Subsidiarität und kommunale Entwicklung
Notizen zum Vortrag, gehalten am 19. Oktober 1998 in Bahia Blanca, Argentinien, an einem Seminar der Fundacion Mercado und der Friedrich-Naumann-Stiftung
Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen, die zeigt, wie in der Schweiz die kantonale und kommunale Autonomie in einer gelebten Tradition verankert sind. Ich kenne den Gemeindepräsidenten einer mittelgrossen Gemeinde in der Ostschweiz. (Insgesamt zählt die Schweiz über 2000 Gemeinden und 25 Kantone mit sehr unterschiedlichen Grössen. Die kleinste Gemeinde zählt weniger als 100 Einwohner und die bevölkerungsreichste, die Stadt Zürich, über 300’000). Mit diesem Gemeindepräsidenten diskutierte ich kürzlich, ob die Schweiz der EU beitreten solle oder nicht, und da kam – typisch schweizerisch – die Rede auf die Kosten und Nutzen eines solchen Schritts. Wir waren uns einig, dass es gute Gründe gibt, um skeptisch zu sein. Etwas überraschend schloss er die Diskussion mit dem Hinweis, ein allfälliger Beitritt würde die Gemeindekasse ohnehin höchstens mit 10 Franken belasten. Ich fragte natürlich, warum er gerade auf 10 Franken komme. Er gab mir dazu folgende durchaus einleuchtende Erklärung: «In meinem Büro stehen zwei grosse Papierkörbe für die eingehende Post, die ich nicht zu lesen pflege, weil ich Gescheiteres zu tun habe als unnütze Weisungen und Vorschriften zu lesen. In den einen Papierkorb werfe ich alles Papier, das mir die kantonale Regierung zustellt, in den andern werfe ich alles, was von ‹Bern›, d.h. von der Bundesregierung kommt. Wenn wir nun Mitglied der EU werden, brauche ich einen weiteren Papierkorb für alle Post aus Brüssel..! Das wird mich etwa 10 FRanken kosten, denn ich leiste mir einen schönen, grossen». Natürlich hat er wohl etwas übertrieben, aber die Gemeindeautonomie, die auch einen Teil der Steuereinnahmen betrifft, ist die finanzielle Basis dieses Selbstbewusstseins, das ihm erlaubt, die übergeordneten Behörden bis zu einem gewissen Grad zu ignorieren. Das schweizerische Steuersystem ist dreistufig, und die Gemeinden erhalten direkt ca. einen Drittel der Einkommenssteuern. Das bedeutet, dass die Gemeinden über «eigene öffentliche Mittel» verfügen. Sie können diese für die Finanzierung kommunaler Einrichtungen und Dienstleistungen verwenden, werden aber dabei von den Steuerzahlern beaufsichtigt, die identisch sind mit den Benützern und den Wählern, welche auch über Sach- und Finanzvorlagen an der Urne oder an der offenen Gemeindeversammlung durch Mehrheiten demokratisch abstimmen.
1. Einleitung
Für die administrative Organisation eines Staates gibt es keine wissenschaftlich definierbare «beste Lösung». Auch hier gibt es nur den Erfahrungsaustausch aufgrund verschiedener historischer Erfahrungen. Die Zeit, in der man immer wieder an das neueste «Wundermittel» aus den USA glaubte, ist definitiv vorbei, und auch Europa hat seine Vorbildrolle eingebüsst. Wir schauen mit Interesse auf die Reformmodelle, die bei Ihnen in Lateinamerika ausprobiert werden, und ich bin nicht in der Rolle eines Fachmanns hier, sondern eines tauschbereiten Gesprächspartners.
Der «richtige Weg» ist in einem «Wettbewerb der Ideen, Modelle, Vorschläge und Experimente» immer wieder neu zu ermitteln.
Das schweizerische Steuersystem basiert auf dem Grundsatz der Subsidiarität.
2. Subsidiarität – ein gutes aber missverständliches Prinzip
2.1 Das Subsidiaritätsprinzip ist seit seiner Verankerung im Amsterdamer Vertrag der EU in Europa ein Modethema. Alle reden davon und niemand weiss genau, was darunter zu verstehen ist. In der Schweiz gehört es zu den Grundprinzipien unserer Staatsorganisation, allerdings mit einer betont zentrumsskeptischen Spielart, die mir persönlich sympathisch ist, und für die ich auch hier einige Argumente vorbringen möchte. Ich will daher kurz erläutern, worum es geht, da ich überzeugt bin, dass das Prinzip auch Ihnen durchaus bekannt ist, möglicherweise aber nicht unter dieser Etikettierung. Das Subsidiaritätsprinzip basiert auf einer grundsätzlichen Trennung von Individuum, Staat und Gesellschaft. In der katholischen Soziallehre findet sich die klassische Formulierung, «dass der Mensch als Individuum jede an ihn herantretende Aufgabe selbst erfülle, soweit er dazu fähig ist. Die Gemeinschaft muss subsidiär eingreifen.» Dasselbe gilt im hierarchischen Aufbau des Staates. Die unterstmögliche, kleinstmögliche Stufe soll prinzipiell zuständig sein, und das Übertragen einer Aufgabe an einen grösseren Verband braucht eine Begründung. Man muss nachweisen, dass die untere Stufe nicht fähig ist, das Problem befriedigend zu lösen.
2.2 Mit all diesen Formulierungen ist wohl eine Tendenz zugunsten individueller Lösungen im möglichst kleinen Kreis angelegt. Aber sämtliche Formulierungen wie «im Zweifel», «möglich-nötig», «soweit fähig» sind im höchsten Grad interpretationsbedürftig. Die Gefahr, dass das Prinzip durch Interpretation der Bedingungen, unter denen dann doch der übergeordnete Verband «geeigneter» ist, zentralisierend angewendet wird, höhlt das Prinzip aus.
2.3 Zahlreiche Verfassungen garantieren eine möglichst «einheitliche Verteilung» des Wohlstands und subventionieren Rand- und Problemgebiete. Die Förderung und die Umverteilung durch Regionalfonds, Strukturfonds und Subventionen gehört zu den wichtigsten und beliebtesten Funktionen des Zentralstaates. Politik degeneriert dann zu einem Gerangel um möglichst viele Subventionen. Deshalb bin ich persönlich gegenüber allen Arten von Umverteilung, aber speziell gegen interregionale Umverteilung skeptisch eingestellt. Es lässt sich nachweisen, dass ein Teil der Steuergelder, die in die Peripherie als Unterstützungsmittel fliessen, schliesslich wieder in die Zentrale zurückkehren und im Effekt nur die Abhängigkeit der Peripherie von der Zentrale verstärken und den Wettbewerb verfälschen. Doch dies ist ein eigenes Thema, das ich hier nur antönen wollte.
In der Politik kommt es immer wieder zu Situationen, in denen Massnahmen das Gegenteil von dem bewirken, was sie beabsichtigen und was von den Propagandisten behauptet wird. Das Subsidiaritätsprinzip wird dadurch sehr häufig bei der Anwendung in sein Gegenteil verkehrt, weil immer wieder neue Argumente für die «bessere» Zuordnung an zentralere und höhere Instanzen gefunden werden. Es gibt immer sogenannt «gute Gründe» zur Zentralisierung.
2.4 Noch schwieriger wird es, wenn man in Anwendung des Subsidiaritätsprinzips die Fähigkeit zur Problemlösung auch an der Finanzierbarkeit misst. Ein zentralisiertes Steuersystem, bei dem zunächst alle Steuergelder in die Zentrale geleitet werden, wird notwendigerweise eine «Unfähigkeit» zur Erfüllung von Infrastrukturaufgaben untergeordneter Instanzen hervorbringen und praktisch eine Einbahnstrasse zur Zentralisierung signalisieren. Es ist natürlich paradox, wenn man das zentralisierte Steuersystem aufrechterhält und nur die Aufgaben dezentralisiert, ohne den Gemeinden und Gliedstaaten die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Diese perfide Form der Dezentralisierung hat vielerorts zur Diskreditierung des Subsidiaritätsprinzips und der Dezentralisierung beigetragen.
2.5 Das Subsidiaritätsprinzip muss daher am Ende des bürokratisierenden und zentralisierenden Jahrhunderts in dem Sinn präzisiert und radikalisiert werden, dass es für die Rückgabe von Kompetenz, Verantwortung und Finanzierung an die möglichst kleine bzw. problemnahe autonome bzw. privatautonome Trägerschaft optiert, sobald ein Problem auf der höheren zentraleren Stufe nicht mehr adäquat gelöst bzw. nachhaltig finanziert werden kann. Ich weiss, dass dies ein sehr utopisches Programm ist, denn welche Zentralgewalt ist zu einem «geordneten Rückzug» bereit? Immerhin: Ein Konkurs des Zentralstaates wäre die bestmögliche Voraussetzung für einen politischen Neustart auf lokaler Ebene.
2.6 Die hier propagierte Lösung öffentlicher Aufgaben auf kommunaler und regionaler Ebene ist allerdings nicht in allen Fällen und auch nicht für alle öffentlichen Aufgaben optimal. Die Gemeinden und Regionen können ihre Autonomie auch durch eine demokratisch und populistisch gestützte Reglementiererei missbrauchen. Auch auf Gemeindeebene müssen die rechtsstaatlichen Prinzipien gelten, und vor allem der liberale Grundsatz des «limited government», und es darf keine grenzenlose Demokratie zu Lasten irgendwelcher Minderheiten praktiziert werden.
2.7 Zu den Regeln, die auf kommunaler Ebene, nicht abänderbar sind, gehören wichtige Prinzipien wie Freiheitsrechte, Rechtsgleichheit, Freihandel, Persönlichkeitsschutz, Eigentumsgarantie sowie Verfahrensgrundsätze wie Willkürverbot, «Treu und Glauben», «Due process of law», «In dubio pro libertate», «In dubio pro reo» sowie das Rückwirkungsverbot beim Erlass und bei der Anwendung gesetzlicher Vorschriften.
2.8 Ein grosser Teil der Probleme, die man in den letzten dreissig Jahren durch Regionalisierung, Zweckverbände, Finanzausgleich und Zentralisierung glaubte organisieren und reglementieren zu müssen, sind in Zukunft durch Privatisierung zu llösen. Konzept: Benützer zahlt, Staat leistet allenfalls auf lokaler Ebene Subjekthilfe gegen Bedürftigkeitsnachweis.
3. Autonomie, Regionalismus, Kommunalismus und Transparenz des Steuersystems
3.1 Man sollte die finanzielle Dimension eines Problems nicht verabsolutieren, aber man sollte sie auch nicht verdrängen. Wer zahlt, befiehlt, und wer keine finanzielle Autonomie hat, hat wenig, was er wirklich selbst bestimmen kann.
3.2 Niemand zahlt gerne Steuern, und das Thema «Fiskus» ist auch in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion eine Materie, in der sich die Spezialisten tummeln. Gemessen am zentralen historischen Stellenwert, den Steuersysteme haben und hatten, ist es erstaunlich, wie wenig Allgemeinverständliches darüber publiziert worden ist. Es gibt zwar ganze Bibliotheken über die technischen Belange des Besteuerns, über die vielfältigen und phantasievollen Methoden alles und alle immer mehr zu besteuern einerseits, und über die ebenso vielfältigen Methoden des legalen oder illegalen Widerstands auf der anderen Seite. Dass die Geschichte der politischen Systeme mindestens zur Hälfte eine Geschichte der Steuersysteme ist und eine grosse Zahl von historischen Veränderungen als Steuerrevolten begonnen haben, wird zu wenig beachtet.
Eine friedliche Bürgergesellschaft wäre dadurch charakterisiert, dass sie mit wenigen öffentlichen Ordnungsvorschriften, technischen und sozialpolitischen Infrastrukturen auskommt und ihre Konflikte unter den Betroffenen und Beteiligten privatautonom lösen lässt.
3.3 Viele Autonomiebestrebungen wären gar nicht notwendig, wenn sich die jeweiligen Zentralregierungen auf das beschränken würden, was wirklich not-wendig ist: Begrenzte Herrschaft, d.h. beschränkte Regierungsmacht, limitierte «power to tax» und limitierte unentgeltliche Bereitstellung zentraler öffentlicher Einrichtungen und Dienste. Gebietskörperschaftliche Autonomie würde dadurch im gleichen Prozess erzeugt wie Privatautonomie entsteht, nämlich durch den geordneten Rückzug des politischen Systems aus allen Bereichen, in denen es in einer friedlichen Bürgergesellschaft nichts zu suchen hat. Ich wiederhole noch einmal – ein solches Programm ist äusserst anspruchsvoll und alles andere als populär…
3.4 Der Kampf um die regionale und kommunale Autonomie ist identisch mit dem Kampf gegen eine überdimensionierte, auf den Notstände und auf die Aufrechterhaltung von Macht ausgerichtete zentrale politische Macht- und Finanzierungsstruktur.
4. Je betroffener desto beteiligter, wer zahlt befiehlt
4.1 «Wer zahlt, befiehlt», ist eine der fiskalischen Grundregeln der Demokratie. Niemand soll besteuert werden, ohne dass er die Möglichkeit hat, die Steuerhöhe und den konkreten Verwendungszweck – wenigstens indirekt – mitzubestimmen. Dieser in der Schweiz verwirklichte Grundsatz hat ausserordentlich weitreichende Konsequenzen. Auf dem Hintergrund der Autonomiediskussion führt er zu einer grundsätzlichen Einschränkung der Umverteilung zwischen verschiedenen Regionen und Gemeinden. Jede Auferlegung von Steuern und andern Lasten, jede Verteilung von Steuern und auch jede Umverteilung muss demokratisch legitimiert sein. Wenn man den Grundsatz der Demokratie in dieser Beziehung konsequent zu Ende denkt, gelangt man zu einem weiteren Prinzip, das ebenfalls slogan-artig formuliert werden kann. Es lautet folgendermassen und hat für die Autonomiediskussion weitreichende Konsequenzen: «Je betroffener desto beteilgter».
4.2 Dieser Grundsatz ist ein Kernsatz der Autonomisten. Er steht in vielen Fällen in einem direkten Konflikt mit dem radikaldemokratischen Grundsatz «one person, one vote», der – angewendet auf ein grösseres Gebiet – oft zu gegensätzlichen Resultaten führt. In einem heterogenen multiethnischen Gebiet, kann eine Mehrheit von Beteiligten mit dem Prinzip von «one man one vote» eine Minderheit von besonders Betroffenen überstimmen. Im Bereich der Steuern führt dies zu einem besonders brisanten Dilemma. Wenn wir die Bevölkerung grob in zwei Kategorien einteilen, in «taxpayers» und «taxeaters», so ist es nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass eine Mehrheit von Steuerkonsumenten eine Minderheit von Steuerzahlern majorisiert. Dies kann vor allem dann zu Problemen führen, wenn die Steuerzahler, wie etwa in Italien, vor allem in derselben Region, nämlich im Norden, wohnen, und die Steuerkonsumenten im Süden.
4.3 Aus dem Prinzip «Je betroffener desto beteilgter» kann man ein weiteres autonomistisches Prinzip ableiten, das, etwas überspitzt, folgendermassen charakterisiert werden kann. «No representation without taxation», keine Mitbestimmung ohne Mitbesteuerung.
4.4 Diese provokative These besagt Folgendes: Die Repräsentation von Interessen, die sich in einer bestimmten Region bzw. einem Gliedstaat manifestieren, sollte verbunden sein mit der bei den Verantwortlichen notorisch unbeliebten Kompetenz, die Steuern zu erheben, welche für die Finanzierung der damit verbundenen Anliegen notwendig sind. Oder noch pointierter: Eine Region, bzw. ein Gliedstaat ist nur dann lebensfähig, wenn auch eine gewisse finanzielle Autonomie vorliegt, und zwar eine eigenständige und nicht eine abgeleitete. Notwendig ist letztlich auch die Kompetenz und die Pflicht, jene Einnahmen zu erzwingen, die zur Lösung der gemeinsamen Probleme gebraucht werden.
4.5 Vom amerikanischen Chief Justice John Marshall stammt der berühmte Satz: «The power to tax involves the power to destroy». Darin kommt das grösste und grundlegendste Dilemma staatlicher Aufgabenerfüllung zum Ausdruck. Jede Regierung will im Auftrag der Regierten öffentliche Aufgaben wahrnehmen und Umverteilung organisieren. Kein politisches System kann daher generell auf die Besteuerung verzichten. Besteuerung lähmt aber immer auch den Leistungswillen und den Sparwillen sowie die Bereitschaft zu persönlicher freiwilliger Solidarität, drei wichtige Grundlagen einer auf die Dauer funktionierenden Gesellschaft (sustainable society). Eine Optimierung staatlicher Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen ist möglich, wenn man auf allen Stufen Kostentransparenz schafft und den politischen Entscheidungsprozess darauf ausrichtet, ein Gleichgewicht zwischen diesen Grössen herzustellen. Je kleiner und je übersichtlicher der Rahmen ist, desto eher ist dies in einer Demokratie möglich. Als Ziel muss uns die kombinierte Minimierung und Limitierung von öffentlichen Aufgaben und der Umverteilung vor Augen stehen.
4.6 Der Schweizer Finanzwissenschafter Charles Blankart hat seine Auffassung über das Autonomieprinzip wie folgt zusammengefasst: «Ein nach dem Autonomieprinzip aufgebauter Staat führt nicht, wie Kritiker oft meinen, zu einem losen Konglomerat von Gemeinden. Vielmehr werden sich mehrere bundesstaatliche Ebenen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten herausbilden. Aber jede Ebene oder jeder ‹Klub› finanziert sich selbst. Damit herrscht Übereinstimmung zwischen Nutzniessern, Entscheidungsträgern und Steuerzahlern. Insbesondere gibt es keine Entscheidungsträger, die nicht Steuerzahler sind. Es herrscht also die institutionelle Symmetrie.» (Charles Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 3. Aufl., München 1998, S. 514).
4.7 In der anschaulichen Terminologie welche «taxpayers» und «taxeaters» gegenüberstellt, könnte man das Prinzip folgendermassen zusammenfassen: No taxeating without taxpaying… Kein Konsum öffentlicher Leistungen ohne Mitträgerschaft der Kosten. Der Trend der Zentralisierung öffentlicher Aufgaben beim Kanton und beim Bund konnte auch in der Schweiz nicht gebrochen werden, obwohl die föderative Staatsordnung diesbezüglich über einige «Bremsen» verfügt.
4.8 Die Finanzverfassung ist ein Kernbereich des Verfassungsrechts, deren grundsätzliche Seite meist unterschätzt wird. Es geht nicht einfach darum, dem Staat durch ein Flickwerk von Improvisationen von Jahr zu Jahr die geforderten Mittel zu beschaffen, es geht um eine klare Limitierung der fiskalischen Zugriffsmöglichkeiten, um die wohl wirksamste Methode, die Staatsquote zu senken und die Standortqualität für die Wirtschaft zu erhöhen. Das Ausmass der Besteuerung lässt sich durch eine Reduktion der interpersonalen und interregionalen Umverteilung, sowie durch eine Konkurrenz der Gemeinden, Kantone und Nationalstaaten bei der Besteuerungskompetenz senken.
5. Wenn Mehrheiten über ihre eigenen Steuern entscheiden…
In der Schweiz bestimmen die jeweiligen Bürger und Steuerzahler in direkter Demokratie mit Mehrheitsentscheid über die Höhe der Steuern. Ein solches Modell kann nicht direkt auf andere Verhältnisse übertragen werden. Es wird immer wieder bezweifelt, dass Regierung und Parlament so etwas Heikles wie «the power to tax» unvermittelt der Verantwortung der Steuerzahler anheimstellen könnten und dürften. Eine Zuständigkeit der Volksmehrheit für die Festlegung der Steuern auf allen Ebenen der Staatsorganisation setzt allerdings voraus, dass diese nicht allzu progressiv gestaltet sein dürfen, weil sonst eine «demokratische Fremdbestimmung» der Steuerzahler mit höheren Einkommen möglich wird, die schliesslich mit deren «Vertreibung» endet. Pro-Kopf-Abstimmungen funktionieren nur, wenn auch die Betroffenheiten Pro-Kopf vergleichbar sind.
5.2 Die konkurrierenden Steuersysteme und die Aufteilung der direkten Steuern auf allen drei Staatsebenen liess in der Schweiz ein Experimentierfeld entstehen, das gewiss nicht in jeder Hinsicht optimal ist, aber es funktioniert, und wir kombinieren relativ niedrige Steuern mit einer guten öffentlichen Infrastruktur. Es gibt bei uns so etwas wie eine «Abstimmung mit den Füssen» (bzw. mit dem Zügelwagen). Sie ist in der Schweiz eher zumutbar, weil es so kleinräumig ist. Aber der Auszug eines reichen Steuerzahlers führt immer wieder zu Pressekampagnen, die letztlich den Neid publizistisch bewirtschaften. Schliesslich darf auch noch erwähnt werden, dass die Schweiz im europäischen Rahmen natürlich wegen der relativ tiefen Steuern ein eigentliches Asylland ist, und auch erheblich davon profitiert. Ich habe deswegen keinerlei Schuldgefühle…
5.3 Die Gefahr eines «race to the bottom», des Wettlaufs zum Nullsteuer- und Nullleistungsstaat, ist nicht von der Hand zu weisen, sie darf aber nicht überschätzt werden. Eine politische Unterversorgung bezüglich Ordnung und Infrastruktur ist umso unwahrscheinlicher, als Vergleichsmöglichkeiten mit andern Gebietskörperschaften bestehen, welche eine Nachfrage nach solchen Gütern besser befriedigen. Für erwünschte und knappe öffentliche Güter lässt sich in vielen Fällen durchaus eine Mehrheit von Steuerzahlern zu Steuererhöhungen motivieren, d.h. man ist bereit, einen höheren Preis zu bezahlen, wenn man dadurch die kollektive Lebensqualität erhöhen kann.
5.4 Die hier skizzierte polit-ökonomische Mechanik darf durch gut gemeinte Ausgleichszahlungen (interkommunaler, interregionaler und internationaler Finanzausgleich, Förderungs- und Strukturfonds aller Art) nicht gestört werden.
5.5 Je direkter die Demokratie ist, desto stärker wird der Zusammenhang von Steuer und Gegenleistung wahrgenommen und gegenüber den Behörden, die gleichzeitig Steuern erheben und Infrastruktur bereitstellen, zum politischen Thema gemacht. Der mündige Steuerzahler ist in diesem Fall mit dem mündigen Bürger identisch, welcher dauernd kritisch das Preis-/Leistungsverhältnis der von ihm gewählten Behörden überwacht, Sparsamkeit und Transparenz fordert und fördert sowie auf Unterversorgungen aller Art empfindlich reagiert.
5.6 Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Dezentraliät auch Nachteile hat. Der «schlechteste Mitspieler» ist bei einer Konkurrenz von Systemen schlechter als das was durch zentralistischen Durchschnitt und durch Harmonisierung erzwungen werden kann. Es gibt gerade aus liberaler Sicht schmerzhafte Defizite in sog. unterentwickelten Gebieten und der Preis der Ungleichheit ist sehr hoch. Es hat sich aber im Lauf der Geschichte auch immer wieder gezeigt, dass sich sogenannt rückschrittliche Strukturen plötzlich wieder als modern und fortschrittlich erwiesen haben. Zentralisierung birgt immer auch die Gefahr einer «Vereinheitlichung gemäss dem neuesten Stand des wissenschatlichen und politischen Irrtums» in sich, – auch Liberale sind davor nie gefeit… Lauter kleine non-zentrale Irrtümer, die gegeneinander konkurrieren, sind hingegen auf die Dauer auch bezüglich Freiheitsgehalt und Lernfähigkeit im Vergleich mit einem hoch zentralisierten System effizienter und – nach aussen und innen – weniger riskant.