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Lob des Non-Zentralismus

Lesedauer: 5 Minuten

(Finanz und Wirtschaft – Meinungen)

Das wahre «Wunder Europa» basiert nicht auf bürokratischer und fiskalischer Vereinheitlichung, sondern auf der Vielfalt von historischen Lösungsversuchen. Ein Kommentar von Robert Nef.

«Die EU ist ein Versuch, viele Irrtümer des zentralisierten Nationalstaats auf kontinentaler Ebene zu wiederholen.»

Non-Zentralismus ist weder ein Dogma noch ein Patentrezept. Es gibt tatsächlich viele Probleme, die zentral besser gelöst werden können als partikulär. Wenn es in Notzeiten um die Durchsetzung überlebenswichtiger Regeln geht, braucht es eine Bündelung der Bestrebungen, wobei einheitliche Ziele wichtiger sind als vereinheitlichte Massnahmen.

Viele kulturelle Höchstleistungen beruhen auf arbeitsteiligen und lokal zentralisierten Strukturen. In der Militärstrategie ist Grösse und Konzentration der Macht – vor allem für Angreifer – ein Vorteil. Das hat im Lauf der bisherigen Geschichte bei politischen Machthabern und Machthungrigen viel zur Popularität des Zentralismus beigetragen, sehr zum Schaden der jeweils Betroffenen. Oft sind dann die Sieger aber später auch an ihrer Grösse und an ihrer Zentralität gescheitert. Zentralität macht gleichzeitig mächtig und verletztlich, aber die Halbwertszeit des Zerfalls ihrer Vorteile kann Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauern.

Üblicherweise bezeichnen die Gegner des Zentralismus ihr Ziel als Dezentralisierung oder Dezentrismus. Das hat seine Tücken, denn der Begriff Dezentralisierung suggeriert, dass es einen Normalzustand an Zentralisierung gibt, den es durch einen bewussten und gezielten Abbau an Zentralität und durch das Delegieren von zentralen Kompetenzen an kleinere und privatere Gemeinschaften zu sanieren gilt. Dabei behält die Zentrale allzu oft die Zügel in den Händen und gibt nur «auf Zusehen hin» und dosiert zurück, was angeblich ihr gehört.

Nein-Sagen ist für die Freiheit entscheidend

Die Bezeichnung Non-Zentralismus ist rein terminologisch neutral und geht davon aus, dass die Zentralisierung das Resultat eines gesteuerten Vorgangs sei. Non-Zentralität ist aus dieser Sicht das, was sich spontan ereignet, wenn nicht bewusst zentralisierend interveniert worden ist. Die Vorsilbe «Non» hat zwar den Nachteil, dass ein erstrebenswertes Ziel mit einer Negation eingeleitet wird, was zunächst nicht besonders motivierend wirkt. Da aber das zeit- und situationsgerechte Nein-Sagen für die Freiheit entscheidend ist, kann man diese Wahrnehmung bewusst riskieren.

Zentralisierung ist als rationales Ordnungsprinzip unabhängig von politischen Strömungen ausserordentlich populär. Gegenströmungen nennt man rückschrittlich, kleingeistig, engstirnig und kurzsichtig. Der Horizont der Zentralismusgegner reicht angeblich nicht weiter als der eigene Kirchturm, darum spricht man von Kirchturmpolitik. Das Gemeinwohl wird aus dieser Sicht auf den Gliedstaat reduziert (was wir in der Schweiz «Kantönligeist» nennen), aus einem einheitlichen planmässigen Konzept wird ein «Flickenteppich». Einheitlichkeit wird als Konsequenz gelobt und Vielfalt als Durcheinander geschmäht. Gerechtigkeit wird sehr häufig und grob vereinfachend mit der Gleichbehandlung aller in allen Situationen verwechselt, und aus dieser Sicht ist Zentralismus «gerechter» als Föderalismus, Gemeindeautonomie und Privatautonomie.

In Krisensituationen mag eine einheitliche Regelung Vorzüge haben, doch nur, wenn vergleichbare Verhältnisse vorliegen. Gleiches muss gleich, aber Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt werden. Das ermöglicht Vergleiche und fortwährendes gegenseitiges Lernen. Es trifft zu, dass Non-Zentralismus gemessen an einer zentralistischen Lösung auch schlechtere Resultate zulässt, aber dieser Nachteil wird dadurch kompensiert, dass dies sehr schnell einen Impuls zur Optimierung und Anpassung auslöst, der jedem äusseren Zwang zur Angleichung überlegen ist. Die entscheidenden sozialen und politischen Lernimpulse beruhen nicht auf externer Egalisierung, sondern auf internem intelligenten Differenzieren. Gerade neue, bisher unbekannte Problemlagen können durch unterschiedliche Herangehensweisen besser bewältigt werden als durch einheitliche. Nur weil etwas Unbekanntes überall gleich ist, sollte man die Zahl der Lösungsversuche nicht auf eins reduzieren.

Bürgernahe Lösung und Finanzierung

Der allgemeine Trend läuft heute auch ausserhalb von Pandemiezeiten leider in die Richtung von immer mehr Zentralisierung. Oft handelt es sich um eine fast blinde Flucht in den Zentralismus, einen eigentlichen Kult, der auf immer zentraleren Vorschriften und Verteilungsregeln beruht. Zentralisierung wird nicht nur von machthungrigen zentralen Regierungen und Verwaltungen vorangetrieben. Sie beruht auch auf einem politischen Mechanismus des gezielten Abschiebens alles Unpopulären, das Kosten verursacht, nach oben, während man das Populäre, den politischen Nutzen des Verteilens und Umverteilens, in der Hand behalten möchte. Man nennt das üble Spiel in der Wirtschaft «Kollektivierung der Kosten und Privatisierung der Nutzen». Das Gegenprinzip dazu ist die Subsidiarität, die verlangt, dass öffentliche Aufgaben und ihre Finanzierung auf der niedrigstmöglichen Stufe wahrgenommen werden. Eine wichtige Voraussetzung dazu ist ein darauf abgestimmtes, ebenfalls non-zentrales Steuersystem.

Das Subsidiaritätsprinzip ermöglicht, wenn es nicht als Einbahnstrasse Richtung Zentrum praktiziert wird, die bürgernahe Lösung und Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Es handelt sich um ein sehr ökonomisches Verfahren, denn es geht nicht nur um die Abgrenzung von lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Politikebenen, sondern primär um die Abgrenzung von «privat» (kommerziell, familienbezogen und karitativ) und «staatlich» (zwangsweise). Vielleicht gibt es eine Fortsetzung des Subsidiaritätsprinzips im privaten Bereich, die man so formulieren könnte: so wenig Zwang und so wenig Staat wie möglich, so viel einvernehmlicher wirtschaftlicher Austausch wie möglich und – ergänzend – so viel innerfamiliäre, nachbarschaftliche und karitative Unterstützung wie verkraftbar. Das ist nicht rückständig, sondern fortschrittlich.

Das Lob des Non-Zentralismus wird oft mit dem unbeschränkten Lob der Kleinheit verwechselt. Es ist unbestritten, dass in allen Bereichen, sei es nun Ökonomie, Politik oder Kultur, Kleinheit weder ein «Wert an sich» noch ein unfehlbares Erfolgsrezept ist. Kleinheit darf nicht mit Isolation verknüpft werden, sondern bedingt einen erhöhten umfassenden Kommunikationsbedarf. Es gehört zum Überlebensprinzip der Kleinen, dass sie das richtige Verhältnis zwischen Selbstbehauptung und Anpassung finden.

Gewährleistung von individueller Autonomie

Dies gilt auch im Verhältnis von Gemeinschaften und Individuen. Es ist denkbar und historisch bezeugt, dass es grössere Gemeinschaften gibt, die Individuen besser schützen als kleinere. Darum muss man den Wert der kleinen Gemeinschaft nicht losgelöst vom Wert des Minderheitenschutzes und der individuellen Freiheit des Individuums ins Auge fassen. Föderalismus im Sinne der Lokalautonomie muss immer im Kontext mit der Gewährleistung von individueller Autonomie betrachtet werden.

Die vom Verfasser dieses Artikels um die Jahrtausendwende publizierte kleine Schrift «Lob des Non-Zentralismus» ist in den Grundzügen nicht nur aktuell geblieben, sie hat im Hinblick auf die Entwicklung der EU noch an Aktualität gewonnen. Sie kulminiert nicht in einer dogmatischen Verherrlichung kleiner unabhängiger Gebietskörperschaften, sondern versucht die Frage zu beantworten, welche Gemeinschaften insgesamt am besten zur Erhaltung und Entfaltung von individueller Freiheit beitragen. Dabei sind das Vergleichen, das Experimentieren, das Voneinander-Lernen und die Offenheit im Sinne der Exit-Option entscheidend.

Tendenz zur Akkumulation von Macht

Die EU ist aus dieser Sicht nicht «zu offen», sondern ein Versuch, viele Irrtümer des zentralisierten Nationalstaats auf kontinentaler Ebene zu wiederholen. Zentralisierte Organisationen machen nicht automatisch alles schlechter, aber sie haben die Tendenz, Macht zu akkumulieren und in der Folge zu verdummen und zu verfetten und die Lern- und Anpassungsfähigkeit zu verlieren.

Das, was mit guten Gründen «das Wunder Europa» genannt worden ist, basiert nicht auf bürokratischer und fiskalischer Vereinheitlichung, sondern auf der Vielfalt von historischen Lösungsversuchen, die nicht auf der Idee der Gleichheit, sondern auf der Idee des Friedens durch gegenseitiges Sich-gelten-Lassen zwischen glücklicherweise unterschiedlichen Völkern und Menschen und von wechselnden Mehrheiten und Minderheiten beruht. Ihr wichtigstes gemeinsames Anliegen ist nicht die Einheit, sondern der friedliche Austausch in Vielfalt und die Bereitschaft, sich gegenseitig zu achten und freiwillig und spontan voneinander zu lernen.

Zum Autor
Robert Nef ist Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts Zürich.

Quelle: https://www.fuw.ch/article/lob-des-non-zentralismus/

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