(Pro Schweiz Aktuell Nr. 9, Februar 2025)
Im Gespräch mit Robert Nef, Publizist, St. Gallen
Sehr geehrter Herr Nef: Ist die Schweiz ein liberales Projekt?
Die Schweiz ist kein Projekt, sie ist eine historisch gewachsene Realität. Der Bundesstaat von 1848 ist von vielfältigen liberalen Politikern geprägt worden. Man darf aber nicht vergessen, dass der Sonderbundskrieg von 1847 ein Bürgerkrieg war, der nur darum so unblutig verlief, weil es über den damals akuten ideologischen Differenzen doch noch so etwas wie ein eidgenössi- sches Gemeinschaftsgefühl gab. Es bildete die Grundlage einer Rücksichtnahme auf Minderheiten. Die Kom- bination von Liberalismus und Föderalismus auf der Basis einer vielerorts bewährten Lokalautonomie ist das historische Erfolgsgeheimnis der Schweiz.
Sie lehnten 1992 den Beitritt der Schweiz zum EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) ab. Nun heisst es wieder: Wenn wir nicht einen «besonderen» Zugang zum EU-Binnenmarkt haben, werde es der Schweiz schlecht gehen. Dafür sollen wir automatisch sehr viel EU-Recht übernehmen und EU-Richter dürften die Umsetzung ins Schweizer Recht kontrollieren und Strafaktionen anordnen, wenn das Schweizer Volk nicht spurt. Zudem verlangt die EU von der Schweiz hohe Jahresbeiträge für den Marktzutritt. Der EU-Binnenmarkt besteht aus den vier Freiheiten: freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. An sich ein liberales, freiheitliches Anliegen…
Die vier Freiheiten sind tatsächlich ein liberales Programm. Einzig die Personenfreizügigkeit muss genauer unter die Lupe genommen werden. Sie kollidiert mit dem ebenfalls freiheitlichen Prinzip, dass jede freie Gemeinschaft definieren darf, unter welchen Bedingungen sie neue Mitglieder aufnimmt. Richtigerweise wurde darauf hingewiesen, dass man nicht gleichzeitig einen umverteilenden Sozialstaat und freie Migration offerieren kann.
Hat sich die EU in Sachen Freiheit und liberale Grundordnung verändert?
Im Nationenvergleich waren die europäischen Staaten eher Experimentierfelder des sozialstaatlichen Ausbaus und Umbaus. Einzig die Staaten des ehemaligen Ostblocks haben tatsächlich Liberalisierungsprogramme umgesetzt, die man zu wenig sorgfältig auf Erfolg und Misserfolg untersucht hat. Die Schwierigkeiten eines Ausstiegs aus der Zentralverwaltungswirtschaft, bei der eine relativ einflussreiche Clique und eine weitgehend entmündigte ärmere Bevölkerung eben auch Vorteile wahrnahm, darf nicht unterschätzt werden. Der «Fall der Mauer» hat nicht nur zu «mehr Freiheit im Osten» geführt, sondern auch den Ausbau des Umverteilungsstaats in Westeuropa beschleunigt.
Die etablierten Parteien verlieren in EU-Staaten zusehend an Einfluss. Sie richten «Brandmauern» gegen die Feinde der «liberalen Demokratie» auf. Gleichzeitig verlangen ausgerechnet diese Kräfte Parteiverbote, versuchen gewählte Parteien an der Regierungsbildung zu hindern, schränken die Meinungsfreiheit ein und die EU will demokratische gewählte Regierungen nicht anerkennen – z.B. in Rumänien, Drohung an Deutschland. Es scheint so, dass der Begriff «liberal» für alles herhalten muss…
Ich beobachte diese Entwicklungen mit Sorge. Erfahrungsgemäss geraten nationalistische Parteien früher oder später in den Sog der politisch veranstalteten Umverteilung zugunsten ihrer meist vielfältig frustrierten Wählerschaft. Ich warte europaweit schon lange auf neue Parteien, die glaubwürdig «weniger Staat» fordern und gleichzeitig ihrer Klientel klar machen, dass wir in einer Welt leben, in der Knappheiten die Engpässe und die Preise steuern. Der rationale und im besten Sinn ökonomische Umgang mit Knappheiten ist übrigens auch der beste Weg zu mehr Umweltverantwortung.
Was müssen wir dringend für unser Land tun?
Von Parteiverboten und «Brandmauern» halte ich nichts. Die fragwürdigen Stärken und offenkundigen Schwächen müssen im Rahmen der Meinungsäusserungsfreiheit ohne staatliche Zensur erfolgen. Wir müssen unsere eigenen Probleme eigenständig lösen und die selbstbestimmte Kooperationsbereitschaft nicht auf eine kontinentale Binnenorganisation beschränken. Einer politischen Gemeinschaft, die Nicht-Mitglieder nicht diskriminiert, muss man nicht beitreten, auch wenn eine Mitgliedschaft gewisse Vorteile verspricht. Einer Gemeinschaft, die aber Nichtmitglieder diskriminiert (und mit Sanktionen und Nachteilen droht), darf man als freies Land nicht beitreten, auch nicht teilweise und schrittweise.
Freiheit ist alles!
BLS
Ja, wir sollten sie allen zutrauen und zumuten, mit dem Risiko, dass es immer auch Menschen gibt, die sie missbrauchen
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