(Leader Oktober 2022, Seite 8)
Andersens Märchen entlarvt die Machtpolitik.
In Hans Christian Andersens Märchen erhält der Kaiser Besuch von einigen Scharlatanen, die ihm vorgaukeln, sie seien in der Lage, wunder bare Stoffe zu weben, die nur von intelligenten Menschen wahrgenommen werden könnten. Der Kaiser sieht sie nicht, was er seiner mangelnden Intelligenz zuschreibt. Auch sein ganzer Hofstaat sieht nichts, aber gibt vor, die teuren Kleider wahrzunehmen. Schliesslich geht der Kaiser mit den angeblich nur von Intelligenten wahrnehmbaren Kleidern nackt zu einer Prozession. Niemand sagt etwas, ausser ein kleiner Junge, der spontan ausruft: Der Kaiser ist nackt! Damit ist der Bann von Lüge, Anpassung, Heuchelei und der kollektiven Furcht vor deren Entlarvung gebrochen und der mächtige Kaiser der Lächerlichkeit preisgegen.
Die Lehre: Staatsmacht ist – insoweit sie auf Lug und Trug, Täuschung und blinder Gefolgschaft beruht – stets angemasste Macht. Ein wirksames Mittel dagegen ist der Humor. Was einmal als lächerlich entlarvt ist, hat – mindestens zunächst einmal – keine Macht mehr. «Man kann stets alle für eine begrenzte Zeit und einige für alle Zeit, aber nicht alle für alle Zeit zum Narren halten.» (Abraham Lincoln). Nach jeder Blossstellung angemasster Macht etablieren sich leider wieder neue Scharlatane mit neuen, noch nicht entlarvten Verheissungen. Das ist die Schattenseite der Machtpolitik.
Gibt es eine andere? Der Schlüsselbegriff für den freiheitlichen Umgang mit der Staatsmacht ist die «kreative Dissidenz» die sich mit Phantasie, Unternehmergeist und Humor beharrlich für Formen des zivilisierten Zusammenlebens auf der Basis freier Vereinbarungen einsetzt.
Robert Nef, Publizist St.Gallen