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Trotz Zentralismustrend: Echter Föderalismus hat Zukunft

Lesedauer: 4 Minuten

(Nzz.ch, 06.10.2023)

Politische Herrschaft hat einen Hang zum Zentralismus. Wer aber global denkt, strebt nach einer pluralistischen Weltordnung auf der Basis offener, möglichst autonomer Föderationen.

Kantone und Gemeinden sind in der Schweiz nach wie vor mit zentralen Kompetenzen ausgestattet. Zürcher Rathaus in der in der Limmat gespiegelt.
Dominic Steinmann / NZZ

Seit 1945 befinden wir uns auch in der Schweiz in einer Wachstumsphase des regulierungssüchtigen Wohlfahrts- und Umverteilungsstaats, der zu mehr Zentralismus und höheren Staatsquoten führt, vor allem in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Bildung, Forschung, Energie und Verkehr.

Die Mitwirkung in internationalen Gemeinschaften wie der EU bringt ein Bündel von Vor- und Nachteilen, unterminiert aber die gliedstaatliche und kommunale Eigenständigkeit und die vitale Verknüpfung von Infrastruktur-Benützenden und -Bezahlenden. Je weniger die Politik die Wirtschaft beherrscht, desto kleinräumiger kann sie sein. Es gibt eine Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit unter Menschen mit ähnlichen soziokulturellen Wurzeln. Die starke Zentralisierung in vielen Bundesstaaten hat deshalb der Föderalismusbewegung neuen Auftrieb verliehen.

Eigendynamik des Zentralismus

Im 19. Jahrhundert erhofften sich die Liberalen von einem gewaltenteiligen schlanken Zentralstaat die Befreiung von traditionell und familienbezogen verankerten, sittlich bevormundenden und ökonomisch protektionistischen Patriziaten. Sie waren deshalb Zentralisten und setzten sich für mehr Freiheit und weniger Staat ein.

Inzwischen hat der Zentralismus selbst generell eine Eigendynamik des Staatswachstums und der Verfilzung von Staat, Wirtschaft und Kultur erreicht, die sich zulasten jener lokalen und privaten Autonomie entwickelt, die Alternativen zur umfassenden staatlichen Daseinsvorsorge anstrebt und anbieten könnte.

Dies erklärt ein Phänomen, das zunächst paradox scheint: Wer global denkt und an eine Zukunft des Freihandels glaubt, strebt nicht automatisch nach immer mehr politischen Zusammenschlüssen mit immer mehr zentralen Regulierungen, sondern nach einer pluralistischen Weltordnung auf der Basis von möglichst offenen Föderationen, die einander gegenseitig ein Maximum an Autonomie zubilligen und zumuten. Ökonomie wird immer globaler, während in der Politik kleinere Einheiten bessere Chancen der Adaptation nach innen und nach aussen offerieren.

Die Schweiz hat 1848 mit ihrer Bundesverfassung einen Kompromiss zwischen zentralistischen und autonomistischen Bestrebungen geschlossen, der allerdings den politischen Zentralisierungswahn nicht wirksam genug gebremst hat.

Das gegenwärtige Hauptanliegen der Schweiz ist im Rückblick auf 1848 nicht «mehr Zentralismus auf nationaler und internationaler Ebene», sondern jene Rücksichtnahme auf lokale und individuelle Autonomie, die wohl das wichtigste, aber auch das am meisten gefährdete Erfolgsgeheimnis des 175 Jahre alten Bundesstaates ist.

Die Kontroverse um den Stellenwert des Föderalismus, d. h. um den Kompromiss zwischen Zentralisten und Autonomisten, hat in der Geschichte aller Bündnisse und Bundesstaaten eine entscheidende Rolle gespielt. In der Schweiz wurde sie intern vor allem zwischen 1798 und 1848 geführt. Die Idee des Föderalismus ist in der Auseinandersetzung zwischen Zentralisten und Anti-Zentralisten entstanden.

Die Auseinandersetzung zwischen grösseren und kleineren Zentren um die politische Vormacht ist eine Konstante der Weltgeschichte und speziell der Geschichte Europas. Dabei darf nicht voreilig der Schluss gezogen werden, dass die Zukunft dem Zentralismus gehöre. Politische Herrschaft hat einen Hang zum Zentralismus, aber eine freie Wirtschaft ist global grenzüberschreitend, und die Kultur hat im Lauf der Geschichte vor allem auch in Klein- und Kleinststaaten wie Athen, Florenz und Weimar geblüht.

Unklare Begrifflichkeiten

Die deutschsprachige Terminologie ist allerdings verwirrend. In den USA waren die Federalists die Anhänger eines Bundesstaates mit wirksamer Zentralmacht. Die Befürworter von möglichst viel gliedstaatlichen Kompetenzen nannten sich Konföderalisten. In der Schweiz bezeichnete man Letztere – mit abwertendem Unterton – auch als Partikularisten, was überhaupt nicht ihrem Selbstverständnis entspricht, weil sie sich ja als kleine eigenständige Einheiten verstehen und gerade nicht als Partikel. Der Begriff «Autonomisten», der auf die Gemeindeautonomie verweist, wäre treffender.

Der Krieg ist die brutalste Form der Verstaatlichung von Menschen.

Der Trend zur Zentralisierung ist im Lauf der Geschichte allerdings nicht nur durch einen nationalistischen Hang zur Grösse vorangetrieben worden, sondern auch durch die zunehmende Arbeitsteilung in der Wirtschaft und die notwendige Spezialisierung in der technischen Zivilisation. Die fortschrittlich Eingestellten waren daher mehrheitlich engagierte Befürworter der politischen Zentralisierung. Heute müssten sie konsequenterweise aus denselben Motiven für globale Offenheit eintreten.

Die nationalistische Vorstellung von einer Verbindung zwischen politischer Autonomie und volkswirtschaftlicher Autarkie mit militärischer Macht hat im 19. Jahrhundert zur verhängnisvollen Forderung einer notwendigen Minimalgrösse für die «Überlebensfähigkeit» von politischen Systemen geführt. Sie ist angesichts verschiedener wirtschaftlich und politisch äusserst erfolgreicher Kleinstaaten im 20. und 21. Jahrhundert widerlegt worden. Auf internationalen Ranglisten, die Wohlstand und Freiheit messen, liegen Kleinstaaten wie Singapur, Hongkong, die Schweiz und Neuseeland meist an der Spitze.

Die globale politische, ökonomische und soziokulturelle Vergesellschaftung ist seit je ein kontinuierliches Wechselspiel zwischen Zentralismus und Non-Zentralismus. Gleichzeitig nimmt die politisch-soziale und technisch-zivilisatorische Vielfalt, Komplexität und Spezialisierung zu, was eher gegen eine zusätzliche Zentralisierung auf der Basis der jeweils vorherrschenden Irrtümer und Vorurteile spricht.

Mit der Schaffung von Nationalstaaten war der politische Grundkonflikt zwischen ständischer und staatsbürgerlicher Gesellschaft entschieden. Aber der nach wirtschaftlicher Autarkie strebende Nationalstaat barg das Gift des Krieges als Fortsetzung einer Politik um die wirtschaftliche Vormacht an sich. Im Krieg werden internationalistische Sozialisten und weltoffene Liberale handkehrum zu überzeugten Nationalisten. Der Krieg ist die brutalste Form der Verstaatlichung von Menschen.

Die kriegsbedingte Staatsabhängigkeit von Menschen ist in Friedenszeiten kaum rückgängig zu machen. Das 20. Jahrhundert ist mit den zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg ein Jahrhundert des kriegsbedingten Etatismus, und ein Ausstieg aus der Verstaatlichungs- und Zentralisierungsfalle ist im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts noch nicht gelungen. Die Zukunft gehört dem Experiment des friedlichen Zusammenlebens von frei kommunizierenden Menschengruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen von der bestmöglichen politischen Gemeinschaft.


Robert Nef ist Publizist und Mitglied des Stiftungsrates des Liberalen Instituts.

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