(NZZ – Meinung & Debatte – Tribüne – Gastkommentar – Mittwoch, 7. Mai 2025, Seite 18)
Wer sich heute für die bewaffnete Neutralität auf der Basis einer allgemeinen Wehrpflicht engagiert, muss argumentativ gegen eine sehr heterogene Gegnerschaft antreten. Ob man nämlich an der Wehrpflicht festhalten will oder ob man sie – wo sie abgeschafft wurde – wieder einführen sollte, ist nicht nur eine aktuelle finanz- und sicherheitspolitische Frage, sondern eine politisch-ethische Grundfrage.
Zwischen militärischer Gewalt und Ethik gibt es ein Spannungsverhältnis. Wer Gewalt ausübt, verletzt ethische Normen und übernimmt Schuld und Verantwortung dafür, auch wenn er den Konflikt nicht ausgelöst hat. Allgemeine Wehrpflicht ist aus dieser Sicht politisch eine Zumutung. Für Staatsskeptiker ist sie die brutalste Form der Besteuerung, weil der Staat nicht auf privates Vermögen zugreift, sondern auf persönliche Lebenszeit und – im Kriegsfall – auf das Leben selbst.
Die grösste Zumutung für den Wehrpflichtigen ist aber nicht der Einsatz des Lebens. Er teilt dieses Risiko mit der Zivilbevölkerung, die in heutigen Kriegen oft nicht weniger gefährdet ist als Armeeangehörige. Die entscheidende Zumutung ist das Töten-Müssen im Dienst des Gemeinwesens.
Die ethische Grundfrage lautet, ob man sich gegen Gewalt gewaltsam wehren dürfe. Wer dies grundsätzlich infrage stellt, wird auch den Wehrdienst mit der Waffe für ethisch fragwürdig halten. Er wird aber konsequenterweise auch Freiwilligenarmeen und Söldnertruppen, die für ihn kämpfen, infrage stellen müssen, wenn er sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, anderen Schuld zuzumuten, um selbst unschuldig zu bleiben.
Gewalt lässt sich durch Gewaltverzicht nicht wirksam verhindern. Wer sich bei Gewalt gegenüber bedrohten Nächsten passiv verhält und sich nicht für sie wehrt, toleriert und fördert Gewaltanwendung. Der Grundentscheid lautet daher nicht: «Selbst Gewalt erleiden oder sich gewaltsam wehren?» Er lautet: «Zuschauen, wenn gegen andere Gewalt ausgeübt wird, oder sich aktiv dagegen wehren, mit dem Risiko, selbst zum Opfer zu werden?» Dabei spielt das Verhältnis zwischen Betroffenheit und Beteiligung in einer Gemeinschaft eine Rolle – und auch die Frage, in welchem Rahmen man sich politisch und zwischenmenschlich mitverantwortlich fühlt.
Darf man untätig zusehen, wenn Dritten Gewalt angetan wird? Darf man individuell – um selbst ohne Schuld zu bleiben – auf das Sich-Wehren (inklusive der Befähigung und Bereitschaft zum Töten) verzichten, ohne dadurch mitschuldig zu werden an dem, was in der Folge andern angetan wird?
Verantwortung kann nie grenzenlos sein, und sie kann auch nicht auf die ganze Weltbevölkerung ausgedehnt werden. Sie wird sich immer nur auf ein räumlich und zeitlich begrenztes Umfeld beziehen, in dem der Verantwortliche einen tatsächlichen Einfluss hat. Totale und globale Verantwortlichkeit führt letztlich zum Verschwinden der personenbezogenen Idee von Verantwortung.
Die ethische Frage der Mitverantwortung stellt sich vor allem auch im Zusammenhang mit der Neutralität. Der neutrale Staat verzichtet auf kollektive Gewaltanwendung, wenn er nicht selbst angegriffen wird, wehrt sich aber «in eigener Sache» gegen jeden Angreifer. Wie der Einzelne im Fall der Wehrdienstverweigerung hat er die Pflicht abzuwägen, welches Verhalten tatsächlich auch längerfristig Gewalt, Leid und Not vergrössert beziehungsweise verkleinert.
Bertolt Brecht hat auf diese Fragen eine eindeutige Antwort gegeben, die allerdings eine persönliche Auseinandersetzung mit diesen Grundfragen nicht ersetzt: «Es wird kämpfen für die Sache des Feinds, wer für die eigene Sache nicht gekämpft hat.» Wer den Entscheid für konsequente Selbstverteidigung der «eigenen Sache» mit dem Entscheid für Nichteinmischung in globale Konflikte verknüpft, kämpft einen guten Kampf.
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Robert Nef ist Publizist; er war Mitbegründer des Liberalen Instituts und ist heute Mitglied des Stiftungsrates.