(NZZ vom 8. August 2025, S. 18)
Die Geschichte des Liberalismus ist die Geschichte des Bekenntnisses zum mündigen Menschen und seinem Hunger nach Freiheit und Spontaneität. Diese Sehnsucht begann längst vor der englischen, französischen und deutschen Aufklärung und vor dem in der Renaissance in Italien entstandenen Kapitalismus. Einen wirklich liberalen Kapitalismus hat es bisher übrigens noch nirgends gegeben.
Wenn heute – vor allem von amerikanischen und französischen Historikern und Sozialwissenschaftern – penetrant das Ende des Liberalismus verkündet wird, bleibt dies leider nicht ohne Auswirkungen auf seine Attraktivität bei der Wählerschaft. Staatsfreundliche Medien verstärken diesen Trend indem sie den Liberalismus als veraltete «bürgerliche Ideologie der Besitzenden» darstellen.
Eine Tatsache wird dabei geflissentlich übersehen. Diese Kritik betrifft gar nicht den wahren Kern der Freiheitsidee. In den USA wird nämlich der Begriff «liberalism» für eine komplexe Mischung von Marktlenkung und Wohlfahrtstaat verwendet. Diese Mischform gerät tatsächlich zunehmend in die Sackgasse von «immer mehr Zentralstaat und immer mehr Staatsverschuldung».
In Europa ist der Liberalismus aber immer noch die Alternative zu seinen beiden historisch-ideologischen Widersachern: Zum dogmatisch fixierten, meist nationalistischen Konservatismus und zum doktrinären Sozialismus, der noch mehr Umverteilung, Bevormundung und Staatsintervention fordert. Was in den Medien und auch in der Wissenschaft viel zu wenig beachtet und thematisiert wird ist Folgendes: Die beiden erwähnten – meist als «rechts» und als «links» etikettierten – Parteiideologien sind in einer global vernetzten technischen Zivilisation tatsächlich überholt. Sie überleben ideologisch nur noch dank dauernder Anleihen beim klassischen Liberalismus. Die Sehnsucht nach Freiheit wächst in Zeiten genereller Bevormundung, aber sie wird derzeit immer wieder auf fragwürdige Kanäle umgelenkt. Wer von einem Ende der Freiheitsidee spricht, übersieht, dass es zum Urprinzip des Marktes keine dauerhaften Alternativen gibt. Das Prinzip ist die Basis offener Gesellschaften, in denen der Markt – auch im Bereich der Ideen – das dauernde schrittweise Lernen ermöglicht und das gleichgeschaltete Blind- und Dummwerden verhindert.
Der Markt als wirtschaftliches Prinzip ist allerdings kein sicheres Bollwerk gegen alle politische Blindheit und Dummheit, und der Konsum als Selbstzweck kann zum alles verschlingenden Lebensprinzip degenerieren. Eine allein am materiellen Konsum und an der Zerstreuung durch Massenmedien orientierte «Brot- und Spiele-Gesellschaft» verliert ihre Kreativität und damit ihre Überlebensfähigkeit.
Die Freiheit ist heute im Westen – und auch in der Schweiz – nicht in erster Linie durch freiheitsfeindliche Ideologien bedroht, sondern durch die «Verfettung» und die «Immunschwäche» im totalen Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat, der sich als populäres Verbraucherparadies präsentiert, aber auf zunehmender Verschuldung gegenüber künftigen Generationen beruht. Der Liberalismus im europäischen Sinn ist als geistige Strömung weltweit von zunehmender Aktualität. Nicht der unbequeme Rebell, der «glückliche Sklave», der politisch «auf Pump lebt», ist der gefährlichste Feind der Freiheit.
Robert Nef, Publizist, St. Gallen
TRANSLATION
No end to liberalism
The history of liberalism is the history of the commitment to mature individuals and their hunger for freedom and spontaneity. This longing began long before the English, French and German Enlightenment and before capitalism emerged in Italy during the Renaissance. Incidentally, true liberal capitalism has never existed anywhere.
When the end of liberalism is proclaimed insistently today, especially by American and French historians and social scientists, this unfortunately has an impact on its appeal to the electorate. State-friendly media reinforce this trend by portraying liberalism as an outdated ‘bourgeois ideology of the wealthy’.
One fact is deliberately overlooked in this context. This criticism does not even touch on the true core of the idea of freedom. In the USA, the term ‘liberalism’ is used to describe a complex mixture of market regulation and the welfare state. This hybrid form is indeed increasingly leading to a dead end of ‘ever more centralised government and ever more government debt’.
In Europe, however, liberalism is still the alternative to its two historical ideological adversaries: dogmatic, mostly nationalistic conservatism and doctrinaire socialism, which calls for even more redistribution, paternalism and state intervention. What is given far too little attention and discussion in the media and academia is the following: The two party ideologies mentioned above – usually labelled ‘right’ and ‘left’ – are indeed outdated in a globally networked technological civilisation. They survive ideologically only thanks to constant borrowing from classical liberalism. The longing for freedom is growing in times of general paternalism, but it is currently being diverted into questionable channels. Those who speak of the end of the idea of freedom overlook the fact that there are no lasting alternatives to the fundamental principle of the market. This principle is the basis of open societies in which the market – including in the realm of ideas – enables continuous, gradual learning and prevents people from becoming blindly conformist and ignorant.
However, the market as an economic principle is not a sure bulwark against all political blindness and stupidity, and consumption as an end in itself can degenerate into an all-consuming principle of life. A ‘bread and circuses society’ oriented solely towards material consumption and distraction by the mass media loses its creativity and thus its ability to survive.
Today, freedom in the West – and also in Switzerland – is not primarily threatened by ideologies hostile to freedom, but by ‘obesity’ and ‘immunity deficiency’ in the total welfare state, which presents itself as a popular consumer paradise but is based on increasing debt to future generations. Liberalism in the European sense is becoming increasingly relevant worldwide as an intellectual movement. It is not the uncomfortable rebel, the ‘happy slave’ who lives politically ‘on credit,’ who is the most dangerous enemy of freedom.
Robert Nef, publicist, St. Gallen