(Finanz und Wirtschaft – Meinungen)
Eine Ordnung des Ausgleichs und des Fortschritts zu «mehr sozialer Gerechtigkeit»? Die wohlfahrtsstaatliche Komfortzone ist nicht nachhaltig finanzierbar. Und sie ist strukturkonservativ. Ein Kommentar von Robert Nef.
«Viele ehemals Bürgerliche erliegen einem zunehmenden Gesinnungskollektivismus, den sie für fortschrittlich halten. »
Die Warnung vor einem weltweiten Vormarsch des Neoliberalismus steht heute in vielen Medien und auch in wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bestsellern im Vordergrund. Die Neoliberalen sind zum Feindbild derjenigen geworden, die behaupten, eine menschenfreundlichere, sozialere und ökologischerer Lebensweise jenseits von Marktwirtschaft und Kapitalismus gefunden zu haben.
Ob die als fortschrittlich bezeichnete Alternative näher bei einem gesteigerten Staatsinterventionismus kombiniert mit noch mehr erzwungener Umverteilung liegt oder bei einer umfassenden Verstaatlichung entscheidender Lebensbereiche und einer staatlichen Kontrolle des Konsumverhaltens, bleibt offen. Einig ist man sich nur über das gemeinsame Ziel «mehr Staat» und über das gemeinsame Feindbild: den Neoliberalismus, der mit der Vorherrschaft eines menschenfeindlichen Kapitalismus gleichgesetzt und als grosse Bedrohung des sozialen Friedens und des ökologischen Gleichgewichts dargestellt wird. Mit dem Begriff Neoliberalismus wird eine ausgeprägt kapitalistische und staatskritische Ideologie bezeichnet.
Diese Terminologie widerspricht allerdings historischen Tatsachen. Als Neoliberale bezeichneten sich in der Zwischenkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts Ökonomen, die nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges einen neuen Kompromiss zwischen offenen Märkten und regulierenden Staaten anstrebten. Sie grenzten sich bewusst von denjenigen Gegnern des Sozialstaates und der Gemeinwirtschaft ab, die die vollständige Trennung von Staat und Wirtschaft anstrebten und den Staat höchstens als Inhaber der Polizeigewalt und der Selbstbehauptung befürworteten.
Wirklich liberale Stimmen werden selten
Die Neoliberalen waren also gegenüber einer neuen Funktionsabgrenzung von Staat und Wirtschaft staatsfreundlicher als die Liberalen des 19. Jahrhunderts. Solche terminologischen Finessen werden heute in die akademische Diskussion aber abgedrängt, in der wirklich liberale Stimmen immer seltener werden. Sie sind lediglich noch Gegenstand von innerliberalen Flügelkämpfen zwischen Anhängern unterschiedlicher Schulen.
Die Politik und ihre medialen Kommentatoren und Promotoren bevorzugen Kampfbegriffe und Feindbilder. Marktwirtschaft ist aus der Sicht der Gegner des Neoliberalismus nicht die Quelle eines weltweit zunehmenden Wohlstands für alle, sondern höchstens ein «notwendiges Übel», das dem Staat die Einkünfte verschafft, die er zur Aufrechterhaltung seiner immer umfassender organisierten Daseinsvorsorge einsetzt.
Man ist nicht total gegen Markt und Privateigentum, aber man unterstützt alle sozialpolitischen und ökologisch motivierten Mittel, die die angeblich egoistisch ausgerichtete Wirtschaft mit einer angeblich sozial ausgerichteten Umverteilungspolitik in Einklang bringen. Der Staat als Versorger, Fürsorger und Vorsorger für alle und die Wirtschaft als notwendiges Übel. Dabei wird vergessen oder verdrängt, dass der Staat nur das verteilen und umverteilen kann, was vorher in der Wirtschaft verdient worden ist.
Tatsächlich hat sich heute in Europa und in den USA ein Neo-Etatismus etabliert, der auf einer engen Verflechtung von Staat und Wirtschaft basiert und bei dem nicht nur der kontinuierlich wachsende Staatsapparat und die ihn stützende Politik, sondern auch zahlreiche Branchen der Wirtschaft durchaus an «mehr Staat» und «mehr Umverteilung» interessiert sind.
Risiko der Freiheit? Nein danke.
Auch die Privatwirtschaft beruht in einer Dienstleistungsgesellschaft heute immer mehr auf einer raffinierten Bewirtschaftung von staatlichen und privaten Vernetzungen, die zunehmend zentraler und intransparenter werden. Je mehr der Staat die Wirtschaft reguliert und bestimmt, desto mehr ist die Wirtschaft gezwungen, diese von der Realität der Knappheiten und der nicht staatlich beeinflussten Angebote und Nachfragen abweichenden Netzwerke von Regulierungen möglichst raffiniert zu bewirtschaften und den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Die Politik der Wirtschaftsintervention provoziert eine Wirtschaft, die das Netzwerk der Interventionen zu ihren Gunsten nutzt und weiterentwickelt.
Kein Wunder, dass es weder in der Wissenschaft noch in der Publizistik grosse Anreize gibt, sich mit den Schattenseiten des Neo-Etatismus auseinanderzusetzen und den Staat vermehrt zu kritisieren, statt seinen kontinuierlichen Ausbau zu rechtfertigen. Dieser Trend bei den meinungsbeeinflussenden Intellektuellen trägt dazu bei, dass sich auch die Mehrheit der Bevölkerung vom wenig populären «Risiko der Freiheit» verabschiedet. Ein mehr oder weniger ausgeprägter Neo-Etatismus prägt den Zeitgeist.
Der Neo-Etatismus ist aber auf längere Sicht unfähig, mit den Herausforderungen des weltweiten Bevölkerungswachstums und der sich wandelnden Knappheit natürlicher Ressourcen fertigzuwerden. Seine Rezepte beruhen auf Zwang, Rationierung und Verboten, die erfahrungsgemäss vielerorts umgangen und durch Korruption «weggekauft» werden. Das marktwirtschaftliche Gegenkonzept «je knapper, desto teurer» wird als «ungerecht» angeprangert.
Wo bleibt die bürgerliche Staatsskepsis?
Anstelle einer lautstarken Kritik am Neoliberalismus wäre es an der Zeit, einmal die ihm entgegengesetzte Ideologie des Neo-Etatismus unter die Lupe zu nehmen und die sowohl ökonomisch als auch ökologisch zunehmend auftretenden Schattenseiten und Nebenwirkungen zu analysieren. Eine fundierte Kritik des politisch gut gemeinten, aber effektiv schon mittelfristig kontraproduktiven Staatsinterventionismus ist vordringlich. Die zunehmend umfassende Verstaatlichung zentral bedeutsamer Lebensbereiche wie Gesundheit, Bildung und Kultur macht eine grosse Mehrheit von Menschen staatsabhängig und staatssüchtig und hemmt den Fortschritt.
Die erfahrungsgestützte bürgerliche Staatsskepsis mit historischen Wurzeln bis in die Zeiten des Feudalismus hinein ist in den letzten zwei Generationen beinahe verstummt. Viele ehemals Bürgerliche erliegen einem zunehmenden Gesinnungskollektivismus (Eduard Kaeser), den sie für fortschrittlich halten. Sie sind auf einem Rückzug in die populäre wohlfahrtsstaatliche Komfortzone.
Verdrängt wird dabei, dass sie nicht nachhaltig finanzierbar sein wird. Aber das ist ja dann die Sorge kommender Generationen, denen wir die Schulden und Lasten vererben und die uns nicht mehr politisch zur Verantwortung ziehen können.
Falsche Behauptungen
Zahlreiche ursprünglich Bürgerliche identifizieren sich inzwischen derart intensiv mit dem von ihnen mitaufgebauten Daseinsvorsorgestaat, dass sie das Mass an Staatsabhängigkeit und Bevormundung, das vor allem für die untere Mittelklasse damit verbunden ist, gar nicht mehr wahrnehmen. Sie haben selbst die Mentalität der «gesellschaftlich Benachteiligten» assimiliert und nähern sich damit der Grundhaltung des Neides, der nicht mehr aufstiegsorientiert ist, sondern auf eine zusätzliche Belastung der Beneideten abzielt.
Der Staat ist zum umfassenden Freund und Helfer, zum Organisator von Arbeit, Bildung, Gesundheit und Kultur geworden, dem eine grosse Zahl der Bevölkerung mit blindem Vertrauen mehr als ein Drittel der Einkünfte relativ bereitwillig abliefert. Auch die sozialversicherungstechnische Lebensplanung und die arbeitsrechtliche Verregulierung werden kaum mehr hinterfragt, selbst dort, wo sie eigentlich effektiv die ohnehin einflussreichere Seite stützen und keine echte soziale Komponente mehr haben.
Der Neo-Etatismus, der stets auch zu immer mehr Zentralismus führt, behauptet, eine Ordnung des Ausgleichs und des Fortschritts zu «mehr sozialer Gerechtigkeit» zu sein. Tatsächlich ist er strukturkonservativ und stützt die aktuellen Profiteure unter den inzwischen weit über 30% direkt oder indirekt voll Staatsfinanzierten.
Robert Nef ist Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts.
Quelle: https://www.fuw.ch/article/warnung-vor-dem-neo-etatismus