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Nationalismus und Sozialismus als kollektivistische Brüder

Lesedauer: 4 Minuten

Es gibt rechten und linken Etatismus. Wer frei werden und bleiben will, muss sich an beiden Fronten verteidigen und sich beharrlich gegen beide Tendenzen wehren.


Robert Nef, Finanz und Wirtschaft, Meinung, 27.05.2024

Die beiden derzeit weltweit konkurrierenden politischen Ideologien, von denen die erste «rechts» und die zweite «links» genannt wird, haben eine entscheidende Gemeinsamkeit, die von Anhängern des Links-rechts-Schemas übersehen oder verdrängt wird.

Beide Lager stützen sich auf das Kollektiv und stellen sich gegen den Individualismus, der weder gemeinsam solidarische, nationale Stärke und Grösse noch gemeinsame Solidarität Unterdrückter, Ausgebeuteter und Diskriminierter auf die Fahnen schreibt, sondern persönliche Freiheit, Privatautonomie, Privateigentum und globalen Freihandel.

Was die Auseinandersetzung zwischen links oder rechts etikettierter Politik zusätzlich erschwert, sind folgende Tatsachen, die bisher historisch, wissenschaftlich und politisch noch zu wenig sorgfältig analysiert worden sind, weil sie weder nach dialektischem Schema erklärt werden können noch in das beliebte moralisierende Weltbild passen, nach dem die Politik ein Kampf der «guten Eigenen» gegen die «bösen Anderen» ist.

«Nationalistische Rechtspolitiker brauchen sozialstaatliche Umverteilungspolitik, um populär zu bleiben.»

Der an ein Kollektiv appellierende Nationalismus propagiert das Ideal der nationalen Einheit und optiert dafür meist für die staatliche Umverteilung zugunsten von Benachteiligten und Bedürftigen und befürwortet demzufolge einen «starken und zentralen Staat» mit viel finanziellen Ressourcen. Dadurch soll die Popularität des Nationalismus auf eine breite Konsensbasis gestellt werden. Die Regierung will sich innerhalb der Nation als «starke Hand» und als «Retter in der Not» profilieren und möglichst viele Staatsabhängige auf die eigene Seite bringen.

Dazu braucht es stets auch Feinde von aussen und «innere Feinde», welche die Nation als Ganzes bedrohen. Darum tendiert jeder Nationalismus, ob er es zugibt oder nicht, zu einem internen Umverteilungssozialismus und zu «mehr Staat». Nationalistische Rechtspolitiker brauchen gezielte sozialstaatliche Umverteilungspolitik, um populär zu bleiben.

Antiliberaler Kollektivismus

Jeder Nationalismus tendiert daher zum nationaldemokratischen Sozialismus. Der historisch belastete Begriff Nationalsozialismus, der ja mit Rassismus und totalitärem aggressivem Imperialismus verknüpft war, wird hier bewusst vermieden, obwohl der deutsche Nationalsozialismus einen antiliberalen nationalen Kollektivismus propagierte.

Und wie steht es mit der «linken» Gegenseite? Sozialismus ist eine soziale Befreiungsideologie, die nationale Grenzen ablehnt und von einer weltweiten Gemeinschaft ökonomisch Geknechteter und sozial Diskriminierter ausgeht, die es im politischen Klassenkampf kombiniert mit einer staatlich gelenkten Umerziehung politisch zu befreien und ökonomisch zu emanzipieren gilt.

Dazu braucht es zunächst internationale Solidarität («Völker, hört die Signale!») und eine gemeinsame Opferbereitschaft, um die «Durststrecke» zwischen der Knechtschaft von ausgebeuteten Mehrheiten und diskriminierten Minderheiten und der angestrebten und verheissenen Freiheit aller durchzustehen. Sozialismus beruht auf dem Versprechen, dass es nach einer schwierigen kämpferischen Zwischenzeit letztlich in einer friedlicheren Welt allen viel besser gehen werde.

Abstrakte Solidarität

Der Sozialismus ist jedoch mit der anthropologisch verwurzelten Tatsache konfrontiert, dass eine «Solidarität aller mit allen» eine sehr abstrakte und letzten Endes theoretisch bleibende Forderung ist, für die sich Mehrheiten nicht dauerhaft begeistern lassen. Solidarität ist ihrem Wesen nach immer Gruppensolidarität und braucht ein Feindbild. Menschen sind bereit, mit Menschen, denen sie sich nahe und verwandt fühlen, zu kooperieren und zu teilen, dies – wenigstens temporär – auch zu eigenen Ungunsten.

Und wer ist denn das Kollektiv, für das man auch bereit ist, persönliche Opfer zu bringen, um es in Zukunft gemeinsam besser zu haben? Das sind zunächst Menschen, welche die gleiche Gesinnung haben, meist dieselbe Sprache sprechen und durch geschichtliche Ereignisse miteinander verbunden sind, mit anderen Worten: die «nationalen Genossen»: «Wir, die Russen», oder «wir, die Chinesen» oder «wir, die Kubaner».

Das Motto lautet: «Solidarität ja, aber zunächst einmal mit Menschen, die mir näherstehen als die abstrakte Menschheit oder die kontinentale Gemeinschaft». Man will zunächst mit möglichst Ähnlichen oder als ähnlich Empfundenen solidarisch sein, die mindestens dieselben traditionellen Feinde haben. Darauf beruht die inhärente Tendenz jedes Sozialismus zur zunächst einmal nationalen Solidarität.

«Freiheit ist und bleibt ein Urbedürfnis, das nie definitiv unterdrückt werden kann.»

Wie jeder Nationalismus im eigenen Interesse und zur Erhaltung und Mehrung der innenpolitischen Popularität zum nationaldemokratischen Sozialismus tendiert, tendiert jeder Sozialismus aus denselben Gründen zum sozialdemokratischen Nationalismus. Zuletzt soll die Welt nicht «am sozialistischen Wesen genesen», sondern an der russischen oder chinesischen Überlegenheit.

Nationalismus und Sozialismus sind zwei ursprünglich gegensätzliche Ideologien, die beide ideologisch im 19. Jahrhundert wurzeln und auf politischen Systemen beruhen, die in Massendemokratien Mehrheiten existenziell vom Staat abhängig machen und kulturell und pädagogisch zu einem gefügigen Kollektiv formen. Beide fordern im Hinblick auf ihre Ziele mehr staatliche Zwangsgewalt zur Förderung einer Ordnung, die ihren Zielen entspricht.

Ausserhalb des Rechts-links-Schemas

Das grosse Paradox der Marxisten-Leninisten ist und bleibt die Abschaffung bzw. Überwindung des Staates durch eine historisch-dialektische Zwischenphase der totalitären Verstaatlichung. Es ist tatsächlich schwer verständlich, dass eine sehr grosse Zahl von Intellektuellen und Sozialwissenschaftlern aller Fakultäten an diese höchst unwahrscheinliche Entwicklungsprognose durch einen «dialektischen Sprung» geglaubt haben und zum Teil immer noch glauben: Abschaffung des Staates als Resultat seiner temporären Totalisierung.

Politik wird heute weltweit massenmedial und elektronisch vernetzt als ein Kampf der «Guten» gegen die «Bösen» inszeniert, und da ist man beider- und allerseits auf Feindbilder angewiesen.

Wer engagiert sich in diesem Netzwerk generell und wirksam für Freiheit und frei gewählte offene Gemeinschaften? Auf der Strecke, und ausserhalb dieses Links-rechts-Schemas, bleibt dabei eine Grundhaltung, die persönliche Freiheit, Privatautonomie, Privateigentum und Freihandel ins Zentrum stellt und den Staat mit seinem Zwangsmonopol höchstens als notwendiges Übel und mit möglichst wenig zentralen Kompetenzen anerkennen will: der Liberalismus. Seine Ideale sind zurzeit aus den oben erwähnten Gründen weit von der politischen Realität entfernt.

Wider dem Totalitarismus

Freiheit ist ein nie vollkommen erreichbares Ziel, das man bei der gemeinsam beweglichen Lösung gemeinsamer Probleme und bei der gemeinsamen Abwehr aller Totalitarismen nie aus den Augen verlieren sollte. Sie ist und bleibt aber ein Urbedürfnis, das nie definitiv unterdrückt werden kann und in einer elektronisch vielfältig vernetzten Welt auch nicht wirksam auszurotten ist.

Freunde der Freiheit stehen weder «rechts» noch «links», sie bewegen sich in Richtung jener Freiheit, die politisch weltweit von immer sozialistischeren Nationalisten und von immer nationalistischeren Sozialisten bekämpft wird. Wer frei werden und bleiben will, muss sich an beiden Fronten verteidigen und sich beharrlich gegen beide Tendenzen wehren: mehr Freiheit, weniger rechten und linken Etatismus.

Robert Nef ist Mitglied des Stiftungsrats des Liberalen Instituts in Zürich.
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