(Eigentümlich frei – Nr. 213 – Juni 2021 – Seite 40-41)
Liberale Begrifflichkeiten im Wandel der Zeit
Der von den Sozialisten aller Parteien heute als Kampfbegriff verwendete Ausdruck «Neoliberalismus» ist ideengeschichtlich unzutreffend und täuscht eine einheitliche Doktrin vor, die nie existiert hat. Die ideen- und begriffsgeschichtliche Verwirrung rund um die Adjektive «paläo», «neo» und «ordo» in Verbindung mit «liberal» ist groß, vor allem, weil offenbar heute ein breites Bedürfnis besteht, ein Ende aller Liberalismen zu verkünden. Die Idee der Freiheit, die Basis aller liberalen Strömungen, wird aber diese düsteren Prognosen überdauern, weil die vielen Feinde der Freiheit letztlich deren vielfältige Verteidiger stärken. Voraussetzung ist dabei nur, dass sich die Freiheitsfreunde auf die prinzipiellen Gemeinsamkeiten besinnen und sich nicht wegen gradueller Spitzfindigkeiten gegenseitig bekämpfen. Eine gewisse interne Vielfalt in Bezug auf gangbare Wege aus der Knechtschaft ist begrüßenswert, sofern unterschiedliche Meinungen nicht zu persönlichen Feindschaften führen.
Die subtile Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Bindestrich-Liberalen und zwischen verschiedenen Schulen der marktwirtschaftlich ausgerichteten Ökonomie reicht in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Der von Milton Friedman vertretene Monetarismus (Chicago-Schule), und der von Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alfred Müller Armack begründete Neo- und Ordo-Liberalismus (Freiburger Schule) sowie die heute als «Austrians» etikettierten Ökonomen Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek wurden nie zu einer einheitlichen Lehre verschmolzen.
Mit dem Adjektiv «paläo-liberal» haben verschiedene Kritiker und Selbstkritiker des Liberalismus die Befürworter der nicht interventionistischen «Laissez-faire»-Ökonomen des 19. Jahrhunderts abqualifiziert. Ähnlich verhält es sich mit dem ebenfalls kritisch abwertend verwendeten Adjektiv «manchester-liberal». Man hatte in Deutschland vor allem das Massenelend in mittelenglischen Industriestädten im Visier, für das man den «schrankenlosen Kapitalismus» verantwortlich machte. Ideengeschichtlich gehörten die Manchester-Liberalen Richard Cobden und John Bright aber zum linken Flügel der Liberalen. Sie lehnten merkantilistische Schutzzölle zugunsten der Großhändler ab und kämpften für eine Öffnung von Märkten zugunsten der «kleinen Leute».
Der Begriff «Neoliberalismus» wurde paradoxerweise von Liberalen selbst geprägt, die sich nach dem Ersten Weltkrieg im Gegensatz zu den Laissez-faire-Liberalen durch große Konzessionen gegenüber einer sozial ausgleichenden Politik durch einen starken Staat charakterisierten und den Markt als eine Veranstaltung des Rechtsstaates deuteten. Die sich in Deutschland auch als «ordo-liberal» bezeichnenden Neoliberalen waren sich unter sich allerdings auch nicht einig darin, wer denn den jeweiligen Ordnungsrahmen definieren solle – der Staat oder die tradierte Kultur. Alfred Müller-Armack vertrat als Mitglied der NSDAP die Meinung, der Führer definiere den Ordo. Er distanzierte sich allerdings später glaubwürdig davon. Die unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik hat nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zerwürfnis zwischen Hayek und Röpke beigetragen. Hayek hat zwar in Freiburg im Breisgau gelehrt und geforscht, aber er hat sich nie als Neo-Liberalen oder Ordo-Liberalen bezeichnet. Für Hayek beruht jede Ordnung auf einer komplex überlieferten, bewährten, aber niemals abgeschlossenen Tradition von menschlichen Entdeckungen und Erfindungen.
Hayek bevorzugte die Selbstcharakterisierung als «Old Whig»; er knüpfte damit an die generelle Machtskepsis von John Locke und Algernon Sidney an. Macht muss aus dieser Sicht durch die Bindung an jenes Recht, das die Freiheit der Menschen schützt, entgiftet werden. Hayek betrachtete den Markt nicht als «Veranstaltung des Staates», aber er war gegenüber sozialpolitisch motivierten Staatseingriffen relativ tolerant, was ihm die Staatsskeptiker im libertären Lager bis heute ankreiden. Das Verhältnis Mises – Hayek ist meines Wissens nie bis ins Letzte analysiert worden. Hayek wurde von Dritten als Mises‘ «Schüler» bezeichnet, was aber nicht zutrifft. Hayek hat insbesondere eine von Mises abweichende Erkenntnistheorie und eine andere Geldtheorie vertreten. Bei Mises findet sich zwar keine Polemik gegen Hayek, aber auch kaum ein Querverweis. Verbürgt ist der Zwischenruf von Mises auf einer frühen Tagung der Mont Pèlerin Society: «Ihr seid alle Sozialisten!»
Es gab vor allem in der Zwischenkriegszeit in den Sozialwissenschaften eine heute wenig bemerkte Tendenz, jede Kritik am territorial und kulturell definierten Nationalstaat auszublenden. Die EU wird vielerorts primär als territoriale Gemeinschaft von Nationalstaaten wahrgenommen und aus dieser Sicht befürwortet. Anti-etatistische, kulturübergreifende, globalistische und pazifistische Tendenzen wurden im 20. Jahrhundert oft implizit einer «spezifisch jüdischen» Ideenwelt zugeordnet. Karl Marx, Sigmund Freud, Ernst Bloch, Ernst Cassirer und viele andere wurden, ohne dass dies thematisiert worden wäre, auch wegen ihrer jüdischen Wurzeln kritisiert. Der vom Marxismus herkommende staatsskeptische Soziologe Franz Oppenheimer fand in Europa kaum Echo. In Deutschland wird er nur noch als akademischer Lehrer von Ludwig Erhard erwähnt, während er sich bei den Libertären in den USA einer zunehmenden Beliebtheit erfreut. Murray Rothbard, der ebenfalls staatsskeptische und – auch militärisch – anti-interventionistische Mises-Schüler wird in Europa eher nur als Außenseiter wahrgenommen.
Tatsächlich gibt es auch einen sozialistisch inspirierten Anarchismus. Karl Marx hat sich über die nachrevolutionäre Wirtschaftsordnung in dem von ihm angestrebten Kommunismus wenig Gedanken gemacht. Er stellte sich vor, dass nach der Überwindung des Kapitalismus durch die Enteignung der Kapitalisten beinahe spontan eine neue glückliche Ordnung entstehen würde. Selbst Lenin hatte vor seiner Machtergreifung keine genauen Vorstellungen von der neuen sozialistischen Ordnung. Die Übergangszeit stellte er sich als eine nette bürokratische Ordnung nach dem Muster der deutschen Post vor. Vor dem Sowjetexperiment war der Sozialismustraum auch ein Traum der Überwindung des Staates, der als ein Pfeiler des Kapitalismus betrachtet wurde.
Das große Paradox der Marxisten-Leninisten ist und bleibt die «Überwindung» des Staates durch eine historisch-dialektische Zwischenphase der totalitären Verstaatlichung. Es ist tatsächlich schwer verständlich, dass eine sehr große Zahl von Intellektuellen und Sozialwissenschaftlern aller Fakultäten an diese höchst unwahrscheinliche Entwicklungsprognose durch einen «dialektischen Sprung» geglaubt haben und zum Teil immer noch glauben; an die Abschaffung des Staates als Resultat seiner temporären Totalisierung.
Hayeks politisches Ideal blieb, bewusst oder unbewusst, der wirtschaftsliberale Vielvölkerstaat der Donaumonarchie, ein großer heterogener Binnenmarkt mit einer offenen Entwicklungstendenz hin zu einem globalen Freihandel. Die Bezeichnung «Austrian» ist daher für ihn sehr treffend.
Das terminologische Problem mit «neo» und «ordo» wird zusätzlich durch die Verwirrung verkompliziert, die der Bedeutungswandel des Begriffs «liberal» selbst im 20. Jahrhundert in verschiedenen Sprachen erlitten hat. In den USA gilt «liberal» heute definitiv als «links» beziehungsweise als «sozialdemokratisch». Das ursprünglich aus dem Spanischen stammende «los liberales» bezeichnete die politischen Gegner des katholischen Konservatismus und wurde zum gemeinsamen Merkmal der aufgeklärten, fortschrittsgläubigen Gegner des «Ancien Régime».
Der Ursprung der ideengeschichtlich unzutreffenden Verwendung des Begriffs «neoliberal» liegt wohl im französischen Journalismus, der an die linke Liberalismuskritik von Michel Foucault und Pierre Bourdieu anknüpfte. Der heute auch in den deutschsprachigen Medien verwendete Begriff «neoliberal» bezieht sich tatsächlich auf eine grob vereinfachte Sicht der marktkapitalistischen Chicago-Schule, insbesondere von Milton Friedman, mit seinem «the business of business is business». Diese kritische Sicht wird Milton Friedman nicht ganz gerecht. Die linken Friedman-Kritiker wissen nämlich nicht, dass Friedman auch ein Befürworter der negativen Einkommensteuer, der hohen Besteuerung der Bodenrente und einer speziellen Variante des «Helikoptergeldes» war.
Besonders heikel ist in der ganzen Debatte um Neo- und Ordo-Liberale die Position von Wilhelm Röpke. Er kann verschiedenen ideengeschichtlichen Schulen zugeordnet werden. Überlagert wird bei Röpke und bei der Freiburger Schule die Liberalismus-Terminologie durch eine wenig beachtete und weitgehend unausgesprochene Mentalitätskritik an der «Vaterlandslosigkeit» von Ökonomen wie Mises, Friedman und Rothbard. Röpke kritisiert die Anonymität und die begrenzte Haftung der internationalen Kapitalgesellschaften und befürwortet den «personenbezogenen Kreis» (Gemeinschaft, Genossenschaft), im Gegensatz zur «anonymen Großgesellschaft», die Hayek als Folge des Kapitalismus diagnostiziert hat (ohne sie zu propagieren). Der Neoliberale Röpke opponiert sowohl gegen eine global-kapitalistische als auch gegen eine territorialstaats-skeptischen Denkweise, was hier ohne Wertung einfach angemerkt sei. Die linken Kritiker des Neoliberalismus würden sich wohl bei einer sorgfältigen Lektüre von Röpke wundern, wie viel kommunitaristisches und ökologisches Gedankengut dieser schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen wertkonservativen Ordoliberalismus integriert hat.
LITERATUR
Christoph Frei/Robert Nef: Contending with Hayek, Bern 1994.
Robert Nef: Politische Grundbegriffe, Zürich 2002.