Zum Inhalt springen

Neutralität darf nicht zum Spielball der Parteipolitik werden

Lesedauer: 3 Minuten

(Nzz.ch, Gastkommentar, 29.03.2023)

In der Print-Ausgabe war der Titel «Neutral zu sein, ist eine Überlebensstrategie».

Die Neutralität ist nicht einfach ein verstaubtes Dogma. Eine glaubwürdige Neutralitätspolitik ist vielmehr wesentlicher Bestandteil unserer Identität.

Robert Nef

Das Rote Kreuz (hier auf der Flagge mit dem roten Halbmond) gründet auf der Idee der Neutralität.

Eine generelle Abschaffung der Neutralität wird heute nur von jener kleinen Minderheit gefordert, die (übrigens schon seit Jahrzehnten) den Nato-Beitritt der Schweiz empfiehlt. Durch einen solchen Beitritt würde die Schweiz in Sachen Sicherheit vollumfänglich zur Kolonie der USA. Wer behauptet, sie sei es ja – mindestens teilweise – schon heute, sollte sich besser für eine Reduktion dieser Abhängigkeit engagieren, statt sie zu verstärken und zu verewigen.

Die Neutralität ist heute nicht durch die kleine Minderheit ihrer Abschaffer gefährdet, sondern durch parteiübergreifend immer grösser werdende Gruppierungen, die sie durch zahlreiche Adjektive und Ausnahmen derart relativieren wollen, dass sie schrittweise ihre Glaubwürdigkeit gegen aussen verliert und faktisch vom Tisch ist.

Keine Gesinnungsneutralität verlangt

Die Neutralität eines Staates setzt übrigens keine Gesinnungsneutralität seiner Bevölkerung voraus. Das hat die grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer gegenüber Hitlerdeutschland, der Sowjetunion und China immer klar zum Ausdruck gebracht. Wer auch heute eindeutig für die dauernde und bewaffnete Neutralität ist, darf und muss sich klar von naiven Putin-Verstehern abgrenzen.

Die heutigen Neutralitätsabschaffer sind nach ihrem Selbstverständnis eine Elite, effektiv aber Opportunisten ohne Geschichtsbewusstsein, die sich einem innereuropäischen und transatlantischen Mainstream anpassen wollen. Es stimmt: Die Neutralität ist im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine in Europa und in den USA zurzeit extrem unpopulär. Südamerikaner, Inder und auch viele Asiaten sehen das anders. Kein Land kann «ein bisschen neutral» sein und ein nach aussen erklärtes Prinzip intern à la carte bis zur Unkenntlichkeit relativieren.

Die Neutralität ist nicht einfach ein verstaubtes Dogma. Sie ist ein tragendes Element des zur Zeit des Kalten Krieges entwickelten aussenpolitischen Viersäulenprinzips – «Neutralität, Solidarität, Disponibilität und Universalität». Für die Disponibilität im weitesten Sinn und die dauernde Universalität im Sinn der Weltoffenheit bildet sie eine unabdingbare Voraussetzung.

Am ehesten kann man noch ein Spannungsverhältnis mit dem Solidaritätsprinzip sehen, da eine Solidarität mit den jeweils Angegriffenen naheliegt. Das grosse und grossartige internationale Solidaritätswerk des Roten Kreuzes, das von der Schweiz aus gegründet wurde und seinen Sitz in Genf hat, ist ohne politische Neutralität undenkbar. Es kümmert sich um Kriegs- und Katastrophenopfer und fragt nicht nach der jeweiligen Nationalität und Kriegspartei.

Neutralität und Solidarität sind auch aus dieser Sicht durchaus kompatibel. Die Option, neutral zu sein und zu bleiben, ist zunehmend keine skurrile Besonderheit der Schweiz, sondern eine vernünftige Überlebensstrategie für viele Nationalstaaten mit vielfältig gemischten Bevölkerungen, gerade in Konfliktzeiten, in denen sich grosse Machtblöcke immer feindlicher gegenüberstehen.

Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass wir in einer vernetzten Welt leben. Eine totale Unabhängigkeit ist nicht möglich. Aber es ist entscheidend, für möglichst viel selbst verteidigte Eigenständigkeit einzustehen. Die Schweiz darf sicherheitspolitisch nicht zur Kolonie werden. Dies ist ein langfristig taugliches Ziel und hat nichts mit «Igel» oder «Schneckenhaus» zu tun.

Keine Annäherung an die Nato

Es gilt, sich heute gegen eine schrittweise Abschaffung der Neutralität zu wehren. Deshalb ist eine institutionelle Annäherung an die Nato, wie sie von Militärexperten und USA-Verehrern penetrant empfohlen wird, abzulehnen. Die USA vertreten legitimerweise im globalen Rahmen ihre nationalen Interessen. Aber ihr Anspruch, als globale Schutzmacht von Freiheit, Freihandel, Rechtsstaat und Demokratie aufzutreten und auch militärisch dafür zu kämpfen, ist nicht über alle Zweifel erhaben.

Es ist zu hoffen, dass die Diskussion rund um die Zukunft der Neutralität in den Medien auf einer sachlicheren Ebene geführt wird, als dies heute der Fall ist. Sie darf nicht auf eine einfache parteipolitische «Pro»- oder «Contra»-Position gegenüber der eben lancierten Initiative reduziert werden.

Die Initiative will die dauernde und bewaffnete Neutralität vor einer internen Kaputt-Interpretation durch zusätzliche mehrdeutige Adjektive verhindern. Ohne diese seit Jahren betriebene subtile Aushöhlungs- und Abschaffungspropaganda wäre die Verankerung in der Verfassung nicht nötig. Wer den Text sorgfältig analysiert, wird feststellen, dass er vorsorgliche Absprachen mit Nachbarn im Hinblick auf mögliche Angriffe nicht ausschliesst. Eine glaubwürdige Neutralitätspolitik ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität. Es geht um mehr als nur um ein parteipolitisches Tagesgeschäft.

Robert Nef ist Publizist und Mitglied des Stiftungsrates des Liberalen Instituts.

Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/neutralitaet-darf-nicht-zum-spielball-der-parteipolitik-werden-ld.1731307

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert