(St. Galler Tagblatt / Mittwoch, 25.11.1992 / EWR-Diskussion / SCHWEIZ, Seite 3)
Es gibt unter den EG- und EWR-Beitritts-Skeptikern nicht nur konservative Isolationisten und Nationalisten, sondern auch liberal-marktwirtschaftliche Universalisten, die wissen, dass die EG nicht Europa ist und Europa nicht die Welt. Die Beitrittsbefürworter aller Art sind hingegen nicht nur vom Mut und vom Geist der Offenheit erfüllt, sondern unter Umständen auch von Kleinmut, Opportunismus und Anpassungsbereitschaft.
Es trifft zu, dass die drei Optionen «Anschluss an die EG», «EWR-Vertrag» und «autonome globale Vernetzung» voneinander unabhängig sind, obwohl der Bundesrat die ersten zwei zunächst unglücklich verknüpft hat und jetzt – etwas unglaubwürdig – wieder getrennt haben möchte. Die dritte Option hat er mit der Bezeichnung «Alleingang» versehen, obwohl wir in der Wirtschaft noch nie Alleingänger waren und es auch nie sein werden. Weltoffenheit und Eigenständigkeit können miteinander verbunden werden, und die durchaus vernetzungsbedürftige Wirtschaft soll sich möglichst unabhängig vom stets autonomiebedürftigen Staat ihre Wege suchen.
Um auf einem offenen Markt konkurrenzfähig zu sein, zu bleiben und zu werden, muss man gute Angebote haben zu attraktiven Preisen, und nicht irgendeinem kontinentalen Schutz- und Diskriminierungsklub angehören. Das wirtschaftliche Überleben und Florieren hängt primär von unserer Leistungsfähigkeit ab, und nicht von mehr oder weniger günstigen und verlässlichen Vertragsklauseln, die unsere Regierung und unsere Wirtschaftsdiplomaten aushandeln.
Skeptische Analyse
Wenn wir der Option der globalen Öffnung und Offenheit nicht gewachsen sein sollten, dann laufen uns als «zweite» und «dritte Wahl» die beiden anderen Optionen nicht davon. Es trifft zu, dass die Zukunft der Schweiz mit der Zukunft der EG so oder so verknüpft ist und bleibt, und aus diesem Grund ist eine skeptische Analyse dieses Gebildes auch im Zusammenhang mit dem EWR-Vertrag notwendig.
An einer Tagung in Bonn wurden die Teilnehmer kürzlich aufgefordert, eine EG nach ihren Wunschvorstellungen zu skizzieren. Eine EG, wie ich sie mir wünschen würde, hat folgende Merkmale:
- Sie basiert auf der Philosophie des GATT, d.h. des offenen Welthandels. Dies bedeutet: kein Euro-Merkantilismus, kein Euro-Protektionismus und kein Euro-Interventionismus.
- Sie ist in erster Linie ein Freihandels-Abkommen. Die EG sollte der EFTA beitreten – die Idee wurde schon verschiedentlich geäussert, aber leider nicht befolgt … Möglicherweise wird die EG – implizit – diesen Weg vom «Kulminationspunkt» der Maastricher Verträge schrittweise und unspektakulär vollziehen.
- Ihre politischen Strukturen sollten konföderalistisch (d.h. staatenbündisch) und nicht föderalistisch (bundes-staatlich) sein und wirksame Instrumente der Autonomie-Garantie (Veto sowie Abstimmungen nach «one state, one vote») enthalten.
Die Sicherheitspolitik sollte nur im Sinn der Grundidee der KSZE vernetzt werden: autonome Verteidigungssysteme mit gegenseitigen Kontrollbefugnissen und mit einem System von vertrauensbildenden Massnahmen. - Die EG sollte um die integrierbaren Länder des ehemaligen Ostblocks erweitert werden.
- Zur Garantie der Freiheitsrechte sind nicht nur Individualrechte und Verfahrensprinzipien zu formulieren, sondern auch organisatorische Strukturen, welche ein Minimum an Euro-Bürokratie, ein Minimum an Euro-Sozial- und -Umverteilungsstaat sowie ein Minimum an Euro-Steuer-staat hervorbringen.
Mitgliedschaft nicht nötig
Die Schweiz hat 1848 und 1874 den Wandel vom Staatenbund zum Bundesstaat vollzogen. Das Experiment ist durchaus erfolgreich. Allerdings haben die zentralisierenden und bürokratisierenden Kräfte nicht gebannt werden können. Die politische Konstruktion eines Bundesstaates, der wirksame Bremsen gegen die Zentralisierung und Bürokratisierung kennt, ist noch nicht erfunden – weder in den USA noch in der Bundesrepublik noch in der Schweiz.
Vielleicht ist es eine Herausforderung an die geistige Elite in Europa, hier einen welthistorischen Beitrag zu leisten. Weder die Römer Verträge noch die Verträge von Maastricht sind aber in dieser Beziehung verheissungsvoll – im Gegenteil. Ein konstruktiver Beitrag zu diesem Problemkreis ist nicht Sache eines politischen Gremiums, sondern kreativer Einzelpersonen und Gruppen. Eine Mitgliedschaft der Schweiz ist hierzu nicht erforderlich, wir können unsere diesbezüglichen Erfahrungen und Ideen auf dem freien Ideenmarkt vorbringen.
Für kleinere Einheiten
Die EG ist keine bestehende Organisation, sondern ein Projekt mit der klaren Zielsetzung eines Bundesstaates, einer politischen Gemeinschaft mit einer eigenen Aussenpolitik und Sicherheitspolitik und, was och viel wichtiger ist: mit eigenen fiskalischen Kompetenzen. Die zentrale Bedeutung es Fiskus im Zusammenhang mit dem Funktionieren oder Nicht-Funktionieren eines politischen Systems ist bis jetzt zu wenig beachtet worden.
Die aus liberaler Sicht wichtigste Staatsaufgabe, die Produktion von Sicherheit und die Gewährleistung einer Rahmenordnung, kann in kleineren Einheiten sehr wohl erfolgen. Auch eine funktionierende Gerichtsbarkeit lässt sich ohne suprastaatliche Grossorganisationen durch Vereinbarungen sehr gut organisieren. Bei den Steuern und Sozialversicherungen sollten kleinere Einheiten gegeneinander konkurrieren, und nur in kleineren Einheiten lässt sich der für die wirtschaftliche Existenz eines Staates wesentliche Zusammenhang zwischen (Steuer-)Einnahmen und (Sozial-) Ausgaben noch bewusst machen.
Der richtige Abstand
Es gibt zwischen Nationen wohl kaum je Liebe und Solidarität, und die mehr oder weniger intelligente und längerfristige Wahrung von Eigeninteressen kommt voll zum Zuge. Dass es gerade in diesem Zusammenhang Kräfte gibt, welche die Kooperation und den Frieden mehr fördern als alle internationalistischen Trompetenstösse, ist tröstlich.
Folgende Fabel illustriert die hier angestellten euro-skeptischen Überlegungen.
Sie stammt aus Schopenhauers «Parerga et Paralipomena» und ist somit fast ein Jahrhundert älter als das Nazi-Lied mit dem Passus: «Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, das nehmen wir im Rückweg ein.»
«Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so dass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mässige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. – So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stossen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu. Keep your distance ! – Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. – Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben noch zu empfangen.»
Ich hoffe, dass sowohl die Schweiz als auch die Mitglieder der EG viel eigene «innere Wärme» haben. Dies hängt aber nicht von den Staaten und ihren Zusammenschlüssen ab, sondern von den Menschen, die dort leben.
Gut überlegen
In der EWR-Abstimmung steht nun die Schweiz vor der Wahl, entweder ihr bisheriges Verhältnis einer guten Nachbarschaft und Handelspartnerschaft weiterzupflegen oder es in einem Vertrag zu institutionalisieren und damit die Abhängigkeit punkto Vorteile und Nachteile zu verstärken. Ob und wie stark wir durch einen Nichtbeitritt von der EG diskriminiert werden, kann nicht vorausgesagt werden. Wenn die Ängste nicht berechtigt sind, dann wird zu Unrecht der Teufel an die Wand gemalt, wenn die Ängste berechtigt sind, sollten wir uns eine Mitgliedschaft erst recht gut überlegen.
Robert Nef-Nyffeler