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Non-zentrale Vielfalt als Mittel gegen die totalitäre Zentralverwaltung

Lesedauer: 12 Minuten

Beitrag zur Freundesgabe für Detmar Doering:
«Im Zweifel für die Freiheit», hrsg. von Gerd Habermann und Sascha Tamm, Selbstverlag Kindle, 2025, S. 45 – 55

Etatisierung, Zentralisierung und Bürokratisierung münden aus freiheitlicher Sicht in die Sackgasse der organisierten Knechtschaft, und am Ende einer Sackgasse bleibt nur die Umkehr. Der Non-Zentralismus ist die Alternative zum Primat zentral-bürokratischer Politik und zur Flucht aus der technisch-zivilisatorischen Realität der globalen Vernetzung. Der ungewohnte Begriff non-zentral vermeidet sowohl das polemische «anti-zentral» als auch das gebräuchliche «de-zentral», das die Zentrale voraussetzt und verewigt.

Wir stehen heute vor der Herausforderung einer Neuorientierung an liberalen Werten wie Freiheit, mehr Selbstbestimmung, mehr Selbstverantwortung und mehr freiwillige Hilfsbereitschaft in eigenständig kooperierenden non-zentralen politischen Strukturen. Die Rückkehr zu einer «guten alten Zeit», die es auch in der Schweiz nie gegeben hat, ist allerdings keine zukunftsträchtige Option. Aber eine sorgfältige vergleichende Analyse dessen, was sich beim friedlichen Zusammenleben von Menschen bewährt, und dessen, was früher oder später aus dem Ruder läuft, hat Herkunft und Zukunft. Dies aufzuzeigen ist das Ziel dieses Beitrags, der als «Lob des Non-Zentralismus» (1) auf zahlreichen publizierten und unpublizierten Beiträgen des Verfassers beruht.

1. Die Schweiz als erfolgreiches Experiment

Es gibt in Europa seit Jahrzehnten einen starken Trend zu mehr Staat, mehr zentraler Bürokratie, mehr Interventionen, höheren Steuern, mehr Staatsangestellten und staatsabhängigen Nutzern und Rentenempfängern. Entscheidende Bereiche des sozialen und kulturellen Zusammenlebens werden schrittweise politisiert und verstaatlicht, insbesondere das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, der ganze Dienstleistungsbereich und die Kultur. Sie werden zum Bestandteil einer politisch organisierten Infrastruktur, die zunehmend keine dienende, sondern eine beherrschende Rolle spielt. Die Wirtschaft wird so zu jenem Bereich, der geduldet, gegängelt und gezielt gefördert wird, weil er über das Steuersystem die Finanzierung des Grossapparats ermöglicht.

Während in einer freien Gesellschaft Kreativität und Produktivität die Entwicklung steuern und der Zentralstaat lediglich dienende Funktion hat, bestimmt im Daseinsvorsorgestaat die Politik die entscheidenden Ziele und Mittel. Was in rechtsstaatlich und marktwirtschaftlich organisierten friedlich konkurrierenden Gemeinwesen früher weitgehend frei vereinbart und verantwortet wurde, wird heute schrittweise zum Bestandteil einer Maschinerie, die von angeblich «alternativlosen» Sachzwängen immer zentraler gesteuert wird. Dieser Entwicklung kann sich auch ein relativ kleiner Staat wie die Schweiz nicht entziehen. Immerhin ist es möglich, die Fehlentwicklungen kritisch zu beobachten und die Gegenkräfte zu mobilisieren, die zunächst einmal ein Fortschreiten in die falsche Richtung wenigstens verlangsamen.

Für viele Schweizer Staatswissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Literaten ist die Schweiz lediglich ein skurriler Spezialfall, ein Auslaufmodell, dem mehr oder weniger liebevolle oder bösartige Nachrufe gewidmet werden und für das man sich im internationalen Umfeld wegen der Abweichungen glaubt entschuldigen zu müssen.
Das Territorium der Urschweiz ist grossenteils von Siedlern dem Urwald abgerungen worden und basiert nicht auf Eroberung wie jene Staaten, die nach dem Wort Bismarcks «aus Blut und Eisen“ geschmiedet und vom Geist der Eroberung geprägt worden sind. (2)

Zentralisierung, kontinuierliches Staatswachstum und Aushöhlung der Lokal- und Privatautonomie werden heute überwiegend als unausweichliche Trends einer arbeitsteiligen, technisch zivilisierten und elektronisch vernetzten Gesellschaft gedeutet. Dies führt zu einem Primat der Politik, die Ökonomie und Sozio-Kultur in ihren Dienst stellt und letztlich dominiert. Parallel zu diesem medial gestützten Trend wächst aber – vor allem bei jüngeren Menschen – auch das Misstrauen in die Fähigkeit politischer Systeme, die tendenziell wachsenden Ansprüche ihrer staatsabhängigen Klientel zu befriedigen und jene Produktivität und Kooperationsbereitschaft zu garantieren, die einen Erfolg und eine nachhaltige Finanzierung der Zukunftsaufgaben ermöglichen. Die öffentliche Meinung pendelt zwischen Hoffnung und Angst. Die Staatsgläubigen hoffen auf einen immer wieder neu geschlossenen zentral organisierten Kompromiss zwischen Zwang und Freiheit und die Staatsskeptiker entwickeln Ideen für die Zeit nach einem Kollaps der Staatsfinanzen. Aus dieser Sicht geht es darum, dass die Politik generell zu neuen Ufern aufbrechen muss, aber die Vorstellungen darüber bleiben vage und oft nebulös.

Anhänger der Lokalautonomie verhalten sich diesbezüglich unideologisch. Was an vorhandenen Gemeinschaftsaufgaben politisch, ökonomisch oder sozio-kulturell gelöst werden kann und gelöst werden soll, lässt sich nicht wissenschaftlich und allgemeingültig ermitteln. Es braucht dazu Experimente, die Vergleiche ermöglichen und Lernprozesse auslösen und auch Optionen offerieren, sich dort anzuschliessen und niederzulassen, wo das Kosten/Nutzen-Verhältnis im weitesten und besten Sinn mit den persönlichen Präferenzen übereinstimmt.

Geht es um eine realpolitische Anpassung im Rahmen der bestehenden Entwicklungstrends? Oder geht es um die Lancierung eines «grossen Wurfs», um einen radikalen Neuanfang oder geht es um einen geordneten Rückzug aus Fehlstrukturen mit der Chance einer neuen Kombination von Bewährtem und aus freiheitlicher Sicht Erwünschtem, um ein Stückwerk, das allerdings nicht auf Ideale verzichten muss?

In dieser Situation sollten auch die – mindestens vorläufig und teilweise – als «gescheitert» oder «überholt» betrachteten Ideen analysiert und revitalisiert werden: Non-Zentralismus, Wettbewerb der kleinen Strukturen, Milizprinzip (grundsätzlich keine Berufspolitiker und Berufssoldaten und keine (berufs)ständische Ausdifferenzierung, Zivilgesellschaft als Basis der Politik, Grundmisstrauen in bürokratische Apparate, Staat als Genossenschaft und nicht als Herrschaft, rein defensive, angriffsunfähige Milizarmee basierend auf der Idee einer integrierten Sicherheitspolitik, Neutralität und Verzicht auf Machtpolitik und auf den Anschluss an Machtblöcke. Sie sind 1976 vom Politologen Karl W. Deutsch treffend analysiert und gewürdigt worden. (3).

Es geht im Folgenden nicht darum, die real existierende Schweiz mit all ihren Ambivalenzen, Selbstzweifeln und Anpassungsgelüsten nach aussen als Beispiel oder gar als Zukunftsmodell darzustellen. Aber es steht ausser Zweifel, dass die Schweiz historisch ein ziemlich einmaliges Experiment der Gegenläufigkeit ist, das viel allgemein Zukunftsträchtiges enthält. Darauf haben der Philosoph Denis de Rougemont, der Germanist Karl Schmid und der Historiker Herbert Lüthy und neuestens der Diplomat Paul Widmer aus unterschiedlichen Perspektiven überzeugend hingewiesen. (4)

2. Steuerhoheit als Quelle der Staatsmacht

Die Bedeutung der Staatsfinanzen, d.h. der Zusammenhang von Staat und Fiskus, wird in juristischen und politologischen Abhandlungen im Zusammenhang mit der Regierungsfunktion meistens unterschätzt. Steuern steuern und machen die Besteuerten gegenseitig voneinander abhängig.

Die Steuerpflicht war seit je für die Betroffenen die intensivste lebensprägendste Konfrontation mit der Staatsmacht, aber sie hat im umverteilenden Daseinsvorsorgestaat in Kombination mit der Sozialversicherungspflicht als massiver Eingriff in und Zugriff auf das Privateigentum eine noch wichtigere und zunehmend dominierende Rolle, die aufgrund des Gewöhnungseffekts generell unterschätzt wird.

In der Politik ist es wichtig, dass der Zusammenhang von Steuer und Gegenleistung, von Kosten und Nutzen, wahrgenommen und gegenüber den Behörden, die gleichzeitig Steuern erheben und Infrastruktur bereitstellen, zum politischen Thema gemacht werden. Der mündige Steuerzahler ist in diesem Fall mit dem mündigen Bürger identisch, welcher dauernd kritisch das Preis-/Leistungsverhältnis der von ihm gewählten Behörden überwacht, Sparsamkeit und Transparenz fordert und fördert sowie auf Unterversorgungen aller Art empfindlich reagiert.

Auch in der Schweiz ist die Finanzpolitik auf allen Stufen zu einem üblen Spiel degeneriert, bei dem man sich gegenseitig aus der Verantwortung stiehlt und statt Ausgabenkürzungen eine Verlagerung auf andere Ebenen anstrebt. Schlimmstenfalls und immer häufiger werden Schulden gemacht, die dann auf künftige Generationen abgewälzt werden. Verschont wird in der Regel bei sogenannten „Sparübungen“ der Staatsapparat, der immer teurer und ineffizienter wird.

Auch jene relativ liberalen Regierungsmitglieder, die ihr Amt als konsequente Beamten- und Bürokratieverächter antreten, vermehren in der Regel während ihrer Amtszeit die Zahl ihrer Angestellten und die Höhe ihres Anteils am Ausgabenbudget.

3. Dienende Infrastruktur wird zur herrschenden Struktur

Die Politik spielt im heutigen Leben eine Schlüsselrolle. Sie gilt als zentrales soziales Problemlösungsverfahren indem sie den Staat als Inhaber des Zwangsmonopols in Verbindung mit einer «demokratischen Legitimation» zu einer gerechteren, wohlhabenderen und zukunftstauglicheren Gesellschaft führen soll.

Der Vorrang des Staates und der Politik wird heute vielerorts immer noch als zwingende Folge einer historisch- dialektischen Entwicklungslogik gedeutet, die angeblich vom Lokal- und Feudalstaat über den Nationalstaat und über kontinentale Zusammenschlüsse zu einer globalen politischen Weltordnung führt. Zu Recht ist diese Geschichtsdeutung von Freiheitsfreunden und Staatsskeptikern seit je als ein Mythos entlarvt worden, der zwar weit verbreitet ist, der in der Geschichte aber wahrscheinlich mehr Unheil als Heil gestiftet hat. Es lohnt sich nach Alternativen zum Etatismus und zum Primat der Politik zu suchen. Fundamentale Staatskritik ist von verschiedenster Seite und von sehr unterschiedlichen Autoren immer wieder ins Feld geführt worden. Erwähnt seien hier nur eine heterogene persönliche Auswahl von bekannteren und weniger bekannten Persönlichkeiten, von denen der Autor dieses Beitrags viel gelernt und übernommen hat: Frédéric Bastiat, Ernst Cassirer, Franz Oppenheimer, Anthony de Jasay, Murray Rothbard, und Gerard Radnitzky.

Politik ist heute von der Ambivalenz gegenüber dem umverteilenden Daseinsvorsorgestaat geprägt. Der Glaube an dessen Garantie für zunehmende gemeinsame Wohlfahrt paart sich heute mit Zweifeln an einer nachhaltigen Finanzierbarkeit in immer grösseren und grenzüberschreitenden Gebieten. Einerseits erwarten die Bürger und Steuerzahler alle Wohltaten, die ihnen von den gewählten Politikern versprochen werden, anderseits nimmt angesichts der Tatsache, dass in der Politik stets mehr versprochen wird als gehalten werden kann, die Zahl der Frustrierten zu und die Zahl der Zufriedenen ab. Immer mehr gemeinsame Probleme werden zudem von der politisch aktiven Generation durch Verschuldung auf künftige Generationen überwälzt.

4. Der Staat als Tummelfeld der Umverteilungsprofiteure

Der international vernetzte, seinem Wesen nach – jenseits aller Parteibezeichnungen – sozialdemokratische Umverteilungsstaat ist zu einem politökonomischen Tummelfeld der Umverteilungsprofiteure geworden. Das sind keinesfalls nur die bedürftigen Empfänger, sondern die gesamte politische und soziale Umverteilungsindustrie und alle Branchen, die mit zwangsweiser Umverteilung bessere Geschäfte machen als ohne. Und das sind nicht wenige, und diese können sich häufig als Mehrheiten organisieren und durchsetzen, was bei den Überstimmten zu Frustrationen führt.

Die zunehmende Staatsverdrossenheit ist in jedem Umverteilungsstaat nur eine Frage der Zeit. Früher oder später entsteht jener politische Flugsand, den man mit den Kategorien «links-populistisch» und «rechts-populistisch» schlecht charakterisieren kann, weil diese Politik zu einer «Flucht aus der als unbefriedigend empfundenen Realität» aufruft, die als jeweiliges «Heilmittel» entweder mehr internationale Vernetzung oder mehr nationale Eigenständigkeit fordert. Linke Populisten werfen rechten Populisten Populismus vor und vice versa. In jeder Demokratie ist aber ein Buhlen um die Gunst der Volksmehrheit durchaus normal und systemimmanent.

Das einzig wirksame Heilmittel dagegen sind kleine politische Einheiten mit wenig politischer Umverteilungsmacht, d.h. mit einer unwesentlichen, kleinen finanziellen Manövriermasse der jeweiligen Volksbeglücker und –verführer. Aus liberaler Sicht sind alle von linken und rechten Populisten geschürten und bewirtschafteten Hoffnungen verfehlt. Es braucht nicht mehr oder eine andere politische Umverteilung auf einer höheren oder tieferen Stufe. Es braucht bei Individuen und Gemeinschaften mehr wirtschaftliche und soziale Eigenständigkeit und Selbstverantwortung. Der jeweils notwendige Ausgleich muss primär durch Verträge und durch individuelle und privat organisierte Zuwendungen erfolgen und nicht durch kollektiven politischen Zwang. (5)

5. Weniger Politik, weniger Zentralismus

Dieses Ziel ist politisch schwer zu kommunizieren, und vor allem Berufspolitiker aller Parteien, und die von ihnen abhängige Informationsindustrie innerhalb und ausserhalb der Medien, tun sich schwer damit, zuzugeben, dass es nicht in erster Linie eine andere Politik von angeblich «besseren Politikern» braucht, sondern weniger kollektiven Zwang und – alles in allem – weniger Politik.

Die nationalistische und merkantilistische Rechte ist meilenweit von der freihändlerischen, antietatistischen Rechten entfernt.

Leider ist es den Sozialisten aller Parteien immer wieder gelungen, diese wichtige ideologische und terminologische Weichenstellung totzuschweigen. Diffamieren ist eben einfacher als differenzieren.

Fairerweise muss zugestanden werden, dass auch das Lager der Linken von seinen Kritikern zu wenig differenziert beurteilt wird. Es gibt auch dort mindestens zwei sehr unterschiedliche Strömungen: Einerseits die etatistische, staatsgläubige Linke und anderseits die antiautoritäre, anarchistische Linke, die, wie die Liberalen, letztlich dem intrinsisch motivierten, herrschaftsfreien Tausch mehr zutrauen als dem kollektiven Zwang. Sie hoffen darauf, dass sich eine Kultur des freien Gebens und Nehmens nach einer grundlegenden Umwälzung auf der Basis einer «klassenlosen Gesellschaft» ohne organisierte Staatsmacht verwirklichen liesse. Auf der politischen Bühne trifft man die zweite Gruppe aber kaum mehr an. Die meisten ehemaligen 68er haben sich dem links-grünen, staatsgläubigen Establishment angeschlossen, und nur eine Minderheit sympathisiert immer noch mit dem Anarchismus und steht damit den libertären Staatsskeptikern näher, die ihrerseits meist als «rechtsaussen» etikettiert werden. Den wenigen antiautoritären Linken, die sich heute in anderen Koalitionen immer noch staats- und bürokratieskeptisch engagieren, kann man daher nicht vorwerfen, sie hätten als ideologische «Überläufer» einfach «rechtsumkehrt» gemacht. Das Links-Rechts-Schema hat als politisch-terminologisches Orientierungsmodell definitiv ausgedient. Trotzdem wird es – gerade wegen seiner grenzenlosen Interpretierbarkeit – als Vehikel gegenseitiger Unterstellungen in der mediale Polemik des Freund-Feind-Schemas und des «Wir gegen die andern–Musters» weiterhin seine verderblichen Dienste leisten.

Der grosse Französische Liberale Frédéric Bastiat hat das Wesen des Staates schon im 19. Jahrhundert durchschaut. (6)

Er sah den Staat als jene Institution, die von den Reichen das Geld und von den Armen die Stimmen holt, mit dem Versprechen, beide voreinander zu schützen. Demokratische Politik ist aus dieser Sicht nicht das Resultat einer Repräsentation von «Bildungsschichten», bei der die besser Ausgebildeten rationaler abstimmen als die Bildungsfernen. Das ist eine idealisierte Vorstellung von Intellektuellen, die an eine Erhöhung der politischen Rationalität durch demokratische Repräsentation sowie durch «politische Aufklärung» in einem staatlich dominierten Bildungswesen glauben. Die Abgrenzung von «emanzipatorischer Beeinflussung» von einer eigentlichen machterhaltenden Regierungspropaganda fällt dabei schwer. Die Politik der «Gebildeten» ist nicht unbedingt besser als die Politik des bildungsferneren Durchschnitts. Sie bringt auch zum Ausdruck, wer von wem durch welche Art der Umverteilung mehr Erwartungen an eine finanzielle Besserstellung hat. Sie ist eher ein Wettbewerb der hohlen Hände um eine Besserstellung als Umverteilungsempfänger, als Infrastruktur-Benützer und als Steuerzahler als eine Auseinandersetzung zwischen klugen und hohlen Köpfen. Dass es dabei um Erwartungen und Hoffnungen geht, die letztlich unberechenbar und unvorhersehbar sind, erhöht das Emotionale und das Spekulative an der Politik.(7) Diese Komponenten können aber in einer hoch komplexen Welt rein intellektuell nicht wirksam reduziert werden. Der Mythos des Staates nährt sich, wie die Ernst Cassirer treffend dargestellt hat, von sehr vielfältigen Motiven.(8)

Polit-Ökonomie taugt als Erklärungsmuster dieser Motive besser als experimentelle Polit-Psychologie oder politische Ideologie. Die verteilungspolitische Grundfrage hat der amerikanische Politologe Harold D. Lasswell (9) schon in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts wie folgt formuliert: «Wer bekommt was, wann, warum und wie?»

Wer sie kurzfristig und gesinnungsethisch betrachtet, kommt oft zu anderen Resultaten als wer eine längerfristige und verantwortungsethische Position anstrebt. Aber ist Verantwortungsethik unter «gehobenen Bildungsschichten» wirklich präsenter als beim «breiten Volk»? Verantwortungsethik entsteht durch das Einstehen für die Folgen des eigenen Verhaltens für kommende Generationen in erster Linie in der Familie und nicht an Hochschulen. Auch gehobene Bildungsschichten verfolgen eigene Interessen. Gebildete irren einfach gebildeter als Ungebildete. Politik ist und bleibt nach den Worten des Amerikanischen Satirikers Ambrose Bierce sehr oft nur «ein Wettstreit der Interessen der sich als Wettstreit der Ideen maskiert.» (10)

6. Politik als Lernprozess

Wenn Politik kleinräumig und wettbewerbsmässig organisiert ist und nach dem Subsidiaritätsprinzip von den direkt Betroffenen und Beteiligten und nicht von Berufspolitikern geführt wird, kommt es zum vergleichenden Experimentieren, zum Lernen und zur Abstimmung mit den Füssen, bzw. durch Wohnsitzwechsel. Darauf beruhen die Hoffnungen für einen schrittweisen Ausstieg aus Fehlstrukturen ohne dramatische Umwälzung: Fiskalisch autonome kleine Gebietskörperschaften als Ausstiegsszenario aus hoffnungslos überschuldeten, umverteilenden Gross-Systemen. Der Basler Historiker Adolf Gasser hat schon 1944 in seiner Monographie mit dem Titel «Gemeindefreiheit als Rettung Europas» auf die Chancen verbündeter autonomer Kleinräume als Alternative zum Grossmacht-Nationalismus hingewiesen (11). Die beiden Schweizer Ökonomen Frey und Eichenberger haben schon in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ein nonzentrales gemischt ökonomisch-politisches, regionales Netzwerk von «FOCJ» (Functional Overlapping Competing Jurisdictions) vorgeschlagen. (12)

Aus liberaler Sicht steht das autonome Individuum, bzw. das Subjekt der Privatautonomie über dem Staat, der ihm gegenüber eine dienende und nicht eine souverän herrschende Funktion hat.

Zwangsweise Umverteilung ist ihrem Wesen nach «ein Fass ohne Boden», das auf die Dauer mehr Unzufriedene als Zufriedene hervorbringt, weil in diesem staatlich organisierten Netzwerk des Gebens und des Nehmens die Gefahr sehr gross ist, dass plötzlich eine grössere Zahl von Frustrierten entsteht, die – übrigens mit guten Gründen – davon ausgehen, dass sie dem Staat entweder zu viel abgeben müssen oder zu wenig von ihm bekommen. Relativ zufrieden sind nur die staatsangestellten oder politisch gewählten professionellen Umverteiler, die immer grössere Anteile des Umverteilungskuchens für sich selbst abzweigen. Die Nettozahler fühlen sich auch in einer Staatengemeinschaft zunehmend ausgebeutet und die Nettoempfängerstaaten erwarten und fordern mehr als sie erhalten und leiden unter der Bevormundung durch eine intensivierte Kontrolle der Nettozahlerstaaten.

Es ist nicht verwunderlich, dass unter solchen Bedingungen politische Bewegungen Zulauf erhalten, die eine Rückkehr zum Nationalstaat fordern. In grossen Nationalstaaten wie Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien wird sich aber früher oder später zeigen, dass die beschriebene Desolidarisierung durch zentralistische Umverteilungssysteme auch auf der Ebene des Nationalstaats nicht gestoppt werden kann. Man denke an die Nord-Süd-Umverteilung in Italien und an die West-Ost-Umverteilung in Deutschland. Das Grundgefühl einer grossen nationalen Solidarität, welche die Basis einer Volkssouveränität bildet, ist vor allem in Kriegszeiten mit viel staatlichem Propagandaaufwand angeheizt worden. Es ist weniger «urwüchsig» als dies im 19. Jahrhundert von nationalistischen und merkantilistischen Ideologen verkündet worden ist.

Wilhelm Röpke hat die Ambivalenz des Begriffs der Volkssouveränität treffend umschrieben: «Nicht dass es souveräne Staaten gibt, ist heute das Problem. Das Problem besteht vielmehr darin, dass der Grad der Souveränität in einem Prozess, den man als zunehmende Nationalisierung, Verstaatlichung und Politisierung der Menschen bezeichnen kann, ständig gewachsen ist.» (13)

Umverteilung hat auch die entmündigende Folge, dass die Empfangenden von den Zahlenden abhängig werden. Dies gilt bei Individuen und bei Gebietskörperschaften. Gebietskörperschaften und Nationen, die durch Umverteilung finanziert werden, laufen Gefahr, in eine Art von kolonialer Abhängigkeit zu geraten. Hohle Hände werden auch schnell einmal zu Fäusten, und Dankbarkeit ist eine interpersonelle Tugend, die sich nicht auf politische Machtkämpfe übertragen lässt.

Die Ungleichheit unter kleineren politischen Einheiten hat auch einen politischen Preis. Bei vielen kleinen konkurrierenden Einheiten ist das rückständigste, unvernünftigste Gemeinwesen schlechter als dies im Rahmen einer Zentralisierung beim Durchschnitt erzwungen werden könnte. Es hat die undankbare Aufgabe als schlechtes Beispiel zu dienen.

Die Idee des auf verbündeten, eigenständigen Städten beruhenden Staates verbindet in komplexer und vielleicht auch widersprüchlicher Weise das Konzept «Stadt» mit dem Konzept «Staat» (14)

Der Begriff Politik geht auf die griechische Wurzel Polis zurück, also auf die Stadt, die sich erst später zum Stadtstaat entwickelte. Staaten ohne Städte sind historische Sonderfälle. Die Urschweiz war kein Staat, sondern ein Bündnis von Talschaften und Genossenschaften. Sehr häufig aber haben Stadtgründungen später zu Staatsgründungen geführt, ein Vorgang, der nur selten ohne Machtanwendung und Blutvergiessen verlief.

Während die Stadt dem Geist der gemeinsamen Defensive und des wechselseitigen Tauschens auf Märkten entsprang, sind die entstehungsgeschichtlichen Wurzeln des Staates häufig weniger friedlich. Der Sozialökonom Franz Oppenheimer (15) ging sogar so weit, den Staat, den er als das «politische Mittel» bezeichnete, als Resultat einer erfolgreichen und relativ dauerhaften Unterwerfung friedlicher Sesshafter durch kriegerische nomadische Eroberer zu deuten, als Sieg der Politik und der militärischen Macht über Ökonomie und Kultur. Regierungen sind aus dieser Sicht jene Organisationen, mit deren Hilfe eine ursprüngliche Minderheit über eine Mehrheit dauerhaft zu herrschen versucht.

Jede Herrschaft wird so zur Fremdherrschaft. Dieses Geschichtsbild der Staatswerdung ist möglicherweise einseitig und übertrieben, aber realistischer als die Theorie vom Gesellschaftsvertrag. Es setzt eine gesunde Portion von Herrschaftsskepsis frei und leistet damit einen Beitrag zur Entgiftung von politischer Macht. Der ursprünglich an eine marxistischen Machtkritik anknüpfende Staatskritiker Oppenheimer war der Doktorvater von Ludwig Erhard, und er kann durchaus als Vorläufer der heutigen Libertären angesehen werden. Wenn der Nationalstaat derart trübe Ursprünge hat, erlangt auch der Ruf nach «weniger Staat»» und vor allem der Ruf nach «weniger Zentralstaat» einen zukunftsweisenden Sinn.

Anmerkungen und Literaturhinweise

(1) Robert Nef, Lob des Non-Zentralismus, St. Augustin 2002. Die kleine Schrift, die auch in englischer und russischer Übersetzung erschienen ist, entstand auf Anregung von Detmar Doering
(2) Benjamin Constant, De l’esprit de conquête et de l’usurpation dans leur rapports avec la civilisation européenne“, Hanovre, Londres et Paris 1814, dt. Übersetzung: Vom Geist der Eroberung und der Usurpation in ihrem Verhältnis zur europäischen Zivilisation, Gesamtausgabe Bd. III, Berlin 1972; sowie: Franz Oppenheimer, Der Staat (1911), 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1929, Nachdruck Berlin 1990.
(3) Karl W. Deutsch, Die Schweiz als paradigmatischer Fall politischer Integration, Bern 1976
(4) Denis de Rougemont, La Suisse ou l’Histoire d’ un peuple heureux (1965), Lausanne , Lausanne 1989; Karl Schmid, Unbehagen im Kleinstaat, Werke IV, 1961 – 1965, Zürich 1998; Herbert Lüthy, Die Schweiz als Antithese, 1961, in: Werke III/Essays 1 1940-1963; Paul Widme, Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr, Zürich 2023
(5) Robert Nef, Die neue Dreigliederung der Gesellschaft, in: Hardy Bouillon/Carlos Gebauer (Hrsg.), Festschrift für Gerd Habermann, Reinbek 2020, S. 231 -269
(6) Frédéric Bastiat, in: Claus Diem/Marianne Diem: Der Staat – die große Fiktion, Ein Claude-Frederic-Bastiat-Brevier, Thun 2001
(7) «Aus liberaler Sicht ist das Emotionale im privaten, kleinkollektiven Bereich besser aufgehoben, während das Rationale sich in der Öffentlichkeit global bewähren muss». Robert Nef, Weniger Staat, mehr Sicherheit, Recht und Ordnung, abgedruckt in: Politische Grundbegriffe, Zürich 2002, S. 120 ff.
(8) Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates (1944), dt. Übersetzung, Hamburg 2002
(9) Harold D. Lasswell, Politics: Who Gets What, When, How, New York 1936
(10) Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary (1911); deutsch: Des Teufels Wörterbuch, Zürich 2013
(11) Adolf Gasser, Gemeindefreiheit als Rettung Europas, Basel 1947
(12) Bruno Frey, Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Idee der FOCJ, Tübingen 1997
(13) Wilhelm Röpke, Internationale Ordnung heute, 3. Aufl. Bern 1973, S. 40
(14) Dazu ausführlicher: Robert Nef, Reinventing subsidiarity in the European Union, in: Konrad Hummler/Alberto Mingardi, Essays in Honour of Tito Tettamanti, Torino 2015, p. 319 -340, Deutsche Übersetzung auf : www.robert-nef.ch
(15) Franz Oppenheimer, a.a.O. Anmerkung 2

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