(Leserbrief, St. Galler Tagblatt, 27. Dezember 2021, S.25)
Heute wird vor allem bei Dienstleistungen im Gesundheitswesen das Gespenst der „Triage“ an die Wand gemalt. Französisch „trier“ bedeutet bei Menschen „sorgfältig aussuchen“ und nicht diskriminieren. Die klare Unterscheidung nach bestimmten Kriterien ist ein zwar anspruchsvoller aber nicht ungewöhnlicher Vorgang im menschlichen Denk- und Handlungsprozess, der nicht nur in Notlagen stattfindet, aber dort höhere Anforderungen stellt. Auch an sich unbedeutende Entscheidungen, können einen Kaskade von schweren Folgen auslösen. Dass alle Menschen permanent mit dem Phänomen knapper Ressourcen und mit einer stets begrenzten Zeit konfrontiert sind, gehört zu unserem Schicksal. Auch ein staatlicher Leistungsauftrag spielt sich grundsätzlich in einer Welt begrenzter Ressourcen ab, und jede Handlungsmöglichkeit stösst einmal an die Grenzen einer konkreten Realität. Begrenzungen sind übrigens nicht immer ein Fluch, sondern oft auch eine willkommene Beschränkung eines masslosen Machbarkeitswahns. Nicht nur Ärzte und Pflegende müssen Entschlüsse fassen, die direkt oder indirekt für andere schwerwiegende Folgen haben. Kein Einzelfall kann mit allen, oft einzigartigen Vernetzungen in Reglementen vorausgesehen werden. Richtlinien und Experten sind oft hilfreich, aber sie können den konkreten Entscheid weder vorwegnehmen noch ersetzen. Oft gibt ein unvorhersehbares sehr spezifisches Motiv den Ausschlag. Der Ruf nach immer mehr zentralen Expertengremien, die immer kompliziertere auslegungsbedürftige Richtlinien verfassen, ist meist ein Ausweichmanöver gegenüber der Übernahme von persönlicher Verantwortung. Auch das Ausweichen auf den Losentschied ist eine Flucht vor der Verantwortung. Den persönlichen Entschluss kann einem auch der Zufall nicht abnehmen. Die „letzten Gründe“ für einen persönlichen Entscheid lassen sich kaum je aufschlüsseln, und sie entziehen sich deshalb auch der vorgängigen oder nachträglichen Beurteilung durch Experten.
Robert Nef, Publizist, St. Gallen