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Ist die Einbürgerung ein politisch-dezisionistischer oder ein administrativer Akt?

Lesedauer: 13 Minuten

Ein Staatspolitisches Gutachten

Robert Nef, lic. iur. St. Gallen,

Zürich, den 2. Oktober 2007, erweitert und durch Ziffer 4 ergänzt im Mai 2008

Bemerkung zur seitherigen Entwicklung der Rechtspraxis zur Einbürgerung (Juni 2021):
Das Bundesgericht hat in zahlreichen Entscheiden, zuletzt 2019 im «Fall Arth» die Einbürgerung nicht als politischen Entscheid, sondern als Verwaltungsakt beurteilt. Es ist zu hoffen, dass im Hinblick auf die Europäisierung des Rechts der Staatsangehörigkeit die historisch verankerte genossenschaftliche Auffassung einer im kommunalen Recht verankerten Zugehörigkeit nicht völlig ignoriert wird. In diesem grundlegenden Bereich darf Völkerrecht Landesrecht nicht brechen. Dass Bürger und Bürgerinnen als Subjekte Mitglieder einer Willensgemeinschaft sind, gehört zu den essenziellen Wurzeln des eidgenössischen Staatsverständnisses. Diese Tatsache wird in letzter Zeit offenbar in ihrer grundlegenden Bedeutung von einer wenig geschichts- und traditionsbewussten Justiz unterschätzt. Der administrativ bestimmte und «Top down» bestimmende Obrigkeitsstaat steht im Widerspruch zur «Bottom up» aufgebauten Eidgenossenschaft.

Das Gutachten betrifft die eidgenössische Volksinitiative «für demokratische Einbürgerungen», (umgangssprachlich «Einbürgerungsinitiative»). Sie war von der Schweizerischen Volkspartei lanciert worden und wurde am 1. Juni 2008 abgelehnt.

Die Initiative wollte den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts als politischen Akt festlegen – Im Gegensatz zur gegenwärtigen Position des Bundesgerichts, die diesen Erwerb als Verwaltungsakt betrachtet. Eine Annahme hätte eine Erweiterung des 38. Artikels der Bundesverfassung zur Folge gehabt, die den Gemeinden erlaubt darüber frei entscheiden zu dürfen, welches Organ über Einbürgerungsentscheide (beispielsweise eine Bürgerversammlung, eine Einbürgerungskommission oder Urnenabstimmung) entscheidet. Ein gefällter Einbürgerungsentscheid wäre zudem endgültig gewesen, das Rekursrecht wäre also dadurch dem Einbürgerungswilligen entzogen worden.

Die Initiative wurde mit Volks- und Ständemehr in einem Stimmenverhältnis von 1 415 249 (64 Prozent) Nein gegen 804 730 (36 Prozent) Ja, bei einer Stimmbeteiligung von 45 Prozent deutlich abgelehnt.

1. Rechtsnatur der Einbürgerung

Das Bundesgericht ist bei den bisherigen Entscheidungen zur Einbürgerung vor allem von drei wegleitenden Fragestellungen ausgegangen.

  1. Ist die Einbürgerung ein politischer Akt oder ein Verwaltungsakt?
  2. Inwiefern hat bei der Einbürgerung das Demokratieprinzip oder das Rechtsstaatsprinzip Vorrang?
  3. Verletzen verweigerte Einbürgerungen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot?

Bei der ersten Fragestellung hat es sich für den Verwaltungsakt entschieden, der in einem Rechtsstaat sowohl sachlich begründet als auch gerichtlich anfechtbar sein muss. Bei der zweiten Fragestellung gibt es konsequenterweise dem Rechtsstaatsprinzip den Vorrang. Bei der dritten Fragestellung hat es zwar einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung verneint, aber bei der Ablehnung eines Gesuchs unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot eine justiziable Begründung verlangt.

Indem es die Einbürgerungsfrage in den Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot (Art 8 Abs. 2 BV) stellte, blendete das Bundesgericht den wesentlichen Kern des Problems aus, nämlich die Tatsache, dass es gute Gründe gibt, die Einbürgerung als Wahlverfahren zu deuten, das gerade dadurch charakterisiert ist, dass es automatisch alle Nicht-gewählten diskriminiert. Wählen ist per definitionem ein Akt der Willkür, der die Gewählten privilegiert und die Nicht-Gewählten diskriminiert.

Alle bisherigen Entscheidungen und auch die diesbezüglichen öffentlichen Debatten im Parlament und in den Medien sind darum fragwürdig, weil die letztlich im Zusammenhang mit dem Problem entscheidenden Grundfragen und Vorfragen gar nicht gestellt und damit auch nicht beantwortet wurden.

Die Rechtsnatur der Einbürgerung ist vom Bundesgericht nur unter dem Gesichtspunkt beurteilt worden, ob sie als politischer Akt mit generell-abstraktem Charakter oder als Verwaltungsakt mit individuell konkretem Charakter zu betrachten sei. Ist letzteres der Fall, so muss nach den Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts eine Begründung vorliegen und eine gerichtliche Überprüfung möglich sein.

Dagegen ist Folgendes einzuwenden: Tatsächlich handelt es sich bei der Einbürgerung um einen Rechtsakt, der ein konkretes Individuum betrifft, und der aus dieser Sicht nach den allgemeinen Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts mit guten Gründen als Verwaltungsakt betrachtet werden müsste. Die Folgen, die daraus abgeleitet werden, wären ebenfalls schlüssig. Ein Verwaltungsakt ist zu begründen und ist seinem Wesen nach anfechtbar, da er gesetzes- und verfassungskonform sein muss.

Das intellektuelle Malheur ist in der aktuellen Debatte um die Einbürgerung offenbar dort passiert, wo man dem präzisen Begriff “Verwaltungsakt“ den schwammigen Begriff „politischer Akt“ gegenüberstellte. Damit geriet die Diskussion ins Umfeld der ohnehin heiklen Fragestellung „Mehr Rechtsstaat“ oder „Mehr Demokratie“, die parteipolitisch als Pro- und Anti- SVP Debatte wahrgenommen wird.

Die Gegenüberstellung „politischer Akt“ (Vorrang des Demokratieprinzips) oder „Verwaltungsakt“ (Vorrang des Rechtsstaatsprinzips) blendet aber die eigentliche Rechtsnatur der Einbürgerung aus.

Sie ist ihrem Wesen nach weder ein politischer Entscheid über eine generell abstrakte allgemeinverbindliche Norm, noch ein individuell konkreter Anwendungsakt, sondern ein Tertium, nämlich eine personenbezogene Wahl zum Mitglied einer Körperschaft. Diese Körperschaft ist in der Schweiz auf allen Stufen die höchste verfassungsgebende und gesetzgebende Instanz, die Aktivbürgerschaft, die in allen Grundfragen das letzte Wort hat.

Daraus folgt:

Wenn sie den formellen Voraussetzungen eines korrekten Wahlverfahrens genügt, müssen die Motive der Wählenden bzw. der Nichtwählenden nicht begründet werden und das Resultat ist nur dann anfechtbar, wenn formelle Fehler passiert sind.

Aus diesem Grund ist die Berufung auf eine Verletzung des Diskriminierungsverbots unbehelflich, da allfällige Diskriminierungen im persönlichen Motivbereich der Wählenden liegen, die den Kern des Stimm- und Wahlrechts bilden. Aus welchen edlen oder auch unedlen Motiven Menschen andere Menschen wählen oder nicht wählen und bei Sachvorlagen „Ja“ oder „Nein“ stimmen, entzieht sich selbst nach strengsten rechtsstaatlichen Massstäben einer gerichtlichen Beurteilung.

Die Einbürgerung ist also ihrem Wesen nach eine Zuwahl in die (in der direkten Demokratie) oberste verfassungsgebende bzw. verfassungsändernde Instanz der Gebietskörperschaft: die Stimm- und Wahlbürgerschaft. Sie sollte daher – auch aus rechtsstaatlicher Sicht – nach den Regeln des körperschaftlich gebildeten und verfassten Kollektivwillens erfolgen. Diese Zuwahl betrifft nicht nur die einbürgerungswillige Person, sondern alle ihre gesetzlichen Nachkommen auf alle Zeit, woimmer in der Welt sie auch ihren Wohnsitz haben.

Es gibt keine stichhaltigen Gründe, den diesbezüglichen Autonomiebereich von Gebietskörperschaften einzuschränken. Wahlen sind ihrem Wesen nach nicht justiziabel und es gehört zum Kernbereich der körperschaftlichen Autonomie, den Kreis der Zugehörigen willentlich selbst zu bestimmen, weil diese ja nach der Einbürgerung auch die andern Mitglieder der Körperschaft mitbestimmen.

Wie kommt es nun, dass die rechtliche Qualifikation der Einbürgerung als Zuwahl in eine (Gebiets)-Körperschaft so häufig nicht mehr erkannt oder nicht mehr anerkannt wird?

2. Die Schweizerische Eidgenossenschaft: Körperschaft oder Anstalt?

Der demokratische Rechtsstaat verbindet die ursprünglich körperschaftlichen Elemente einer Personengemeinschaft, die ihre Ziele autonom bestimmt und auch willentlich ändern kann mit den anstaltlichen Elementen einer Gesamtheit von Personen und Sachen, die einem bestimmten Zweck gewidmet sind, welcher der Willkür der Mitglieder entzogen ist.

Die Rechtsnatur des Staates ist in der Staatstheorie umstritten. In der Regel werden der Institution des wohlfahrtsstaatlich ausgerichteten Rechtsstaats sowohl körperschaftliche als auch anstaltliche Elemente zugeordnet. Körperschaften haben Mitglieder, Anstalten (Stiftungen) haben Benutzer oder Destinatäre. Der Begriff der Anstalt ist bedeutungsgleich mit dem Begriff der Stiftung, die auch „privatrechtliche Anstalt“ genannt wird. Die Stiftungs- bzw. Anstaltsorgane sind dazu berufen, über die Erfüllung des Stiftungswecks zu wachen und sie stehen ihrerseits unter einer gesetzlich vorgeschriebenen behördlichen Aufsicht, deren Auftrag sich allerdings auch auf die Überwachung der Erfüllung des Stiftungszwecks beschränkt.

Je freier über die Ziele und Mittel politisch-dezisionistisch verfügt werden kann, desto näher ist der Staat bei der Körperschaft, je gebundener die Staatsorgane an gegebene Ziele sind, die nicht zur politisch-dezisionistischen Disposition stehen, desto mehr überwiegen anstaltliche Elemente.

Ein wichtiges Kriterium bildet deshalb die Änderbarkeit der Verfassung. Je schwerer änderbar eine Verfassung ist, desto mehr nähern sich die Staatsstrukturen der Anstalt (Stiftung) und desto näher rücken die Staatsorgane ins Umfeld von Institutionen, die über die Einhaltung der festgelegten Staatszwecke, der Rechte und Pflichten der Bürger als Benützer und Destinatäre bzw. Klienten wachen. Sie verwalten in erster Linie einen klar definierten, inhaltlich beschränkten und der politischen Willkür entzogenen Bereich. Ein Staat mit einer starren, schwer abänderbaren Verfassung (wie etwa die USA), hat darum weniger Mühe mit einer grosszügigen Einbürgerungspraxis, da ja die Eingebürgerten (oder nach dem ius soli als Bürger Geborenen) die Rechte und Pflichten der Bisherigen kaum wesentlich verändern können, sondern einfach zu Mitnutzniessern und Mitträgern werden.

Anders in der Schweiz, in der wir die Entwicklung der Verfassung dem jeweiligen Volks- und Ständemehr relativ schrankenlos anheimstellen. Eine anders zusammengesetzte Bürgerschaft kann die Mehrheitsverhältnisse in einer Weise verändern, welche die rechtliche Grundordnung des Staates und damit die Stellung des Individuums grundsätzlich verändert.

Die verwaltende und verwaltete Anstalt ersetzt (nach der Formulierung von Karl Marx) die politische „Herrschaft von Menschen über Menschen“ durch „die gemeinsame Verwaltung von Sachen“. Diese „gemeinsame Verwaltung“ kann allerdings ihrerseits wieder nach politisch ausgehandelten Kriterien erfolgen, sodass das was „gemeinsam gewollt“ wird, doch wieder in politischen Verfahren zu ermitteln wäre.

Nach dem Wissenschaftsglauben des 19. Jahrhunderts war es aber nur eine Frage der Zeit, bis die Sozialwissenschaft das Gemeinwohl nach objektivierbaren Kriterien zu ermitteln und wissenschaftlich tauglichen Verfahren umzusetzen in der Lage wäre. Sollte dies möglich sein, übernimmt (nach Auffassung von Max Weber) die Bürokratie die Verwaltung der „Anstalt Staat“ und die Wissenschaft die permanente Evaluation des Gemeinwohls. Für demokratisch-dezisionistische Entscheidungen gibt es aus dieser Sicht immer weniger Argumente.

Ist nun die Deutung des Staates als Anstalt zur Umsetzung verfassungsrechtlich gesetzter und beschränkter Ziele eine veraltete, auf die obrigkeitsstaatlichen Ideologien vergangener Jahrhunderte abgestützte These oder birgt sie die entideologisierte Staatsauffassung der Zukunft? Es gibt aus liberaler Sicht gute Gründe, die auf verbindlichem Völkerrecht und Verfassungsrecht beruhenden Strukturen eines Rechtsstaates als eine auf die Verwirklichung der Rechtsidee (law and order) ausgerichtete Anstalt zu deuten, deren Organe als „res publica“ vom Druck populistischer Begehrlichkeiten abzuschirmen und durch Gerichte zu schützen wären.

Dieses Modell ist das genaue Gegenstück zur körperschaftlich – mitgliedschaftlichen Basisdemokratie, in der wechselnde Mehrheiten den jeweils aktuellen Inhalt eines Gemeinwohls bestimmen, das sich nicht nach objektiven Kriterien ermitteln lässt und damit dem Wettbewerb der Konzepte und Interessen und letztlich der politischen Dezision überlassen bleiben muss.

Je änderbarer eine Verfassung ist, desto näher steht das betreffende politische System dem körperschaftlichen Staatsverständnis. Die Meinung, das körperschaftlich-dezisionistische Staatsverständnis sei das urtümlichere, konservativere, nationalistischere (und damit politisch „rechts“ einzuordnende) weniger „rechtsstaatliche“ Deutungsmuster, hält vor diesem Kriterium nicht stand. Die basisdemokratische Linke befürwortet aus ihrer Sicht ebenfalls eine flexible Verfassung (und damit die körperschaftliche Staatsauffassung), um die schrittweise Überführung des liberalen Rechtsstaates in den sozialdemokratischen Umverteilungsstaat demokratisch legitimieren zu können. Je grösser die Zahl potentieller Umverteilungsempfänger wird, desto schneller ist dieses Ziel mehrheitsfähig.

Es ist also nicht so, dass aus liberaler und bürgerlicher Sicht das körperschaftliche und aus sozialdemokratischer Sicht das anstaltliche Staatsmodell im Vordergrund stehen würde, sondern eher umgekehrt. Die parteipolitische Auseinandersetzung geht aber heute in erster Linie um die Gewichtung der insgesamt widersprüchlichen Staatszwecke (Freiheit, Rechte, Unabhängigkeit, Sicherheit, innerer Zusammenhalt, gemeinsame Wohlfahrt, kulturelle Vielfalt, Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und friedliche und gerechte internationale Ordnung). Bei dieser Gewichtung, Interpretation, Finanzierung und Umsetzung sind eigentlich alle Beteiligten und Betroffenen an möglichst viel körperschaftlicher Mitbestimmung interessiert, da es um letztlich nicht objektivierbare und justiziable Wertentscheidungen und Präferenzen geht. Die Politik bevorzugt insgesamt das körperschaftliche Element, weil sie sich nur darin von der Basis her voll entfalten kann.

Die Grundfrage „Demokratie“ oder „Rechtsstaat“ lässt sich also nicht tel quel auf die Präferenz für ein anstaltliches oder körperschaftliches Staatsmodell übertragen. Die Zusammenhänge sind komplexer, weil sich konstruktivistische und dezisionistische Elemente in beiden Grundmodellen fast beliebig kombinieren lassen. Wer ist nach schweizerischem Staatsrecht der „Stiftungsrat“ der „Stiftung Rechtsstaat Schweiz“ oder allenfalls auch der „Stiftung Wohlfahrtsstaat Schweiz“ und wer bestimmt wie über dessen Zusammensetzung und wer übt die Aufsicht über die Einhaltung der Staatszwecke und den effizienten nachhaltigen Mitteleinsatz aus? Die Regierung als „Stiftungsrat“, das Volk als „Destinatär“ und das Verfassungsgericht als „Stiftungsaufsicht“? Wie lassen sich diese drei Instanzen politökonomisch nachhaltig verknüpfen? Würde nach diesem Ansatz nicht letztlich die Stiftungsaufsicht regieren, indem sie über die Definition und die Einhaltung des verfassungs-und völkerrechtlich feststehenden Stiftungszweck wacht?

Und beim körperschaftlichen Staatsverständnis? Wieviel Anteil hat an der politischen Führung die Wertentscheidung für die gedeihliche Entwicklung einer körperschaftlich strukturierten Personengemeinschaft, die auch von Stimmungen, Emotionen und Instinkten geleitet ist, und was ist an der Politik lediglich die fach- und sachgerechte Umsetzung beschlossener Programme?

Die Gegenüberstellung der beiden Prinzipien ergibt keine taugliche Entscheidungsgrundlage für die rechtliche Qualifikation der Einbürgerung.

3. Geschichte, Tradition, Verfassungsstruktur und Bezeichnung der Schweiz sind körperschaftlich und föderalistisch

Weder die Staatstheorie noch die Interpretation des geltenden Verfassungsrechts können die Frage nach der gemischt körperschaftlich-anstaltlichen Rechtsnatur des Staates schlüssig beantworten. Tatsache ist, dass sich die Elemente überlappen und in verschiedenen Gebieten der Schweiz unterschiedlich wahrgenommen werden. Wenn man auch die Einflüsse des zwingenden Völkerrechts und der allgemeinverbindlichen Staatsverträge noch miteinbezieht, wird der Anteil des autonom körperschaftlich bestimmbaren Zuständigkeitsbereichs faktisch immer kleiner.

Bei der Einbürgerung dürfte aber die Frage nach dem noch vorhandenen Autonomiebereich relativ leicht zu beantworten sein. Die Verleihung des Bürgerrechts gehört zum „politischen Intimbereich“ eines politischen Gemeinwesens, das nach den jeweils vorherrschenden Wertvorstellungen ausgestaltet werden sollte und keine zwingenden völkerrechtlichen Vorschriften kennt. Japan soll dem Vernehmen nach jährlich weniger als 100 Personen einbürgern. Soll das Völkerrecht den Japanern vorschreiben, wer in welchem Verfahren Japaner werden darf?

Die Schweiz nennt ihre Verfassung „Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft“. Das körperschaftliche Element kommt also schon in der Terminologie zum Ausdruck, und die direktdemokratische Tradition zahlreicher Kantone unterstreicht diese körperschaftliche Staatsauffassung. Es gehört zu den wesentlichsten Merkmalen körperschaftlicher Strukturen, dass sie über Aufnahme und Nichtaufnahme von Mitgliedern autonom bestimmen können. Auch das in der Schweiz massgebliche Prinzip des „ius sanguinis“ ist neben der relativ leicht änderbaren Verfassung ein starkes Argument für ein körperschaftliches Verständnis des Bürgerseins im Sinn des „citoyen“.

Wie zwingend ist diese historische Ausgangslage für eine künftige Ausgestaltung des eidgenössischen Einbürgerungsrechts? Die Verfassung enthält m.E. dazu keine verpflichtenden Vorgaben und keinen Zwang zur Vereinheitlichung. Die diesbezüglichen Bundesgerichtsentscheide sind unzulässige Eingriffe der Richter in legislative Grundfragen.

Kantone und Gemeinden können im Rahmen der bundesrechtlichen Minimalvorgaben jene Kriterien allgemeinverbindlich festlegen, unter denen eine Einbürgerung stattfindet, und sie sollten, wenn diese nicht verfassungswidrig sind, aus liberaler Sicht nicht verpflichtet werden, ein körperschaftliches Wahlverfahren oder gar Urnenentscheide durchzuführen. Umgekehrt sollte es aber jedem Gemeinwesen freistehen, die Modalitäten der Zuwahl von Neubürgern nach einer streng körperschaftlichen Staatsauffassung zu reglementieren.

Die Voraussetzungen der Zuwählbarkeit können allerdings verfassungsrechtlich und gesetzlich geregelt werden und sie sind es auch. Auf diesem Hintergrund liesse sich eine gerichtliche Prüfung theoretisch durchaus rechtfertigen, nämlich dann, wenn durch einen kommunalen Entscheid eine Person eingebürgert wird, welche die eidgenössischen und kantonalen Minimalerfordernisse der Wählbarkeit nicht erfüllt. In einem solchen – eher praxisfernen – Fall wären wohl aber auch die erklärten Gegner von Volksentscheiden nicht bereit, eine nachträgliche Überprüfung durch den Richter zu befürworten. Wer sollte denn hier wo gegen wen klagen?

Wer einmal den Wahlcharakter der Einbürgerung verstanden hat, und kein verfassungs- oder völkerrechtliches „Recht auf Einbürgerung“ statuiert (letzteres tun richtigerweise weder der jetzige Bundesgesetzgeber noch das Bundesgericht), muss sich von der Vorstellung lösen, es gebe dort so etwas wie eine Diskriminierung. Denn wählen und entscheiden heisst ja im Effekt präferieren und diskriminieren. Weder die politische Wahl bzw. Abwahl, noch die persönliche Wahl (Partnerwahl, Berufswahl) noch die ökonomische Wahl (Angebot und Nachfrage) sind öffentlich begründungs- und rechtfertigungspflichtig. Die „Freiheit des Motivs“ gehört zum Kerngehalt des spontanen Verhaltens und der persönlichen Freiheit, und wer im Bereich des Zusammenlebens die Willkür (das was der „Wille kürt“) ausschalten will, macht einen Schritt zurück in Richtung einer umfassenden Vorherrschaft des – oft nur vermeintlich – Rationalen. Dieser Verzicht auf Begründungen und Letztbegründungen erleichtert es übrigens auch den Nichtgewählten, die Nichtwahl, bzw. Abwahl als „objektiv begründbar“ und damit als persönlichen Affront zu empfinden, – ein polit-psychologischer Mechanismus, der in einer Demokratie viel zum Abbau von Aggressionen beiträgt bzw. beitragen könnte.

Wenn die Motive einer Zuwahl nicht relevant und nicht justiziabel sind, gibt es auch keinen vernünftigen Grund, bei der Einbürgerung die Urnenwahl auszuschliessen. Eine zentralstaatliche zwingende Regulierung, welche den Gemeinden und Kantonen eine körperschaftlich ausgerichtete Einbürgerungspraxis als Zuwahl verweigert, widerspricht der eidgenössischen und föderalistischen Staatsidee.

4. Löst die Einbürgerungsinitiative die unter Ziffer 1 – 3 abgehandelten Probleme?

Nachtrag 2021:

Die eidgenössische Volksinitiative «für demokratische Einbürgerungen», (kurz: Einbürgerungsinitiative) war eine von der Schweizerischen Volkspartei lancierte Volksinitiative. Sie wurde am 1. Juni 2008 abgelehnt. Die Initiative wollte den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts als politischen Akt festlegen – im Gegensatz zur gegenwärtigen Position des Bundesgerichts, die diesen Erwerb als Verwaltungsakt betrachtet. Eine Annahme hätte eine Erweiterung des Artikels 38 der Bundesverfassung zur Folge gehabt, die den Gemeinden erlaubt darüber frei entscheiden zu dürfen, welches Organ über Einbürgerungsentscheide (beispielsweise eine Bürgerversammlung, eine Einbürgerungskommission oder Urnenabstimmung) entscheidet. Ein gefällter Einbürgerungsentscheid wäre zudem endgültig gewesen, das Rekursrecht wäre also dadurch dem Einbürgerungswilligen entzogen worden. Der Volksentscheid ist kein grundsätzliches Verdikt gegen eine genossenschaftliche Staatsauffassung.

Der Ansatzpunkt der Initiative ist richtig. Immigration und Nationalisation sind ein “Intimbereich” des Verfassungsrechts, den man weder durch Richterrecht noch durch Völkerrecht durch die Hintertür verändern sollte. Das Schweizer Bürgerrecht wird bottom up verliehen. Es ist primär ein Gemeindebürgerrecht und dies wiederum spiegelt die Geschichte der Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die aus einem Bündnis von zunächst lokalen Gemeinschaften und dann von Orten (die erst später Kantone genannt wurden) entstanden ist. In jedem Schweizerpass steht darum “Heimatort”.

Die Initiative verfolgt vor allem in Verknüpfung mit der Propaganda der Initianten klar das Ziel einer restriktiveren Einwanderungspolitik. Wie liberal ist dieses Anliegen der Initianten?

Aus radikalliberaler Sicht steht zunächst das Ziel eines unbeschränkten allgemeinen Laisser faire –laisser passer im Vordergrund. Dieses Ziel kann aber (inkl. Personenfreizügigkeit) – wenn überhaupt – nur unter liberal-rechtsstaatlichen, marktwirtschaftlichen Verhältnissen verwirklicht werden. Solange wir einen Wohlfahrtsstaat in Kombination mit Mehrheitsprinzip haben, können wir weder eine freie Einwanderung noch eine freie Einbürgerung zulassen. Sonst überstimmen sehr schnell einmal die Nettobezüger die Nettozahler, und dies gefährdet früher oder später die wirtschaftliche Produktivität und die gemeinsame Wohlfahrt.

Die politökonomische These, die einzelne Stimme falle heutzutage gar nicht mehr ins Gewicht, und darum sei die Zusammensetzung der Aktivbürgerschaft relativ unwesentlich, ist in einem politischen System, das kleinräumige Abstimmungen oft mit ganz kleinen Stimmendifferenzen entscheidet, nicht zutreffend. Die körperschaftliche Staatsauffassung, die vielen als archaisches Relikt erscheint, macht daher auch entscheidungstheoretisch durchaus Sinn.

Es soll dort über die Aufnahme zusätzlicher stimmberechtigter Körperschaftsmitglieder entschieden werden, wo der Stellenwert des Mitbestimmungsrechts eines Körperschaftsmitglieds durch zusätzliche Mitglieder am spürbarsten verändert wird: auf kommunaler Ebene.

Gleichzeitig kann dort die Integration auch am besten beurteilt werden. Das bottom up Einbürgerungsverfahren gilt unter Demokratietheoretikern und Politökonomen weltweit durchaus nicht als veraltet, sondern für viele sogar als modellhaft.

Der Ökonom und Gesellschaftsphilosoph Wilhelm Röpke hat mit guten Gründen das Recht, über die Zusammensetzung eines Gremiums, das via Mehrheitsentscheid ein Individuum fremdbestimmen kann, als wichtiges Individualrecht bezeichnet. Das körperschaftliche Staatsverständnis kann nicht einfach als kommunitaristische Nostalgie abgetan werden, es hat auch eine sehr aktuelle politökonomische, entscheidungstheoretische Komponente.

Die Initiative erweckt den Eindruck, die Mehrheiten in einer Gemeinde seien bei Einbürgerungen immer im richtigen Moment und im richtigen Ausmass restriktiv. Das könnte sich in Zukunft als fataler Irrtum erweisen. Es kann sehr wohl sein, dass viele Gemeinden auch Nichtintegrierte mit den jeweils zulässigen dezisionistischen Verfahren einbürgern. Möglicherweise verlangen einzelne Kantone vor einem demokratischen Kommunalentscheid eine Vorprüfung der Kandidaturen, und es ist davon auszugehen, dass vor allem Gemeinden mit besonderen Einbürgerungsinstanzen, die Erfüllung der eidgenössischen und kantonalen Minimalbedingungen sorgfältig prüfen. Inwiefern es ein eigentliches nachträgliches Veto gegen nicht gesetzeskonforme Einbürgerungen geben sollte (oder schon gibt?) wäre zu prüfen.

Dies ist der Punkt, bei dem die Gegner der Vorlage gute Gründe haben: Die Kommunalautonomie ist nicht überall jenes Bollwerk gegen die Einbürgerung Nichtintegrierter, wie das den Initianten vorschwebt. Und ein Dorfbewohner in der Innerschweiz kann nichts dagegen unternehmen, wenn in einer Stadtgemeinde mit grossen linken Mehrheiten zusätzliche Linksstimmer und Klienten des von ihm mitfinanzierten eidgenössischen Sozialstaates en masse durch Mehrheitsentscheid (und eben damit auch willkürlich) eingebürgert werden und ihn dabei noch mehr in die Minderheitenposition des fremdbestimmten Mitzahlers drängen. Wer kann dann bei welcher Instanz gegen solche Missbräuche (d.h. die Zuwahl eigentlich nicht Wahlfähiger) rekurrieren? Genügt da der politische Druck in der Öffentlichkeit? Kommt es zum bekannten Phänomen, dass Anhänger der Demokratie nur solange für Demokratie sind, als diese für sie ist?

Die Debatte um die Rechtsnatur und die Funktion der Einbürgerung (und über das zuträgliche Mass) in einer halbdirekten Demokratie ist so oder so nach der Abstimmung nicht abgeschlossen.

In diesem Gutachten wird in den Kapiteln 1 – 3 möglicherweise die These des Nonzentralismus und der Zuständigkeit der kleinstmöglichen politischen Gemeinschaft strapaziert. Das gesamtschweizerische Stimmvolk bildet ja immerhin (neben dem Ständemehr, das ja auch auf internen Volksmehrheiten in Kantonen beruht) eine wesentliche Komponente der Verfassungsänderung. Darum gibt, bzw. gäbe es auch ein gesamtschweizerisches Interesse an der Einhaltung von Minimalvorschriften, die m. E. restriktiver formuliert sein sollten.

Tatsache ist, dass auch einer allfälligen Annahme der Initiative, eine Gemeinde bzw. ein Kanton mit einem grossen Anteil an schlecht integrierten Doppelbürgern zur demokratisch legitimierenden Verteilungsstation für Schweizerpässe werden kann.

Kaum lösbar ist folgendes Problem: Unser Einbürgerungsrecht geht immer noch davon aus, dass die Eingebürgerten die Absicht des dauernden Verbleibens in unserem Land haben. Die Tatsache, dass offenbar ein erheblicher Anteil von Neueingebürgerten den Schweizerpass (der zusätzlich zum eigenen Pass erworben wird) sehr schnell einmal auf die Rückreise ins Ursprungsland mitnimmt und nur noch durch das vererbliche Auslandschweizerstimmrecht und die Rentenansprüche mit der Schweiz verbunden bleibt, hat mit unserer Vorstellung von einer staatsbürgerlichen Identität von Steuerzahlern, Infrastrukturnutzern und politisch Berechtigten, und von einer Symmetrie von Rechten und Pflichten nicht mehr viel zu tun. Warum sollen wir die Integriertheit von Neubürgern minutiös überprüfen, wenn diese kurz vor der definitiven Rückreise in ihre Ursprungsheimat stehen?

Der ganze Fragenkomplex ist viel zu grundsätzlich und zu langfristig als dass man ihn den Gerichten und der parteipolitischen Polemik überlassen dürfte. Es wird wohl in Bezug auf die jeweilige nationale Praxis der Einbürgerung mit EU-Pass auf EU Ebene noch einiges zu reden geben, obwohl ja dort die politischen Mitbestimmungsrechte eine ungleich kleinere Rolle spielen. Die EU wird es aber auf die Dauer wohl kaum dulden, dass die EU Einwanderungspolitik durch nationale Einbürgerungspraktiken ausgehebelt wird. Ein allfälliger zentraler Korrekturbedarf wird sich dort eher bei einer zu grosszügigen als bei einer zu restriktiven (d.h. „diskriminierenden“) nationalen Einbürgerungspraxis manifestieren. Dort wird sich auf einer anderen Ebene zeigen, dass, vom Einzelfall her (und aus menschenrechtlicher Perspektive), keine Einwanderungs- und auch keine Einbürgerungspolitik frei von Willkür ist.

Zürich, den 2. Oktober 2007, erweitert und durch Ziffer 4 ergänzt im Mai 2008

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