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Ohne Neutralität keine Freiheit

Lesedauer: 3 Minuten


(Weltwoche Nr. 21.22, Seite 42)

Es ist modisch geworden, Freiheit und Neutralität in der Schweiz gegeneinander auszuspielen. Hier räumt ein bedeutender Schweizer Liberaler mit den Missverständnissen auf.

Robert Nef

Unter dem Eindruck des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges in der Ukraine kommt es in der Schweiz in unterschiedlichen parteipolitischen Lagern zu fast panikartigen Reflexen. Die Schweiz, so wird behauptet, müsse sich unbedingt sicherheitspolitisch besser vernetzen. Sowohl die Idee eines Anschlusses oder eines Teilanschlusses der Schweiz an die Nato als auch die einer raschen Integration der Schweiz in eine von aussen gestützte Sicherheitsarchitektur der EU entspringt einem unüberlegten Reflex, der sich auf keine historischen Erfahrungen abstützen lässt.

Bedeutet der Beitritt zu einem Bündnis tatsächlich einen Verlust an Freiheit, und bedingt Vernetzung automatisch auch Verstrickung? Einmal mehr ist es ratsam, die Sprache beim Wort zu nehmen. Selbstverständlich gehört die Option, sich mit jemandem zu verbinden und zu verbünden zur Freiheit, aber jedes Bündnis ist auch eine Bindung und als solche mit einem Verzicht auf Eigenständigkeit verknüpft. Die dauernde Neutralität im Sinn der Bündnisfreiheit ist mehr als eine bisher historisch bewährte aussenpolitische Maxime auf Abruf. Sie ist eine tragende Säule der Freiheit und Eigenständigkeit.

Lehrstück in Selbstverteidigung

Selbstverständlich ist niemand angesichts eines völkerrechtswidrigen Angriffs zu einer «moralischen Neutralität» verpflichtet. Zu Recht ist die Sympathie der Schweizerinnen und Schweizer auf der Seite der sich selbst verteidigenden Ukraine, und die Hoffnung auf einen – mindestens in historischer Perspektive – nachhaltigen Erfolg der Verteidiger ist nicht unberechtigt. Als «Befreier» werden die Angreifer, selbst bei der russophilen Minderheit in der Ukraine, nie mehr wahrgenommen werden. Dieses Ziel haben die Angreifer auf jeden Fall für immer verfehlt und in ihr Gegenteil verkehrt.

Chancenlos ist der bewaffnete Widerstand jedenfalls nicht, selbst wenn er nicht von aussen militärisch gestützt wird. Das ist auch für andere Staaten, die möglicherweise einmal Opfer eines Angriffs werden, ein Lehrstück. Auch jene, die rein militärisch auf sich allein gestellt sind und im Angriffsfall nicht unterstützt werden, haben eine Überlebenschance. Der Vernetzungsreflex der Schweiz ist also alles andere als rational. Sicherheit durch organisierte Kooperation ist stets prekär. Mächtige, grosse Staaten intervenieren selten als selbstlose Hilfeleister zugunsten von Kleineren, sondern verfolgen ihre eigenen macht- und wirtschaftspolitischen Ziele.

Es ist entwürdigend, wenn sich ein Land durch das Blut anderer als Trittbrettfahrer verteidigen lässt.

Selbst der Einsatz der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg in Europa fand erst statt, als sie sich an ihrer pazifischen Flanke in Pearl Harbor durch den Angriff der Japaner selbst gefährdet sahen. Dies motivierte sie, definitiv im längerfristigen Eigeninteresse für einen gemeinsamen Kampf gegen die auch für die USA gefährliche Allianz Berlin–Rom–Tokio.

Was bedeutet das für die Schweiz? Prinzipien sollte man nie von Fall zu Fall an Emotionen anpassen. Wirksam bewaffnete Neutralität und vorbereiteter Widerstand im Rahmen einer Gesamtverteidigung ist jedem Bündnis vorzuziehen. Bündnisse werden für die Schweiz erst aktuell, sobald das eigene Territorium angegriffen wird.

Als offene, vorbehaltene Entschlüsse gegenüber verschiedenen potenziellen Angreifern sind sie durchaus erwünscht und nicht neutralitätswidrig. Aber dazu braucht es keinen Beitritt oder Teilbeitritt zur Nato oder zur EU.

Basis der Nichtaggression

Die Ideen der Selbstverteidigung einerseits und des glaubwürdigen Verzichts auf Angriffsfähigkeit anderseits sind alles andere als veraltet. Sie sind ein wirksamer Beitrag zum Weltfrieden und taugen global auch für andere kleinere und mittlere Staaten. Bewaffnete Neutralität ist nicht Gegenstand eines besonders patriotischen «Sonderfalls» einer «auserwählten Schweiz». Das Schweizerische daran ist die Tatsache, dass sie sich in der Vergangenheit in unterschiedlichen Konstellationen bewährt hat.

Neutralität ist ihrem Wesen nach auch eine zutiefst ökonomische Maxime. Für jemanden der etwas herstellt und auf offenen Märkten verkaufen will, gibt es primär weltweit keine Feinde und Freunde, sondern nur potenzielle Kunden, deren Bedürfnisse im besten Sinn befriedigt werden sollen. Märkte beruhen auf einem Friedensangebot an alle, die ihre Produkte und Dienstleistungen ebenfalls auf der Basis der Nichtaggression friedlich anbieten. Ob sich daraus Freundschaft und sogar Gemeinschaft entwickelt, bleibt stets offen und ist nicht zwingend.

Das alles spricht für die Überzeugung, dass sich auch die europäischen Länder und speziell die ehemaligen Ostblockländer primär selbst verteidigen müssen. Sie dürfen sich weder auf «importierte Sicherheit» durch US-Berufssoldaten und elektronisch gestützte Waffensysteme verlassen noch auf eine weitgehend inexistente europäische Sicherheitsarchitektur. Das macht sie in aller Zukunft zu sicherheitspolitischen «Kolonien» der sogenannten Schutzmächte.

Eigentlich ist es entwürdigend, wenn sich ein Land durch das Geld, das Know-how und letztlich auch durch das Blut anderer als Trittbrettfahrer verteidigen lässt. Diese Art von Schützenhilfe macht die Helfenden zu Herrschenden.

Robert Nef ist Publizist in St. Gallen.

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