen der Einschränkungen auftreten, durch weitere kollektive Einschränkungen zu beseitigen hofft.

Der hier geschilderte Teufelskreis des Interventionismus führt zum sogenannten Gesetz der wachsenden Staatsaufgaben und Staatsausgaben, das von Adolph Wagner 1863 formuliert worden ist. Es wird noch verstärkt durch die von C. Northcote Parkinson beschriebene Tendenz zur Bürokratisierung, die ihrerseits eine anscheinend unaufhaltsam fortschreitende Tendenz zur Zentralisierung mitbedingt.

Wer die Freiheit vor ihrer Abschaffung schützen will, muss bereit sein, das Prinzip der Demokratie einzugrenzen, ohne es abzuschaffen.

Mehrheiten tendieren dazu, durch staatliche Umverteilung auf Kosten produktiver Minderheiten leben zu wollen und dies auf der Basis des Mehrheitsprinzips durchzusetzen. Die zwangsweise erfolgende Umverteilung frisst, wie die Revolution und wie Saturn, der Gott der Zeit, buchstäblich die eigenen Kinder, oder sie verhindert – in einer moderneren Variante – bereits deren Entstehung.

Dies hat zur Folge, dass die Produktivität sinkt, weil Umverteilung weniger produktiv ist als die Investition in den technologischen und ökonomischen Fortschritt, die stets auch auf Risikokapital beruht. Die massiv steigenden Staatsausgaben konnten bisher dank der ebenfalls steigenden Produktivität einer technisch und elektronisch vernetzten Wirtschaft und dank Verschuldung durch Spekulation auf ein stetiges Wirtschaftswachstum und wohl teilweise auch durch ökologischen Raubbau weitgehend verstaatlichter Ressourcen finanziert bzw. vorfinanziert werden.

Fehlgesteuerte Umverteilungswirtschaft

Gegenüber der Nachhaltigkeit dieser politisch fehlgesteuerten Umverteilungswirtschaft gibt es aber begründete Zweifel. Bei sinkender Produktivität sinkt auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit, was sich auf nationaler Ebene seinerseits durch einen allgemeinen Rückgang des Wohlstandes bemerkbar machen könnte.

Dass Mehrheiten dann bereit sind, einen Rückzug aus politischen Fehlstrukturen und eine Rückkehr zur ökonomischen Vernunft rechtzeitig zu beschliessen, muss aufgrund der bisherigen Erfahrungen bezweifelt werden.

Verzichtbereitschaft wird auf allen Ebenen durch Ökonomie besser gesteuert als durch mehrheitsgestützte Politik. Wer an die Zukunft denkt, wird daher in erster Linie weniger Staatsinterventionen, weniger Staatsapparat, weniger Staatsaufgaben und Staatsausgaben und weniger Staatsverschuldung anstreben. Das ist in der Regel zunächst nicht mehrheitsfähig, aber es ist erfolgreich und hat gewisse Chancen, sich mittel- und langfristig wenigstens in einem politischen Standortwettbewerb durchzusetzen, wenn dieser nicht durch Zentralisierung verunmöglicht wird.

Der Antizentralismus und der Antidemokratismus der liberalen Zweifler am Mehrheitsprinzip sind keine Relikte aus dem 19. Jahrhundert, sie sind auch ein Rezept für den Ausstieg aus den etatistischen linken und rechten Kollektivismen des 20. Jahrhunderts, deren üble Folgen noch nicht bewältigt sind.

Freiheit hat auf lange Sicht Zukunft. Menschen wollen sich letztlich nicht in kollektivierte Ameisen verwandeln lassen. Aber jene Menschen, die Freiheit anstreben, sind oft eine Minderheit und bilden eine Vorhut, welche sich gegen wechselnde Koalitionen von freiheitsfeindlichen Mehrheiten im Interesse aller beharrlich durchsetzen muss.

Robert Nef ist Publizist; er war Mitbegründer des Liberalen Instituts und ist heute Mitglied des Stiftungsrates.

NZZ 29. Oktober 2021, Seite 17

Gerne will ich hier auf einen Leserbrief antworten, der mich zu meinem Artikel erreichte:

Leserbrief

NZZ vom 29.Oktober 2021 / Unbegrenzte Demokratie mündet in Knechtschaft (Gastkommentar von Robert Nef)

Fehlgelenkter Liberalismus

„Mehrheiten tendieren dazu, durch staatliche Umverteilung auf Kosten produktiver Minderheiten leben zu wollen.“ – Dieser Satz im Gastkommentar *Unbegrenzte Demokratie mündet in Knechtschaft“ von Robert Nef in der NZZ vom 29. Oktober ist an Ungeheuerlichkeit kaum zu überbieten. Nicht nur ist er Ausdruck einer Geringschätzung der weniger wohlhabenden Mehrheit in diesem Land, er entbehrt auch jeglicher realen Grundlage und beschränkt sich darauf, die „üblen Folgen“ einer „fehlgesteuerten Umverteilungswirtschaft“ im 20. Jahrhundert anzuprangern und fordert deren Rückgängigmachung. Ich erinnere das Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts an die wohl prominenteste „Umverteilungsvorlage“ des letzten Jahrhunderts, die Schaffung der AHV, die wohl nicht einmal vom liberalen Institut abgeschafft sein möchte, und ich erwähne die Tatsache, dass eben diese Mehrheiten sehr zurückhaltend votieren und beispielsweise die fünfte Ferienwoche oder die 1:12-Initiative bachab schickten. Im Weiteren plädiere ich dafür, nicht von Umverteilung zu sprechen, sondern von Rückverteilung, würde sich doch unser Wohlstand ohne den unermüdlichen Arbeitseinsatz eben dieser Mehrheiten innert Kürze in Luft auflösen.

Meinerseits wünsche ich auch Ihnen, Herr Nef, eine anregende Zeit mit der Lektüre meines Leserbriefes.

Dieter Liechti-Keller, Bülach

Zwang zerstört Freiwilligkeit

Ja, die Lektüre war anregend. Ich habe keinerlei Geringschätzung für die «weniger wohlhabende Mehrheit» in diesem Land. Ich wünschte mir eine AHV, die eine echte Versicherung zugunsten der im Alter Bedürftigen ist und nicht – zunehmend – eine durch Steuern mitfinanzierte Volkspension, die mit der Giesskanne auch eine grosse Zahl von über 65 -Jährigen unterstützt, bzw. abhängig macht, die sehr wohl eigenständig leben könnten. Leider wird in der Politik meist auch die Tatsache verdrängt, dass das «gemeinsame Band», das die Schweiz heute verbindet, gar nicht nachhaltig finanziert ist und letztlich auf einer zunehmenden Verschuldung der gegenwärtigen Generation zulasten der kommenden Generationen basiert. Für mich gehört es zur Menschenwürde, dass eine ganz grosse Mehrheit der Bevölkerung nicht von staats- und zwangsfinanzierten Renten und Zuschüssen abhängig ist, sondern von der eigenen Arbeit und von der lebenslänglich selbstbestimmten Vorsorge, zu der auch ein gelegentlicher selbstbestimmter Konsumverzicht gehört. Das «Leben auf Pump» macht abhängig und unfrei. Jeder Mensch muss die Chance haben, sein Leben auf der Basis der eigenen Arbeit (auf Schweizerdeutsch: Schaffe) zu bewältigen, und diese eigene Arbeit muss, auch wenn sie auf einfachen Dienstleistungen beruht, so bezahlt werden, dass ein staatsunabhängiges Leben ohne Armut und Not für eine ganz grosse Mehrheit möglich ist. Dazu braucht es einen wirklich offenen Arbeitsmarkt, und dieser Arbeitsmarkt muss auf eine Realität von tatsächlichen Knappheiten reagieren. Heute ist dies nicht der Fall. Die Entlöhnung reagiert auf ein mehr oder weniger absurdes System von staatlich vorgegebenen angeblich sozialen Umverteilungsverfahren, Kollektivverträgen und Zwangstarifen, die (auch auf Arbeitgeberseite) mehr oder weniger raffiniert bewirtschaftet werden.

Jene Minderheit, die es aus verschiedenen Gründen nicht schafft, auf der Basis des eigenen Schaffens zu leben, soll personenbezogen und grosszügig unterstützt werden, primär privat, subsidiär auch staatlich, aber möglichst nahe an der Basis und wenn möglich befristet, mit dem Ziel der Wiedererlangung der Eigenständigkeit als Bestandteil der Menschenwürde. Dafür braucht es keine nationale oder gar internationale Maschinerie, in der ein erheblicher Teil der Umverteilungsgelder versickert und deshalb die wirklich Bedürftigen gar nicht erreicht. Echte Hilfe basiert auf persönlichem Einfühlungsvermögen und nicht auf kollektivem Zwang. Die wirkliche Tragödie der staatlichen Sozialpolitik ist die Tatsache, dass der politische Zwang die Tendenz hat, die soziale Freiwilligkeit zu zerstören und damit in einen Teufelskreis mündet.

Robert Nef

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Ein Gedanke zu „Unbegrenzte Demokratie mündet in Knechtschaft“

  1. Dieter Liechti-Keller

    Sehr geehrter Herr Nef
    Ich danke Ihnen für Ihr ausführliches Antwortschreiben, in dem Sie ein Modell beschreiben,
    das durchaus meine Sympathien hätte, wenn es denn mit den Realitäten in Übereinstimmung wäre.
    Noch sehe ich keine Signale, die auf eine Entwicklung in der von Ihnen propagierten Richtung hinweisen würden, und so gilt weiterhin: Ja, die Wohlhabenden brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Wohlhabenden.
    Ich danke insbesondere auch dafür, dass Sie meinen Leserbrief auf Ihrer Webseite veröffentlicht haben.
    Er ist auch in der heutigen Ausgabe der NZZ, allerdings arg weichgespült, abgedruckt.
    Dass Sie nicht wahrhaben wollen oder können, dass Ihr Beitrag in der NZZ als Ausdruck einer Geringschätzug der weniger wohlhabenden Mehrheit dieses Landes gelesen werden kann, bedaure ich und werte es als Beispiel dafür, dass Ihre Kreise zwar dauernd das Wort „Menschenwürde“ im Munde führen, auf dem politischen Parkett aber alles unternehmen, um die Privilegien einer Minderheit zu zementieren.
    Mit freundlichen Grüssen
    Dieter Liechti

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