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Warum der erste liberale Mensch eine Frau war

Lesedauer: 2 Minuten

Gastbeitrag über die Freiheit als Ablehnung von kollektivem Zwang

(St. Galler Tagblatt vom 8. August 2025, S. 6)

Heute stehen sich in der Politik zwei grundsätzlich zu unterscheidende Mentalitäten gegenüber: «Mehr Freiheit und Mündigkeit» auf der einen und «Mehr Schranken und Eingriffe» auf der anderen Seite. Natürlich gibt es auch Mischformen und Kompromisse à la carte.

Wenn es heute darum geht, den Liberalismus vom rechten und linken Etatismus abzugrenzen, so ist es entscheidend, zu realisieren, dass es in dieser Debatte nicht um «rechts» gegen «links» geht, nicht um die eine Ideologie gegen die andere, sondern um Non-System gegen System, Nicht-Eingreifen als Prinzip gegen Eingreifen als Prinzip.

Beides ist riskant. Freiheit bedeutet die Negation von Systemen, Hierarchien und Modellen, die Bejahung des permanenten, offenen Experiments, das Ja zum mündigen Menschen, welches das Risiko des Scheiterns in Kauf nimmt. Die Geburtsstunde der Freiheit ist das Bewusstwerden der Möglichkeit «Nein» zu sagen, wenn jemand anderer etwas von uns verlangt, das wir selbst nicht wollen.

Das Alte Testament verlegt dieses «Nein» gegenüber Vorschriften bereits an den Anfang der Menschheitsgeschichte, als Eva das Verbot brach, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, der es den Menschen ermöglicht, zwischen «gut» und «böse» zu unterscheiden. Wenn wir die Menschheitsgeschichte bis in die mythische Vorgeschichte hinein verfolgen, kommen wir zum Schluss, dass der erste liberale Mensch eine Frau war: Eva. Der Name bedeutet – wörtlich übersetzt – das Leben. Eva ist deswegen oft genug für die Vertreibung aus dem Paradies verantwortlich gemacht, verflucht und gescholten worden. Wer die Freiheit liebt, und die persönliche Unterscheidung zwischen «gut» und «böse» als Voraussetzung für die Anerkennung der Menschenwürde hält, wird den Verlust des Paradieses verschmerzen und in Dankbarkeit der ersten Dissidentin gedenken, die gleichzeitig die «Entdeckerin» der Freiheit ist, weder Aristoteles, noch John Locke, noch Adam Smith, sondern Eva.

In der griechischen Mythologie setzt sich allerdings ein Mann, Prometheus, über das Verbot des Zeus hinweg, und bringt den Menschen das Feuer, das gleichzeitig nützlich und gefährlich ist. Aber auch hier ist kreative Dissidenz im Spiel. Ein weiteres Beispiel kreativer Dissidenz verkörpert aber auch im griechischen Kulturkreis eine Frau: Antigone; für sie waren Sittengebote wichtiger als das auf Staatsräson abgestützte Recht.

Das Gefühl der Freiheit entsteht im Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Pflichten, Vorschriften und Forderungen, die man weder innerlich noch äusserlich akzeptiert. Freiheit ist ein Exodus aus der Knechtschaft, eine Weigerung, unter kollektivem Zwang abhängig zu sein.

Wer eine Ordnung zentral steuern und beherrschen will, braucht ein Wissen, um das was «richtig» ist. Dieses Wissen ist weder in wirtschaftlichen, noch in politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten unbestritten vorhanden. Darum sind alle Versuche, eine interventionistische Politik zu betreiben, sei es mit «rechten» oder »linken» Dogmen, auf die Dauer zum Scheitern verurteilt.

Konkurrierende Werte und wechselnde Knappheiten aller Art charakterisieren die heutige Welt. Darum ist es nicht eindimensional und dogmatisch, wenn man «Angebot und Nachfrage» im weitesten Sinn als Ausgangspunkt gemeinsamer Problemlösungen betrachtet.

Politik ist aus dieser Sicht ein Wechselspiel von spontanen und eingreifenden Abläufen, von Versuch und Irrtum. Wer das begriffen hat, weiss um die Anmassung von Wissen, um die Unmöglichkeit der rationalen Kalkulation von Preisen, von zentraler Planung usw. … Nur Gott kennt den «wahren Preis» und die «soziale Gerechtigkeit» oder – säkularisiert ausgedrückt: niemand darf sich anmassen, solche Grössen definitiv zu kennen, «wissenschaftlich» zu beweisen und allgemeinverbindlich vorzuschreiben.

Robert Nef ist Publizist und Autor. Er war Direktor und danach Präsident des Liberalen Instituts

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