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Gegen eine Vermischung von Politik und Religion

Lesedauer: 2 Minuten

(Nzz.ch, 3.10.2022)

In den gescheiterten und noch existierenden Experimenten des real existierenden Sozialismus wurde der Staat jeweils immer totalitärer. Die Bereitschaft zur mitmenschlichen Hilfe und zur Hilfe zur Selbsthilfe nimmt in diesen Systemen der Zwangsumverteilung ab.

Robert Nef

Politik, Religion und Moral werden heute immer sorgloser miteinander verknüpft. Wenn Zwang, Solidarität, Sympathie und Liebe nicht mehr klar voneinander unterschieden werden, verschwinden auch die damit verknüpften persönlichen Verantwortlichkeiten in einem kollektiven Einheitsbrei.

Der Sozialstaat hat die Tendenz, vom mitmenschlichen sozialen Engagement zu dispensieren. Man muss nicht mehr vom Eigenen geben, sondern der Staat verteilt das um, was anderen «weggesteuert» wird. Es ist doch viel angenehmer, wenn via Steuern und staatsangestellte Funktionäre das anspruchsvolle Ermitteln von mitmenschlichen Bedürfnissen und Zuwendungsdefiziten wenigstens teilweise wegfällt. Die Politik soll aus dieser Sicht den letztlich religiösen Wunschtraum nach mehr sozialer Gerechtigkeit pauschal und generell erfüllen.

Christsein und der Staat

Weit verbreitet ist die These, das Christsein müsse sich im Staat durch sozialistisches oder sozialdemokratisches Engagement bewähren, da nur dieses die Politik mit Solidarität und Mitmenschlichkeit verknüpfe.

Diese Auffassung blendet aus, dass der Sozialismus ideengeschichtlich im Materialismus und im naturwissenschaftlichen Determinismus wurzelt, in dem ursprünglich weder die Religion noch die Freiheitsidee Platz hatte. Wenn das (materielle) Sein das (ideelle) Bewusstsein abschliessend bestimmt, geht es in der Politik nur darum, die Gesetze der Menschen mit den Gesetzen, die den Gang der Natur und den Gang der Geschichte bestimmen, in Einklang zu bringen. Für Phänomene wie Freiheit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe oder gar für das Wagnis der Feindesliebe gibt es in diesem Weltbild wenig Raum.

Ob man als Sozialist die einzige mit der Natur und mit dem «richtigen Bewusstsein» des Menschen kompatible soziale Ordnung auf demokratischem Weg (bei dem die Mehrheit eine Minderheit zwingt) oder auf diktatorischem Weg (bei dem die einsichtige Minderheit die uneinsichtige Mehrheit zwingt) verwirklichen will, ist lediglich eine methodische Frage, die bekanntlich zur Spaltung des Sozialismus in einen revolutionär klassenkämpferischen und einen evolutionär demokratischen Flügel geführt hat.

Weit verbreitet ist die These, das Christsein müsse sich im Staat durch sozialdemokratisches Engagement bewähren.

Selbstverständlich hat es unter Sozialisten verschiedene Versuche gegeben, die zunächst zwingend aus dem naturwissenschaftlichen Sein abgeleiteten sozialen Bedürfnisse und Ansprüche auch mit dem christlichen Liebesgebot in Übereinstimmung zu bringen. Man hat das Ideal der klassenlosen Gesellschaft mit dem Ideal einer Gesellschaft verknüpft, in der jeder dem andern aus Liebe und in Liebe dient.

Aus dieser Sicht ist es aber in einer politischen Gemeinschaft unabdingbar, dass – mindestens in einer Übergangsphase – jene, die nicht aus einer im Glauben verwurzelten christlichen Liebe, sozial, hilfsbereit und solidarisch sind, notfalls eben durch politischen Zwang dazu gebracht werden.

Der Staat als Zwangsmotor

Die christliche Liebe wirkt als der Wind in den Segeln, der das Gesellschaftsschiff ans Ufer des sozialistischen irdischen Paradieses bringen soll, und der Staat ist der Zwangsmotor, der bei allfälligen Flauten aushilft, die Fahrt beschleunigt und erträglicher macht, unter anderem durch erzwungene Umverteilung und steuerfinanzierte Sozialpolitik.

Das tönt plausibel, ist aber höchst fragwürdig, weil sich Liebe und Zwang in letzter Konsequenz gegenseitig ausschliessen. Das ist auch der polit-psychologische Grund, warum in den gescheiterten und noch existierenden Experimenten des real existierenden Sozialismus der Staat alles andere als abgestorben ist, sondern immer totalitärer wurde.

Bisher haben alle sozialistischen Experimente, auch das chinesische, dazu geführt, dass der Staat mächtiger, zentralistischer und nationalistischer geworden ist und die für Christen wichtige Bereitschaft zur mitmenschlichen Hilfe und zur Hilfe zur Selbsthilfe deutlich abgenommen hat.

Robert Nef ist Publizist; er war Mitbegründer des Liberalen Instituts und ist heute Mitglied des Stiftungsrates.


Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/gegen-eine-vermischung-von-politik-und-religion-ld.1702283

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