1. Das Spannungsfeld von Zustimmung und Kritik
Der deutsch-amerikanische Politologe Arnold Brecht hat schon 1978, noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Sinn einer «Lebensbilanz» ein Buch mit dem Titel «Kann die Demokratie überleben?» publiziert. (1) Arnold Brecht, Kann die Demokratie überleben?, Stuttgart 1978. Inzwischen sind mit dieser Fragestellung hunderte von Büchern und Artikeln erschienen. Heute halten sich Publikationen, welche die Demokratie angreifen und bemängeln und solche, die sie verteidigen und loben etwa die Waage, wobei unter «Demokratie» beiderseits nicht immer dasselbe verstanden wird. Eine ideologische Einordnung nach dem üblichen Links/Rechts-Schema versagt in dieser wichtigen Grundsatzdebatte. Die vorschnelle Verurteilung jeder Demokratiekritik als autoritär oder faschistisch zeugt von ideologischen Scheuklappen. (2) Rüdiger von Voss in: Demokratie, ein Auslaufmodell?, Freiburg i.Br. 2022, S. 85.
Die in Anknüpfung an Rousseaus Kritik an der Repräsentation von den Basisdemokraten der 68er Jahre vorgebrachten Bedenken über die Verfälschung des Mehrheitswillens durch komplexe Wahl-, Partei- und Koalitionssysteme sind generell zu wenig ernst genommen worden. Bemerkenswertes hat dazu der aus Ungarn stammende und zuletzt in Frankreich domizilierte Sozialphilosoph Anthony des Jasay beigetragen, dem keinerlei Nähe zum national-konservativen Gedankengut vorgeworfen werden kann. (3) Anthony de Jasay, Der Staat, Berlin 2018 sowie der Sammelband zum Thema Ordered Anarchy, ed. Hardy Bouillon and Hartmut Kliemt, London and New York 2007. Unvoreingenommene Demokratiekritik ist eine heikle Angelegenheit, denn kaum ein Autor möchte sich dem Vorwurf aussetzen, ein Feind der Demokratie zu sein. Alle Vorbehalte, die gegenüber der Anfälligkeit der direkten Demokratie für Stimmungsschwankungen und für linke und rechte Populismen vorgebracht werden, sollten auch gegenüber der indirekten Demokratie sorgfältiger unter die Lupe genommen werden. In Parlamenten fällen die Vertreter vielfältiger Interessen oft Entscheide, die nicht im längerfristigen Interesse der Allgemeinheit liegen. Wenn diese durch das Volksveto des Referendums fallweise «bachab geschickt» werden, wirkt dies durchaus machtbeschränkend.
Der Autor dieses Beitrags hat vor 20 Jahren in einem später publizierten Vortrag folgende These aufgestellt und begründet: «Demokratie und Wohlfahrtsstaat sind auf die Dauer nicht miteinander verträglich, wenn sie nicht beide begrenzt und gegeneinander abgegrenzt werden.» (4) Robert Nef, In: Nachtwächterstaat, Sozialstaat, Wohlfahrtstaat, – wohin geht der Weg, Conturen, Frankfurt a.M.,, 2000, S. 62. Ich gehe heute mit meiner Kritik etwas weiter und zweifle an einer optimalen Kombinierbarkeit in einem horizontalen Kompromiss. Demokratie und liberaler Rechtsstaat sind nur kompatibel, wenn sie in einem gemeinsamen sozio-kulturell- historischen Humus verwurzelt sind, der von der Politik immer weniger gewährleistet werden kann.
Das demokratische Mehrheitsprinzip ist als «humanistisches Dogma» seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eher überschätzt worden. Demokratische Mitbestimmung und liberale Selbstbestimmung werden allzu voreilig als harmonisch verknüpfbare Entscheidungsverfahren bezeichnet, weil sie beide im Lauf der Geschichte als Alternativen zur monarchischen und tyrannischen Herrschaft gefordert und erkämpft worden sind. Vor allem in den USA gilt «Democracy» als Inbegriff einer menschengerechten und dauerhaft funktionsfähigen Regierungsform: Die Regierung des Volkes, durch das Volk, die sich gewissermassen von selbst auch als Regierung für das Volk erweist, weil sie sich auf den Mehrheitswillen stützt, der mindestens dann mit dem Volkswillen übereinstimmt, wenn sich dieser auch frei bilden kann.
In neuester Zeit mehren sich vor allem im libertären und anarcho-kapitalistischen Lager die kritischen Stimmen, die auch in diesem Sammelband vertreten sind. Dies soll einleitend durch zwei demokratiekritische Zitate untermauert werden:
Vom slowenischen Freiheitsdenker Zarko Petan stammt folgender Aphorismus: «So mancher sagt, er sei für Demokratie, und später stellt er fest, dass Demokratie nicht für ihn ist. (5) Zarko Petan (1929 -2014) Slowenischer Freiheitsdenker, Verbotene Parolen 1966.
Eine oft mit falschen Quellen zitierte ebenfalls kritische Aussage stammt aus den USA: «Democracy is not freedom. Democracy is two wolves and a lamb voting on what to eat for lunch. Freedom comes from the recognition of certain rights which may not be taken, not even by a 99% vote. (4) Marvin Simkin, „Individual Rights“, Los Angeles Times, 12 January 1992. http://articles.latimes.com/1992-01-12/local/me-358_1_jail-tax-individual-rights-san-diego.
Das Mehrheitsprinzip ist ein Entscheidungsverfahren mit völlig offenen Resultaten und ohne jede Qualitätsgarantie, weder bei den Entscheidungsträgern noch bei den Entscheidungen. Demokratie garantiert «aus sich heraus» weder Menschenrechte noch «liberale Werte.» Durch die Inklusion der Mehrheit und die Exklusion der Minderheit hat sie vor allem bei knappen Mehrheiten oft eine spaltende Wirkung, ein Phänomen das sich zurzeit in den USA besonders deutlich und negativ manifestiert.
2. Entwicklungspotentiale und Zerfallstendenzen
Die Grundfrage nach der Demokratie als Inbegriff des Mehrheitsprinzips muss früher oder später mit der Grundfrage nach der Interessen-Repräsentation und dem Prinzip «ein Mensch eine Stimme» verknüpft werden. Einer der zentralen Kritikpunkte an der heute in unterschiedlichen Spielarten praktizierten Demokratie knüpft an den offensichtlichen Mängeln des auf konkurrierenden Parteien beruhenden Repräsentationsprinzips an. Es kommt zu jenem «Kipppunkt der Demokratie», den Gerhard Schwarz in einer Kolumne pointiert beschrieben hat. (6) Gerhard Schwarz, in: NZZ vom 22. Februar 2022, S. 23).
Es ist kein Zufall, dass Autoren, die nach einem «postdemokratischen» Entscheidungsverfahren in einer «postetatistischen» Bürgergesellschaft streben, ein Vertretungsverfahren nach dem Zufallsprinzip vorschlagen (7). Dietrich Eckardt, Die Bürgergesellschaft, Ein Gegenentwurf zur Staatsgesellschaft, Berlin 2021 und Antony P. Mueller, Feinde der Freiheit und des Wohlstands, , Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von und Politik mit der Ergänzung «Demokratie ohne Wahlen», o.O., 2021
Möglicherweise sind direkte und repräsentative Demokratie nicht einfach zwei nur graduell verschiedene Entscheidungsverfahren. Die Unterschiede betreffen auch Prinzipielles. Die in der Schweiz praktizierte halbdirekte Demokratie wäre demnach ein Zwitter, der nicht nur die Vorzüge, sondern auch die Nachteile der beiden Modelle kombiniert. Das sollte zur Zurückhaltung mahnen, wenn etwa «Demokratie nach dem Muster der Schweiz» anderswo oder gar in der EU propagiert wird.
Gegenüber libertären Kritikern des Mehrheitsprinzips muss in Erinnerung gerufen werden, dass auch Kapitalgesellschaften auf Mehrheitsentscheiden beruhen, allerdings – ausser in Genossenschaften – nicht nach dem Pro Kopf Prinzip, sondern nach dem Prinzip «Je betroffener, desto beteiligter». Auch dieses Prinzip stellt auf Mehrheiten ab, die sowohl im privaten Genossenschaftswesen als auch im Vereinswesen buchstäblich entscheidend sind.
Interessant ist allerdings im Vereinswesen, wie häufig sowohl in Vorständen als auch in Vollversammlungen solange diskutiert wird, bis eine Art Einstimmigkeit (ohne Gegenstimme) erreicht ist, und effektiv niemand offen in die Minderheit versetzt wird. Geht es hier um eine Praxis, die als Urform des allgemeinen Konsenses nach allgemeinem Palaver angesehen werden kann? Sie beruht auf der Basis einer Friedensformel, die man als Grundkonsens oder als wechselseitige freiwillige Ad-hoc-Unterwerfung bezeichnen kann. Sie wird in Familien und menschlichen Gemeinschaften wohl schon seit Urzeiten praktiziert und ist Gegenstand der Verhaltensforschung. (8) Überzeugende Belege dazu liefert der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt in seiner zu wenig beachteten Streitschrift «Wider die Misstrauensgesellschaft», München und Zürich 1994
Den Begriff Grundkonsens hat der liberale Staats- und Verwaltungsrechtslehrer Martin Lendi in einer neuen Schrift lanciert und begründet. Er benützt dabei einen anschaulichen Vergleich: «Die Freiheit der Meinungsäusserung wird zum «Taufpaten» des Grundkonsenses.» (9) Martin Lendi, Der Grundkonsens als Element staatlicher Gemeinschaft, Zürich 2022.
Schon in der griechischen Antike, in der die Demokratie als politisches Entscheidungsverfahren angeblich «erfunden» worden ist, hat man die Schattenseiten der Volksherrschaft erkannt. Im Zentrum der Kritik steht bei Aristoteles ihr Degenerationspotenzial hin zur «Ochlokratie», zur populistischen Willkürherrschaft jenes «Haufens», der etwa in der «grande terreur» nach der Französischen Revolution dem Prinzip der Brüderlichkeit mit der Guillotine huldigte.
Man weiss, dass sich Friedrich Schiller, ursprünglich ein Befürworter der Französischen Revolution, mit Abscheu von deren Auswüchsen abgewendet hat, und sein «Wilhelm Tell» ist eine Art von Gegenmodell, das nicht in einen blutigen Aufstand der «Geknechteten» mündet. Die Eidgenossen werden durch Vereinbarung zu einem «einzig Volk von Brüdern». Was oft übersehen wird, ist der bemerkenswerte Schluss des Schauspiels, der für Schiller alles andere als eine historische Reminiszenz war: Die freiwillige Entlassung der Lehensleute aus ihrer Hörigkeit durch die Adeligen Bertha und Rudenz. (10) Das Schauspiel endet, was in der demokratischen Schweiz in Aufführungen oft weggekürzt wird, mit der bemerkenswerten Deklamation des Adeligen Rudenz «Und frei erkär’ ich alle meine Knechte!» Das ist ein klassischer Machtabbau durch freiwilligen Machtverzicht. Traum eines Idealisten, oder Akt der vernünftigen Nächstenliebe?
Gegen alle Spielarten der Demokratiekritik gibt es ein gewichtiges rein empirisches Gegenargument, das im klassisch gewordenen Zitat von Winston Churchill zum Ausdruck kommt «Many forms of Government have been tried, and will be tried in this world of sin and woe. No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed it has been said that democracy is the worst form of Government except for all those other forms that have been tried from time to time.»(11) Winston S Churchill, Vortrag vom 11 November 1947. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass eines der wohl berühmtesten Churchill-Zitate das Zitat eines Zitats mit unbekannter Quelle ist. Aus dieser Sicht reduziert sich die Grundfrage der Befürwortung auf die Suche nach allenfalls tauglicheren Alternativen und nach ergänzenden und schadensmildernden Prinzipien.
3. Das «Beispiel Schweiz» als Argument pro Demokratie
Ein sehr gewichtiges, weil empirisch untermauertes Gegenargument zur radikalen Demokratiekritik ist die real existierende Schweiz. Der Politologe Karl W. Deutsch hat sie als Vorbild für politische Integration hingestellt. (12) Karl W. Deutsch, Die Schweiz als paradigmatischer Fall politischer Integration, Bern 1976. Auch der hellsichtige österreichische Bankier Felix Somary verweist in seiner neu aufgelegten Schrift zur Zukunft der Demokratie auf die historische Erfolgsbilanz: «Das Fernbleiben von Kriegen von einem kleinen Land in der Mitte Europas und die Lösung der Nationalitätenfrage sind zwei so fundamentale Erfolge, dass sie alle Kritik an der Demokratie zum Schweigen bringen müsste.» (13) Felix Somary: Krise und Zukunft der Demokratie, 1971, Neuauflage Jena 2010, S. 141
Die Eidgenossenschaft, die man auch schon die älteste noch existierende Demokratie genannt hat, ist 1291 mit grosser Wahrscheinlichkeit gerade nicht durch Mehrheitsbeschluss geschaffen worden. Das politische Bündnis hatte den Charakter einer Sezession, einer Verschwörung gegen jede Fremdherrschaft – und zwar auf ewig. Das Bündnis wurde gewiss ausgehandelt, seine Vor- und Nachteile wurden individuell und kollektiv geprüft und öffentlich gegeneinander abgewogen. Im modernen Sinne abgestimmt wurde darüber wohl nicht. Verschwörer dulden in der Regel keine Minderheit, die sich zuerst der Verschwörung widersetzt und schliesslich überstimmt wird.
In einem Essay zum Thema Lob des Non-Zentralismus (14) (Robert Nef, Lob des Non-Zentralismus, 2. Aufl., St. Augustin, 2006) habe ich die Schweiz unter Bezugnahme auf Friedrich Schillers Schauspiel Willhelm Tell als Kompromiss zwischen dem «Prinzip Tell» und dem «Prinzip Rütli» bezeichnet. Es kommt zu einer Kombination von gezähmtem Anarchismus (nach der Staatstheorie von Thomas Hobbes) und beschränktem Kommunitarismus (nach der Gesellschaftstheorie von John Locke), und das ist wahrscheinlich das wichtigste historische Erfolgsgeheimnis der Schweiz. Tell, der unabhängige Alpenjäger und Tyrannentöter verkörpert die abgrundtiefe Machtskepsis. Die Eidgenossen fungieren als Begründer eines Gesellschaftsvertrags. Sie wollen in Zukunft ihre gemeinsamen Probleme ohne Landesherren gemeinsam beweglich lösen. Das wird, wohlgemerkt, einstimmig, oder besser, einmütig, beschlossen.
Der Gesellschaftsvertrag im Sinn von John Locke funktioniert dauerhaft nur mit widerspruchsfreiem Konsens. Entscheidend waren und sind für die Eidgenossen die eigenständige Wahl der Richter als Ordnungswächter und die gemeinsame Verteidigung gegen Angreifer und Eroberer. Alles andere ist Sache der traditionellen zivilen Gesellschaftsordnung und ist auch nicht an eine übergeordnete Gemeinschaft delegierbar. Die Eidgenossen versammelten sich auf einer einsamen Wiese, «Rütli» genannt. Sie wurde nach Schillers Narrativ gemeinsam gerodet und somit direkt der Natur abgerungen und weggenommen. Das «Rütli» ist im ursprünglichen Sinn «privatus». Das Land gehört keinem verbrieften Landesherren, sondern jenen, die es genossenschaftlich nutzen, und der mythisch verklärte Ort liegt aus dieser Sicht ausserhalb territorialstaatlichen Strukturen und Herrschaftsansprüchen.
Der Schweizer Historiker Oliver Zimmer befasst sich mit der Kritik von Max Frisch an Schillers Tell und seiner patriotischen Rezeption (Wilhelm Tell für die Schule, 1971). Zimmer stellt einen Bezug her zur massiven Schweiz Kritik von Friedrich Engels aus dem Jahr 1847. Engels brandmarkte die Schweizer als aus der Zeit gefallene eigensinnige Reaktionäre, ein Vorwurf der gegenüber den Schweizern von europäischen Nachbarn immer noch gelegentlich erhoben wird. Zimmer weist zu Recht auf die im 19. Jahrhundert harte Auseinandersetzung zwischen rechtsstaatgläubigen und zentralistischen Liberalen einerseits mit volksverbundenen antizentralistischen Demokraten anderseits hin und begründet, warum seine Sympathie bei Letzteren liegt. Ist es die Ahnung des Historikers, dass vermeintliche Nachzügler oft auch Vorläufer waren? (14). Oliver Zimmer, Wer hat Angst vor Tell?, Unzeitgemässes zur Demokratie,3. Aufl. Basel 2021.
Wurde 1291 auf dem «Rütli» tatsächlich der Grundstein dessen gelegt, was in der heutigen Staatstheorie als Demokratie bezeichnetet wird, in der ein schwer definierbares «Volk» in schwer erklärbarem und begrenzbarem Ausmass durch komplizierte und unübersichtliche Repräsentations- und Mehrheitsregeln angeblich über sich selbst herrscht?
Die Frage stellen, heisst sie verneinen. Bedeutet dies nun, dass jeder Versuch, gemeinsame Aktivitäten durch das Mehrheitsprinzip mitbestimmen zu lassen, antiquiert und zum Scheitern verurteilt ist?
Die Antwort lautet noch einmal: Nein. Politische Mitbestimmung durch Wahlen und Mehrheitsentscheide ist möglich. Die radikale Abschaffung einer darauf beruhenden Ordnung ist eine Utopie. Selbst eine unpolitische Bürgergesellschaft, in der durch Losverfahren bestimmte Verwaltungsorgane für den Schutz von persönlicher Freiheit und Privateigentum sorgen sollen (15) Dietrich Erhardt, a.a.O., S. 130, ist auf ein kollektives Entscheidungsverfahren und auf Nachfolgeregelungen angewiesen. Auch die erfolgreichsten und freiheitsfreundlichsten Funktionäre regieren nicht ewig und brauchen Nachfolger, und niemand kann die freiheitsfreundliche Kontinuität garantieren. Das demokratische Mehrheitsprinzip, da ist Karl Popper zuzustimmen (16) Freiheit und intellektuelle Verantwortung, Tübingen 2016, S. 35, garantiert mindestens einen unblutigen Machtwechsel, allerdings ohne jede Qualitätsgarantie.
Aber: Alle nachhaltig funktionierenden mehrheitsgestützten Ordnungen müssen auf einem letztlich einstimmigen (oder ohne Gegenstimme) beschlossenen Grundkonsens beruhen. Dieser ist nur möglich, wenn er sich auf wenige prinzipielle Regelungen beschränkt, und er hat nur Bestand, wenn Mehrheiten und Minderheiten dauerhaft profitieren. Eine weitere Voraussetzung ist ein Pluralismus von gebietskörperschaftlichen, territorial beschränkten Organisationen, bei denen man «mit den Füssen» abstimmen kann, sofern man am neuen Domizil akzeptiert wird. Das Mehrheitsprinzip und sogar das Prinzip «ohne Gegenstimme» muss grundsätzlich als Aufnahmeverfahren in eine freie Gemeinschaft akzeptiert werden. Freizügigkeit: Ja, Anspruch auf Mitgliedschaft: Nein.
Es ist glücklicherweise nicht auszuschliessen, dass in Demokratien, die auf konkurrierenden kleineren, ebenfalls demokratisch organisierten Einheiten aufbauen, durch die dauernden Vergleichsmöglichkeiten der Resultate und die leicht praktizierbare «Exit option» so etwas wie «aufgeklärte Mehrheiten» entstehen, welche zu «Hütern der Freiheit» werden, die die fremdbestimmende Umverteilung im intelligenten Eigeninteresse der jeweiligen Gebietskörperschaft limitieren.
Das war die durch historisch-empirische Beobachtungen in der Schweiz gestützte These des liberalen Schweizer Staatsrechtslehrers Zaccaria Giacometti (17) Die Demokratie als Hüterin der Freiheitsrechte, Zürcher Rektoratsrede, in: Ausgewählte Schriften, Zürich 1994, der den Versuch gewagt hat, Liberalismus und Demokratie als kompatibel zu erklären und mit der föderalistisch konkurrierenden Autonomie als «Dritte im Bunde» als konsistentes System zu erfassen und zu beschreiben. Demokratie kann also auch aus liberaler Sicht befürwortet werden, wenn sie durch Non-Zentralismus und Systemwettbewerb limitiert und durch einen traditionellen, emotional gestützten Gemeinsinn gestützt wird.
Man muss sich allerdings fragen, ob die zahlreichen Autoren, unter anderen zahleiche Nicht-Schweizer, die sich für das Prinzip Demokratie einsetzen, weil es so erfolgreich war, nicht eher an einen Freiheitsgeist denken, der im Wesentlichen auf einem Grundkonsens, auf einem «ésprit civique», beruht, den man als Mentalität eines «Sich trotz grosser Unterschiede gegenseitig gelten Lassens und miteinander Geschäfte Machens» charakterisieren sollte. Das entspricht einem ökonomisch genossenschaftlichen Denken im weitesten und besten Sinn. Es wird durch politische Mitbestimmung nach dem Mehrheitsprinzip eher abgebaut als gestützt.
Frank Karsten und Karel Beckmann haben in ihrem demokratieseptischen Buch der Schweiz ein eigenes, sehr wohlwollendes Kapitel gewidmet (18) Frank Karsten/ Karel Beckmann, Wenn die Demokratie zusammenbricht, München 2012. Sie kommen zum Schluss, dass die Demokratie in der Schweiz funktioniert, weil sie es dank vieler kleiner demokratischer Einheiten schafft, viele der negativen Auswirkungen der nationalen parlamentarischen Demokratie zu vermeiden.
Ich selbst habe verschiedentlich versucht, die Erfolgsgeheimnisse der Schweiz zu entschlüsseln und erwähne in der Regel als eines von 14 «Geheimnissen» die direkte Demokratie, allerdings verknüpft mit der vom Basler Historiker Adolf Gasser als Basis der Bürgerfreiheit beschriebenen Kommunalautonomie (19) Adolf Gasser, Die Gemeindefreiheit als Rettung Europas, Basel 1947.
Wer heute – mit einfühlbaren Gründen – gegen die direkte Demokratie argumentiert, und von ihr nur noch mehr links- und rechtspopulistische Etatismen und Interventionismen erwartet, steht möglicherweise zu stark unter dem Eindruck von fragwürdigen Volksbegehren und von Referenden, bei denen notwendige Reformen durch eine absurde Koalition von Nein-Stimmen blockiert werden.
Was aber in den letzten 50 oder 100 Jahren an Staatswachstum allein durch Vernehmlassungsverfahren und durch offene oder verborgene Referendumsdrohungen (ohne tatsächlich durchgeführte Abstimmungen) verhindert worden ist, ist sehr beachtlich und zu wenig erforscht. Es ist vielleicht der Hauptunterschied zwischen der Schweiz und vielen Nachbarländern und auch der EU selbst, dass es dort dieses permanent als Damoklesschwert drohende und als versteckte Schuldenbremse wirkende, meist antizentralistische Volksveto nicht gibt.
Für Kaspar Villiger, den ehemaligen Finanzminister der Schweiz und den mutigen Inspirator der sogenannten Schuldenbremse, ist dieses Volksveto (das leider nur für Gesetzesvorlagen und Staatsverträge und nicht für grosse Budgetposten gilt), ein wichtiger Grund für sein Lob der Demokratie (20). Kaspar Villiger, Demokratie – jetzt erst recht, Zürich 2018.
4. Terminologische Probleme zwischen Freiheitsprinzip und Mehrheitsprinzip
Diskussionen rund um die Freiheit und um die Demokratie führen notwendigerweise zu Definitionsproblemen, die nicht rein terminologisch sind, sondern damit zu tun haben, dass die Prinzipien Selbstbestimmung und Mitbestimmung ihrem Wesen nach die Diskussion nach den ihnen selbst innewohnenden Schranken und nach der Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Prinzipen auslösen.
Die Frage nach den Grenzen der Demokratie wird dadurch erschwert, dass der Begriff «Demokratie» nicht klar definiert ist und nicht zwingend mit dem Mehrheitsprinzip gleichgesetzt werden kann. Weder «Demos» (Volk) noch «kratein» (herrschen) sind klar abgrenzbare Begriffe. Zudem gibt es sehr viele Spielarten der Demokratie. Direkte Demokratie mit offener Abstimmung muss von direkter Demokratie mit geheimer Abstimmung unterschieden werden und bei der indirekten Demokratie stellt sich je nach Wahl- und Abstimmungsmodus die Frage, ob sie überhaupt noch Mehrheiten repräsentiert.
Freiheit schliesst deren Missbrauch weder im Einzelfall noch in der Politik aus, und Mehrheiten können sich fundamentaler und oft folgenreicher irren als Minderheiten und Individuen. Zwischen Liberalismus und Demokratie im Sinne des Mehrheitsprinzips gibt es tatsächlich fundamentale Spannungen, die durch den Bindestrich in der Parteibezeichnung zwischen «freisinnig-demokratisch» nicht aus der Welt geschafft werden.
Möglicherweise begeht man einen Kategorienfehler, wenn man die beiden Prinzipien einfach auf der gleichen Ebene einander gegenüberstellt. Wer die Freiheit als höchsten Wert einstuft, wird jede Herrschaft von Menschen über Menschen, auch jene die sich auf Mehrheitsbeschlüsse abstützt, primär ablehnen und sekundär höchstens als notwendiges Übel akzeptieren. Freiheit ist eine Frage des Prinzips. Die im Zusammenleben offensichtlich notwendigen Beschränkungen sind eine Frage der Zweckmässigkeit und des Masses.
Seit der Gründung der Vereinigten Staaten wird Demokratie als Inbegriff der «Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk» betrachtet und in neuerer Zeit weltweit grundsätzlich positiv bewertet. Das war nicht immer so. Das antike Athen wird in der Regel als «Wiege der Demokratie» gesehen, wobei übersehen wird, dass der Aristokrat Aristoteles sie nur in Ausnahmefällen als geeignetes Entscheidungsverfahren akzeptierte. Ein Feldzug sollte nur unternommen werden, wenn eine Mehrheit der Aufgebotenen (und vital Betroffenen) dafür war. Das ist eine sehr sinnvolle Bremse, deren Anwendung über alle Zeiten viel Blutvergiessen verhindert hätte.
Demokratie im engeren Sinn, beruht auf der Kombination der beiden Prinzipien «eine Person, eine Stimme», und «die Mehrheit entscheidet, die Minderheit fügt sich».
In einer kleinen Schrift aus dem Jahr 2009 macht der Sozialphilosoph Rahim Tghizadegan den zwar mutigen aber ziemlich utopischen Vorschlag, auf den Begriff «Demokratie» in Zukunft einfach zu verzichten. (21) Demokratie, Eine Analyse des Instituts für Wertewirtschaft, Wien 2009.
Die Frage, wer an die Macht kommen und an der Macht bleiben soll, ist möglicherweise im Zusammenhang mit der Machtbrechung und Machtentgiftung falsch gestellt. Es bedeutet schon viel an Machtkontrolle, wenn eine schlechte Regierung wieder abgewählt werden kann. Das ist die bekannte Rechtfertigung der Demokratie durch Karl Popper «Demokratie war nie Volksherrschaft, kann es nicht sein und soll es nicht sein… Demokratien sind nicht Volksherrschaften, sondern in erster Linie gegen Diktaturen gerichtete Institutionen (22) Karl Popper, a.a. O, S. 53
Noch mehr Machtkontrolle bewirkt das Referendum als Volksveto gegen Gesetzesvorlagen des Parlaments und die Hürde, dass ein Beitritt zu internationalen Gemeinschaften nur via Volksmehrheit erfolgen kann.
Viele Kollektiventscheide, die nicht mit ökonomischen oder ethischen Folgen verknüpft sind, z.B. ob man auf den Strassen Rechtsverkehr oder Linksverkehr vereinbaren soll, können zweckmässigerweise an Mehrheiten delegiert werden. Auch die Frage der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv mit kollektiven Entscheidungskompetenzen und Betroffenheiten, z.B. einer freien Bürgerschaft, sollte durch Zuwahl mit einfachem oder qualifiziertem Mehr oder sogar durch Einstimmigkeit ins Auge gefasst werden. Überall wo es um die Option gegenüber mehreren Lösungen oder Angeboten geht, ist jedoch die Selbstbestimmung auf offenen Märkten der politischen Mitbestimmung überlegen.
Wenn heute mit guten Gründen aber wenig Realisierungschancen die «Bürgergesellschaft» als Alternative zur «Staatsgesellschaft» gefordert wird, geht das in die Richtung einer Präferenz für jene Potenz, die der Basler Historiker Jacob Burckhard neben Staat und Religion als Kultur bezeichnet hat. (23) Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905, Bern 1941. Voraussetzung wäre aber, dass die beiden anderen Potenzen von sich aus schwächer würden oder wirksam geschwächt werden könnten, wozu es wenig Anzeichen gibt,
5. Für ein gemeinsames liberales Experiment der «kreativen Dissidenz»
Eine zu mehr Freiheit fortschreitende Politik setzt auf Freiwilligkeit statt Zwang, auf offene, staatsunabhängige Kommunikation bei Ideen, Gütern und Dienstleistungen, auf Vereinbarung statt Regulierung, auf Eigenfinanzierung statt Subventionierung, auf Eigenständigkeit statt Zentralisierung und auf die Entlarvung von populären, opportunistischen Fehlkonzepten und populistischer Panikmache.
Radikale Freiheitsfreunde fordern nicht weniger als die Abschaffung der Demokratie und die Einführung einer Gesellschaftsordnung, die ausschliesslich auf der Privatautonomie beruht (24). Dietrich Eckardt und Antony P. Mueller, a.a. O.
Für die Abschaffung einer einmal etablierten Demokratie sind drei Verfahren denkbar. Erstens: Eine Mehrheit beschliesst den Übergang zur Autokratie, indem sie einen Führer wählt und sich diesem unterwirft. Zweitens: Eine Mehrheit schafft alle politischen Strukturen ab und deklariert sich als Privatrechtsgesellschaft. Drittens: Eine Minderheit sucht sich ein Territorium, das sich durch Sezession als Nicht-Staat erklärt und wird dort zur bestimmenden Mehrheit, die abweichende Minderheiten duldet oder zur Auswanderung zwingt.
Wer diese drei Vorgehensweisen ablehnt oder deren Chancen gering einschätzt, steht trotzdem nicht mit leeren Händen da. Eine weitere Entwicklung der Zivilgesellschaft ist auch ohne Staatsabschaffung schrittweise möglich. Möglichst viele gemeinsame Probleme sollten auf dem Weg von Verträgen und privaten Vertragsgemeinschaften, die nur die Betroffenen und Beteiligten für die vereinbarte Zeit binden, gelöst werden und möglichst wenige auf dem Weg über generell abstrakte allgemeinverbindliche Normen. Das ist nicht «veraltet», sondern im Zeitalter elektronischer Vernetzung mit sich rasch wandelnden Konstellationen besonders zukunftsträchtig.
Welthandel beruht nicht auf Handel treibenden Ländern, sondern auf Millionen von individuellen Anbietern und Nachfragern, die sich über alle Grenzen hinweg immer wieder neu suchen und finden und einigen und dabei möglichst wenig gegängelt werden wollen. Missbräuche verhindert der Wettbewerb, das Haftpflichtrecht, eine kritische Öffentlichkeit und die Tatsache, dass sich sozialschädliches Wirtschaften auf die Dauer nicht lohnt. Das funktioniert nicht immer und nicht lückenlos, aber auf die Dauer besser als überregulierte und korruptionsanfällige staatliche und transstaatliche Zwangsregulierungen, deren Schlupflöcher ohnehin nie ganz zu schliessen sind. Man könnte dieses Vorgehen den «geordneten Rückzug aus Fehlstrukturen» nennen, aber mit der Bezeichnung allein ist das Problem noch nicht gelöst.
Wie haben sich echte Freunde der Freiheit angesichts der real existierenden Macht des real existierenden demokratischen Staates zu verhalten? Kapitulieren, schrittweise Verbesserungen postulieren, einen «geordneten Rückzug aus Fehlstrukturen» fordern, «Warten auf den Zusammenbruch», oder diesen durch aktiven Widerstand beschleunigen? Gibt es gegenüber der Staatsgewalt graduelle «dritte Wege» zwischen totaler Anpassung und totalem Widerstand? Ja, es gibt m.E. eine philosophische und auch eine politische «Bandbreite» innerhalb der sich liberale Ordnungsstaatsbefürworter, libertäre Staatsskeptiker und zivilgesellschaftliche Staatsfeinde bei allen Unterschieden durchaus verbünden können, ohne ihre eigenen Idealvorstellungen zu verraten.
Was gibt es für Mittel gegen die wachsende Staatsmacht, die auf einem breit abgestützten und oft blinden Glauben an den Staat beruht? Ich habe kein Patentrezept, sondern propagiere einen schrittweisen Ausstieg, eine Entziehungskur, die umso wahrscheinlicher ist, je kleiner der politische Verband ist, der das Experiment wagt.
Staatsmacht ist – insoweit sie auf bedingungsloser Unterwerfung beruht – stets angemasste Macht. Dagegen müssen sich Mehrheiten und Minderheiten und Individuen (als wichtigste Minderheit) beharrlich wehren – auch mit den rechtstaatlich vorgesehenen zugelassenen Verfahren demokratischer Politik.
Ein unabhängig von der Politik wirksames Mittel gegen angemasste Macht ist der Humor. Was einmal als lächerlich entlarvt ist, hat – mindestens zunächst einmal – keine Macht mehr. «Man kann stets alle für eine begrenzte Zeit und einige für alle Zeit, aber nicht alle für alle Zeit zum Narren halten.» (Abraham Lincoln). Dafür sorgen alle spontanen Individuen, welche die allgemeine Heuchelei nicht mitmachen. Nach jeder Blossstellung angemasster Macht braucht es wieder neue Scharlatane mit neuen, noch nicht entlarvten Versprechungen und Verheissungen. Das ist die Schattenseite der Machtpolitik. Gibt es eine andere? Der Schlüsselbegriff für den freiheitlichen Umgang mit der Staatsmacht ist die «kreative Dissidenz», die sich mit Phantasie, Unternehmergeist und Humor beharrlich für Formen des zivilisierten Zusammenlebens auf der Basis von Vereinbarungen einsetzt.