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Bürgerliche Sympathien

Lesedauer: 2 Minuten


(Weltwoche Nr. 48, 2. Dezember 2021, Seite 40)

Das Ja zur Pflegeinitiative gilt als Erfolg der Gewerkschaften. Dabei kam das Anliegen ursprünglich von rechter Seite.

Von Robert Nef

Das Anliegen der Pflegeinitiative ist jetzt in den ersten Abstimmungskommentaren durchwegs unzutreffend dargestellt worden. Ihr Ursprung ist nämlich nicht auf Gewerkschaftsseite, sondern ist die parlamentarische Initiative Joder (SVP BE), die am 16. März 2011 mit dem Titel «Gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege» eingereicht wurde. Da das Parlament nicht auf die von einem SVP-Parlamentarier eingereichte Initiative eintrat, wollte sich der Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) über den Weg des Volkes Gehör verschaffen und lancierte im Januar 2017 eine Initiative mit dem Titel «Für eine starke Pflege» (Pflegeinitiative).

Damit knüpfte der Berufsverband an den Vorstoss der Hausärzteschaft an, die 2009 eine Initiative eingereicht hatte, deren direkter Gegenvorschlag zur medizinischen Grundversorgung 2014 dann einen Ja-Stimmen-Anteil von 88 Prozent erreichte. Das Initiativkomitee der Pflegeinitiative war breit abgestützt: Unter den 27 Urheberinnen und Urhebern befanden sich neben Ärztinnen und Ärzten sowie Personen aus dem Pflegebereich zahlreiche (ehemalige) Nationalrätinnen und Nationalräte von allen grösseren Parteien – mit Ausnahme der FDP. Von einem «klaren und erstmaligen Sieg» von Links/Grün und Gewerkschaften bei der Pflegeinitiative kann daher keine Rede sein.

Kontraproduktive Kampagne

Bei der parteipolitischen Beurteilung des Abstimmungsresultats von 61:39 ist – unabhängig vom konkreten speziellen Abstimmungsverhalten bei diesem Urnengang – vom jeweiligen Wähleranteil der Parteien auszugehen. Dieses Bild präsentiert sich wie folgt: FDP 15 Prozent, Mitte/CVP 11 Prozent, SP 17 Prozent, SVP 25 Prozent, Grüne 13 Prozent, Übrige 19 Prozent.

Angenommen, SP und Grüne haben geschlossen mit Ja gestimmt und die Mitte zur Hälfte, dann führt dies erst zu 35 Prozent Ja- Stimmen. Es haben also immer noch gut 25 Prozent der SVP- und der FDP-Wählerschaft mit Ja gestimmt. Ich selbst gehöre als FDP-Mitglied zu diesen 25 Prozent.

Die Bevölkerung stimmte generell sympathiebezogen und nicht parteipolitisch – wobei zu bemerken ist, dass auch viele Nein- Stimmende an die meiner Ansicht nach eher fragwürdige Behauptung geglaubt haben, ein Nein zur Initiative führe über den indirekten Gegenvorschlag schneller und effizienter zu einer Förderung der Pflegeberufe. Es kann doch nicht sein, dass ein klares Volksmehr zur Förderung eines generellen Anliegens im Parlament tatsächlich einen Bremseffekt hat! Die Meinung, die Nein-Stimmenden seien grundsätzlich gegen eine Förderung der Pflege gewesen, entbehrt jeder Grundlage.

Die Bevölkerung stimmte generell sympathiebezogen und nicht parteipolitisch.

Die Grundsympathie gegenüber dem Pflegeberuf ist, auch unabhängig von der Pandemie, gross. Sie übertrifft alle Bedenken der konsequenten «Verfassungskosmetiker», die davon ausgehen, dass die Förderung einer speziellen Berufsgattung, so wichtig sie auch sei, grundsätzlich nicht in die Verfassung gehöre.

Nun zum pikanten Punkt: Was erklärt den Rückgang von ursprünglich über 70 Prozent zu den jetzt 61 Prozent Befürwortenden? Es gab wohl eine grössere Zahl an Stimmenden, die von einem ursprünglichen Ja zu einem Nein kippten, weil sie die überrissenen gewerkschaftlichen Postulate, bezüglich Lohn, Zulagen und Frühpensionierung, die im Initiativtext gar nicht enthalten sind, einfach nicht auf die Verfassungsstufe heben wollten. Die laute und unsympathische gewerkschaftliche Kampagne für ein Ja, die an populistische Protestund Streikbewegungen erinnerte und eigentlich nicht zum Pflegeberuf passte, war für die Initiative also nicht nur überflüssig, sondern klar kontraproduktiv.


Robert Nef ist Publizist in St. Gallen.

Weltwoche Nr. 48, 2. Dezember 2021, Seite 40

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