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Die Arbeitswelt ist überreguliert

Lesedauer: 5 Minuten

Arbeit gegen Lohn wird nicht auf offenen Märkten individuell und frei ausgehandelt, sondern im Rahmen arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Normen. Das ist längst nicht nur ein Segen.


Robert Nef, Finanz und Wirtschaft, Meinung, 16.06.2023

«Tätigkeit soll nicht in Arbeit ausarten»: Dieser Spruch zierte in einem verstaubten Rahmen das Büro meines Grossvaters. Die Unterscheidung war wohl damals nicht frei von einer Höherbewertung selbstbestimmter Berufstätigkeit gegenüber der oft abstumpfenden Lohnarbeit in den Fabriken des Industriezeitalters. Angesichts der Differenzierungen, die heute bei verschiedenen Kategorien der Arbeit gemacht werden, gewinnt die Unterscheidung von Arbeit gegen Lohn gegenüber Tätigkeiten mit anderen Formen ausgetauschter Kompensationen an Bedeutung.

Paradox ist, dass heute ausgerechnet die Kritiker des rein kapitalistischen Gelddenkens für jede erbrachte soziale, kulturelle und zwischenmenschliche Dienstleistung einen Lohn fordern, der vorzugsweise von staatlichen Institutionen auf dem Weg der fiskalischen Umverteilung zu bezahlen wäre. Ist denn nur das, was mit Geld bezahlt wird, tatsächlich auch etwas wert? Werden Kapitalismuskritiker letztlich ungewollt zu Vorkämpfern des Staatskapitalismus? Muss wirklich jede menschliche Tätigkeit als «Schaden» am persönlichen Wohlbefinden und als Freizeitverlust mit Geld entschädigt werden oder gibt es auch Tätigkeiten, bei denen der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage nicht über Lohnausweise und Zahlungen stattfindet? Arbeit ist Bestandteil der Menschenwürde, aber die Reduktion jeder menschlichen Tätigkeit auf ihren Tauschwert in Geld hat etwas Entwürdigendes.

Ob die Geschichte von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, in dem es keinerlei Knappheit gibt, ein Fluch oder ein Segen sei, bleibt eine offene Frage. Sie ist der Ausgangspunkt der Menschheitsgeschichte, in der auf Herausforderungen immer wieder neue Antworten gesucht worden sind, in der Theologie, in der Philosophie, in den Natur- und Sozialwissenschaften und in der Politik aller Parteien. Nach der im Alten Testament überlieferten Schöpfungsgeschichte ist die Vertreibung aus dem Paradies der Fülle in eine Welt der Knappheit die Folge des Sündenfalls, der darin besteht, dass der Mensch sich die Fähigkeit anmasst, «zwischen Gut und Böse zu unterschieden».

Der real existierende Korporatismus

Von einem durch Menschen bewirkten Paradies auf Erden, d. h. von der Aufhebung der Knappheit hat vor Karl Marx schon Heinrich Heine geträumt. Heute schwärmen auch die Anhänger künstlicher Intelligenz von einem Zeitalter, in der die Technologie die Menschen von der Last der Knappheitsüberwindung durch Arbeit weitgehend befreit und «die Gesellschaft», wer immer das auch sei, die Produktivität nach irgendeinem gerechten Schlüssel verteilt und umverteilt. Beide Zukunftsvorstellungen sind realitätsferne und anmassende Utopien.

«Wenn Marktwirtschaft institutionell behindert wird, versiegt die Innovations- und Lernbereitschaft, und in verkrusteten etatistischen Strukturen breiten sich Mangelwirtschaft, Rationierung und Korruption aus.»

Wirtschaft beruht auf dem Umgang mit vielfältigen und wechselnden Knappheiten, der Staat beruht auf der gleichmässigen Anwendung des Zwangsmonopols. Was «die Wirtschaft will» und was im Interesse aller an ihr Beteiligten und Betroffenen liegt, kann nicht objektiv ermittelt werden.

Der Korporatismus, das heisst das vertraglich verträgliche Zusammenwirken von Wirtschaft und Staat, ist weltweit Bestandteil der politischen Realität. Er beruht auf einem Deal zwischen organisierten Wirtschaftsvertretern und Bürokraten, wobei die jeweilige Vormacht schwer auszumachen ist. Im Staatskapitalismus ist es eindeutig das politische System, und es gibt Gründe zur Annahme, dass jeder Korporatismus zum Staatskapitalismus tendiert.

Ungünstige Effekte

Arbeit gegen Lohn wird heute mehrheitlich nicht mehr auf offenen Märkten individuell und frei ausgehandelt, sondern beruht auf allgemein verbindlichen arbeitsrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen, die kollektiv vereinbart sind. Die vorherrschende korporatistische Vernetzung von Staat und organisierter Wirtschaft begann schon im 19. Jahrhundert durch Kollektivverträge mit der institutionalisierten Zusammenarbeit von Arbeitgebervertretungen und gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern. Dieser Korporatismus hat zu Arbeitsverhältnissen geführt, die nicht mehr von einem freien Arbeitsmarkt, sondern von einem politisch abgesegneten Deal zwischen kollektiven Organisationen bestimmt wurden und werden.

Dass dieser Deal die Arbeitnehmenden vor allem in Zeiten der Arbeitslosigkeit vor Ausbeutung und Verarmung geschützt habe, ist das über die Parteigrenzen hinweg weit verbreitete, aber dennoch fragwürdige Narrativ. Tatsache ist vielmehr, dass sich diese Vernetzungen durch «Allgemeinverbindlicherklärung» staatlich erzwingbarer Kollektivverträge mittel- und langfristig immer wieder auch zuungunsten der Arbeitnehmenden ausgewirkt haben. Staatliche Mindest- und Tariflöhne führen zu mehr Arbeitslosigkeit bei denjenigen, die bereit wären, auch für weniger Lohn zu arbeiten, statt Arbeitslosengelder zu beziehen, und sie «deckeln» dafür auf dem Arbeitsmarkt die Löhne für diejenigen, die etwas zunehmend Knappes anbieten.

Das ist, neben dem weitgehend verstaatlichten Bildungswesen, die Hauptursache des heute vorherrschenden und bitter beklagten Fachkräftemangels. Wenn Marktwirtschaft institutionell behindert wird, versiegt die Innovations- und Lernbereitschaft, und in verkrusteten etatistischen Strukturen breiten sich Mangelwirtschaft, Rationierung und Korruption aus.

Fachkräftemangel als Folge

Der heute beklagte und durch allerhand Fehlkonzepte bekämpfte Mangel ist eine Folge des weltweiten Korporatismus und Etatismus im Arbeits- und Bildungsbereich, der sich beileibe nicht regelmässig zugunsten der sozial Schwachen ausgewirkt hat. Er ist die Hauptursache der systembedingten Mangellagen und führt zu Zwangsmassnahmen, die in sehr vielen Fällen zulasten der Arbeitnehmer gehen. Korrekterweise müssten sie auf dem Arbeitsmarkt als Anbieter betrachtet werden, die in Mangellagen bei individuellen Lohnverhandlungen naturgemäss am längeren Hebelarm sitzen. Warum soll ausgerechnet auf Arbeitsmärkten das Prinzip nicht gelten, dass angesichts von Knappheiten der Lohn als «Preis der Arbeit» jenseits aller angeblichen «Tarifgerechtigkeit» steigt?

Leider gibt es nur wenige Ökonomen, die diese Zusammenhänge erforschen und adäquat beschreiben. Der Korporatismus mit seinen staatlich abgesegneten Dienst- und Besoldungsordnungen ist derart als «soziale Normalität» akzeptiert, dass kaum mehr jemand daran rütteln will, und alle Reformen innerhalb des real existierenden Sozialstaates nur «systemimmanent» als Milderung einer angeblich unabänderlichen Realität propagiert werden.

Generelle materielle und ideelle Fülle im Sinne eines «Alles für alle» wird es in einer begrenzten Welt nie geben. Die entscheidenden Knappheiten haben sich aber durch den Zivilisationsfortschritt verlagert und wirken in einer Dienstleistungsgesellschaft anders als in einer Agrargesellschaft und auch anders als in einer Industriegesellschaft, die – das sei zugegeben – noch nicht ganz überwunden ist. Das tagtägliche «auf demselben Fleck sitzen und stupide Tätigkeiten ausüben» beschreibt die Zukunft der Arbeitswelt zu pessimistisch. Die Chancen eines umfassenden Tätig-Werdens nehmen in einer Dienstleistungsgesellschaft zu, und die rein repetitive Arbeit wird zunehmend von Automaten erledigt werden.

Wirtschaft wird staatsähnlicher

Die von der organisierten Wirtschaft in einem «Deal» ausgeübten Zwänge sind vom Staat geborgt oder durch allseitigen Lobbyismus erschlichen. Die Wirtschaft wird durch das Andocken an der Staatsmacht selbst bürokratischer, strukturkonservativer, monopolistischer und machthungriger. Je weniger Staat und – vor allem – je weniger zwingend regulierenden Zentralstaat es gibt, desto grösser sind die Chancen einer für alle Beteiligten und Betroffenen zwangsarmen, wohlstandsfördernden Entwicklung aufgrund von spontanen Lernprozessen, die auf veränderte Knappheiten rasch reagieren.

Wer die Knappheit als Ausgangspunkt akzeptiert, braucht auch auf Arbeitsmärkten nicht auf das «Prinzip Hoffnung» zu verzichten, und wer die Unterscheidung zwischen selbstbestimmter Tätigkeit jenseits der reinen Erwerbsarbeit ernst nimmt, erst recht nicht. Offen bleibt die Option, nach einem stets unvollkommenen Glück zu streben, selbst im Wissen, dass Ideale nicht erreichbar sind. Im Lauf dieses Strebens gibt es so etwas wie kollektive Lernprozesse, die langsam sind und nie abgeschlossen werden. Sie sind auf Freiheit und Spontaneität und intrinsisch motivierte Mitmenschlichkeit angewiesen und werden durch zentralen Zwang, Hass und Neid gestört oder gar vereitelt.

Robert Nef ist Publizist und Mitglied des Stiftungsrats des Liberalen Instituts.


Quelle: https://www.fuw.ch/die-arbeitswelt-ist-ueberreguliert-595750684666

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