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Was ist heute «links», was «rechts»?

Lesedauer: 5 Minuten

(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Samstag, 17. Juli 2021, Seite 21)

Die in der Politik gebräuchliche Unterscheidung von «links» und «rechts» führt in die Irre, weil sie auf einer fragwürdigen Vorstellung von Fortschritt und Bewahrung basiert. Gastkommentar von Robert Nef

Links gilt als fortschrittlich, gemeinschaftsbezogen und veränderungsfreudig, als pro Umverteilung und pro internationale Vernetzung – rechts gilt als konservativ, individualistisch, als pro Privateigentum, pro offene Märkte und pro nationale Souveränität. Das ist das klassische Schema der Charakterisierung von Parteien, das sich seit der Französischen Revolution eingebürgert hat.

Die Rechten, die am Alten festhalten wollten, waren damals die Anhänger des Feudalismus – eine inzwischen obsolet gewordene Option, es sei denn, man gehe davon aus, dass die ehemaligen Feudalherren durch die heutigen Bürokraten in der Zentralverwaltung abgelöst worden seien. Aber diese würden sich heute vielerorts vehement gegen die Bezeichnung «rechts» wehren.

Neuer rot-grüner Kompromiss

Im 19. Jahrhundert verschob sich der Linksrechts- Graben von «feudalistisch gleich rechts» und «egalitär gleich links» auf «bürgerlich-national » einerseits und «sozialistisch-international» anderseits. Im 20. Jahrhundert kam es im Faschismus und im Nationalsozialismus zu besonders aggressiven Mischungen von Nationalismus und Sozialismus, d. h. von zwei antiindividualistischen, etatistischen Gemeinschaftsmythen. Sie werden üblicherweise als «rechts» bezeichnet, obwohl sie mit bürgerlichen und liberalen Idealen nichts zu tun hatten und einen Primat des Staates und der Politik forderten.

Nach den beiden Weltkriegen und nach dem Kalten Krieg haben sich weltweit mehr oder weniger sozialdemokratische Regierungen durchgesetzt, die allerdings auf eine produktive Wirtschaft angewiesen sind, um ihre populären Umverteilungsprogramme finanzieren zu können. Weil bei der Umverteilung die Nettozahler stets der Meinung sind, man nehme ihnen zu viel weg, und die Nettoempfänger stets mehr zu ihren Gunsten fordern, ist der sogenannte Semi-Sozialismus nicht stabil. Es bahnt sich die Erkenntnis an, ein Fortschreiten zu noch mehr Umverteilung führe früher oder später zu einem ökonomischen Zusammenbruch, den es zu verhindern gelte.

Demgegenüber prognostizieren kapitalismuskritische Ökonomen einen Systemzusammenbruch des Kapitalismus wegen des Grabens zwischen Arm und Reich und fordern mehr interpersonelle und internationale Umverteilung. Die Umverteilungspraktiker und -taktiker in der Politik agieren angesichts dieser Kontroverse vorsichtig und tendieren dazu, die bestehenden Kompromiss-Strukturen durch schrittweisen Ausbau zu konservieren und die erkämpften politischen Positionen zu stabilisieren, um ein Abgleiten ins gemeinsame ökonomische oder ökologische Desaster zu verhindern. Das ist der neue rot-grüne Kompromiss bei der Befürwortung eines kombinierten Umverteilungs- und Lenkungsstaates mit korporatistischen Strukturen.

Die in der Politik immer noch gebräuchliche Unterscheidung von «links» und «rechts» führt in die Irre, weil sie auf einer fragwürdigen Vorstellung von Fortschritt und Bewahrung basiert. Fortschritt kann nur definiert werden, wenn es ein definiertes Ziel des «Wohin?» gibt; und Bewahrung ist wertfrei, sofern man nicht sagt, was es denn in einer sich verändernden Welt, deren Veränderungen man vor allem auch aus ökologischer Sicht für fragwürdig hält, tatsächlich zu bewahren gilt.

Für Freiheitsfreunde gibt es nur einen Fortschritt, den Fortschritt zu mehr Freiheit. Wie fortschrittlich ist der bürokratisch organisierte Staat tatsächlich, und ist er in der Lage, notwendige technologische, ökonomische und ökologische Innovationen anzupacken und umzusetzen?

Stadt, Land, Agglomerationen

Eine neue Zweiteilung, die an das Links-rechts- Schema anknüpft, ist die in der Schweiz zurzeit aktuelle Unterscheidung von «urban» gleich fortschrittlich und «ländlich» gleich konservativ. Der Stadt-Land-Graben ist allerdings eine fragwürdige Konstruktion von Journalisten, Statistikern und Polit-Geografen, denn die oft ausschlaggebenden Agglomerationen lassen sich nicht eindeutig zuordnen.

Klar gibt es auch bei parteipolitischen Sympathien geografische Unterschiede, aber sie haben mehr mit der gegenseitigen Privilegierung von Etatisten zu tun, die ihresgleichen in den Städten (in städtischen Wohnungen) subventionierten Wohnraum anbieten, und mit der Tatsache, dass in Städten zunehmend staatsabhängige Leute aller Lebensalter und Vermögensklassen domiziliert sind. Städte sind oft eigentliche strukturkonservative Bürokraten-Nester des Wohlfahrtsstaats. Deren «Geist» ist nicht, wie behauptet wird, weltoffen urban, sondern staatsabhängig bevormundet. Die rot-grün Wählenden und Stimmenden entstammen einer «neue Klasse» von Umverteilungsgeld- Empfängern und Staatslohn-Finanzierten.

Eine etwas aussagekräftigere Basis gibt die Unterscheidung zwischen «Mehr Staat»-Parteien und «Weniger Staat»-Parteien. Aber auch diese Unterscheidung ist erklärungsbedürftig, weil es unterschiedliche qualitative Vorstellungen von der Rolle des Staates gibt und das rein quantitative «mehr» oder «weniger» diesbezüglich zu wenig Klarheit schafft. Die meisten Parteien fordern nicht «weniger Staat», sondern einen anderen Staat und «mehr Staat» zugunsten ihrer jeweiligen Klientel.

Für Freiheitsfreunde gibt es nur einen Fortschritt, den Fortschritt zu mehr Freiheit.

Die parteipolitisch entscheidende Weichenstellung liegt zwischen Rechtsstaat einerseits und Umverteilungsstaat anderseits, wobei es hier ausnahmsweise sinnvoll ist, präzisierende Adjektive anzufügen: liberaler Rechtsstaat und sozialistischer Umverteilungsstaat. Dies ist tatsächlich ein sehr fundamentaler Gegensatz.Weltweit gibt es die beiden Staatskonzepte nur noch in Mischformen. Dies trägt viel dazu bei, dass eigentlich nicht mehr um Prinzipien gestritten wird, sondern nur noch um die «richtige Mischung» oder um den derzeit optimalen Kompromiss.

Noch problematischer wird das Links-rechts- Schema, wenn es um die Rolle der Demokratie oder, genauer, des Mehrheitsprinzips geht. Ursprünglich waren es die fortschrittsbewussten Linken, welche «mehr Demokratie wagen» wollten und ganz generell eine Demokratisierung der Gesellschaft forderten. Sie gingen davon aus, dass sich eine Mehrheit von Ausgebeuteten gegen eine Minderheit von Ausbeutern durchsetzen müsse.

Heute wird generell allerseits die Gefahr der emotional propagandistischen Beeinflussung durch Populisten ernst genommen. Alle sind für Demokratie, aber kaum jemand für Populismus, dabei fordern sowohl Linkspopulisten als auch Rechtspopulisten mehr Rücksicht auf das, was sie den «wahren Volkswillen» nennen. Bei hohem Lebensstandard steigt auch die Angst vor politischer Veränderung, und dies stützt die Neigung zum Strukturkonservatismus. Demokratie wird so zur Bremse gegen notwendige Veränderungen, z. B. bei der Sanierung der Sozialversicherung.

Das Mehrheitsprinzip hat den Nachteil, dass es zwar den Wünschen der jeweiligen Mehrheit entgegenkommt, aber stets Minderheiten fremdbestimmt, die möglicherweise kreativer und aufgeklärter sind als die oft propagandistisch verführbaren Massen. Dies führt zu einer weiteren Zweiteilung der politischen Grundoptionen, die auf dem Links-rechts-Schema nicht abgebildet werden kann. Demokratie kann zentralistisch «top-down» organisiert werden oder non-zentralistisch «bottom- up», und die jeweiligen Resultate sind selten deckungsgleich. Im 19. Jahrhundert waren die damaligen Liberalen tendenziell zentralistisch und die Konservativen föderalistisch.

Die klassisch liberale Option gegenüber der Demokratie ergibt sich aus der Verknüpfung mit dem «Mehr Staat»- und «Weniger Staat»-Schema einerseits und dem Zentralismus und dem Non- Zentralismus andererseits. Je beschränkter die Zuständigkeit des Staates ist, desto mehr Demokratie kann gewagt werden; und je ausgeprägter der Wettbewerb zwischen lokalen, regionalen und nationalen Ordnungskonzepten ist, desto aktueller wird neben der politischen Option der Mitbestimmung die faktische Option des Domizilwechsels und die damit verknüpften kollektiven Lernprozesse bei der Entdeckung dessen, was funktioniert und was sich bewährt.

Eine zu mehr Freiheit fortschreitende Politik setzt auf Freiwilligkeit statt Zwang, auf offene, staatsunabhängige Kommunikation bei Ideen, Gütern und Dienstleistungen, auf Vereinbarung statt Regulierung, Eigenfinanzierung statt Subventionierung, Eigenständigkeit statt Zentralisierung und auf die Entlarvung von populären, opportunistischen Fehlkonzepten und populistischer Panikmache.

Wer bezahlt?

Angesichts dieser mehrdimensionalen und zum Teil überlappenden Kriterien wird deutlich, dass eine Reduktion der parteipolitischen Grundoptionen auf «links» oder «rechts» mehr Verwirrung stiftet als Klarheit schafft. Ohne jede Vereinfachung wird es allerdings für Individuen tatsächlich schwierig, sich im Einzelfall zu orientieren, und politische Gruppierungen haben Mühe, Programme zu formulieren, die allgemein verständlich und konsensfähig sind.

Sehr anspruchsvoll ist auch die politische Kostentransparenz, und darum dreht sich die Tagespolitik tatsächlich mehr um die Fragen, wer wie viel und für wen bezahlen soll und wer vom Staat wie viel bekommt. Leider ist die Verlagerung der Kosten auf künftige, in der Demokratie nicht vertretene Generationen immer noch eine breit akzeptierte Option, die sich auf dem Links-rechts-Schema ebenfalls nicht abbilden lässt. Fortschrittlich ist bzw. wäre eine Politik, die sich für einen Wettbewerb um mehr Freiheit und mehr Selbstbestimmung für künftige Generationen einsetzt.


Robert Nef war Mitbegründer des Liberalen Instituts und ist heute Mitglied des Stiftungsrates.

NZZ Samstag, 17. Juli 2021, Seite 21

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