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Ziemlich freier Mensch

Lesedauer: 4 Minuten


(Weltwoche / Lebensläufe)

Ökonom Kessler, 33: «Liberale sind Dinosaurier». Bild: Florian Bärtschiger (Lunax)

Was macht eigentlich Olivier Kessler? Der Kopf der «No Billag»-Initiative verschwand nach der Abstimmung aus der Öffentlichkeit. Jetzt ist er zurück: als neuer Direktor des Liberalen Instituts und mit einem Buch.

Von Erik Ebneter

Eine Zeitlang war Olivier Kessler die vielseitigste Projektionsfläche der Schweizer Politik. Jeder sah in ihm das Schreckgespenst, das er sehen wollte.

Der Tages-Anzeiger verglich ihn mit Christoph Blocher und schrieb: «Er ist radikaler und findet doch mehr Freunde.» Die Aargauer Zeitung nannte ihn den «rechten Wermuth». Die Weltwoche erklärte, man könne meinen, Bartträger Kessler sei «als Dschihad-Kämpfer mal eben aus Syrien zurückgekehrt».

Es war die Zeit, als Kessler die «No Billag»-Initiative anführte und die Medienbranche in helle Aufregung versetzte. Mehr als einmal kam es zum öffentlichen Schlagabtausch zwischen ihm und Journalisten. Gleichzeitig fanden manche, er sei unnahbar. Die Südostschweiz nannte ihn das «misstrauische Phantom».

Abseits des politischen Nahkampfs

An diesem sonnigen Sonntag sitzt der Mann hinter den Klischees in einer Gartenbeiz, vor sich eine grosse Flasche Wasser. Er ist, soweit sich das beurteilen lässt, ziemlich entspannt. Wir sind im Freiamt, wo Kessler mit seiner Frau und dem halbjährigen Sohn wohnt, zwanzig Autominuten von seinem Arbeitsort Zürich entfernt. Seit Anfang Juli führt er das Liberale Institut, dessen Vizedirektor er zuvor vier Jahre lang war.

Kessler hat ein Buch mitgebracht, das er mit seinem Ex-Chef Pierre Bessard geschrieben hat. Es ist kürzlich erschienen und präsentiert «64 Klischees der Politik». In der Einführung zitieren die Autoren den amerikanischen Nobelpreisträger Daniel Kahneman, der schnelles und langsames Denken unterscheidet. «Echte Intellektuelle sind langsame Denker», heisst es dazu. Kessler, so viel ist klar, agiert inzwischen abseits des politischen Nahkampfs.

An Blocher oder Wermuth erinnert kaum mehr etwas. Das Bild vom Politik-Rambo, das viele Journalisten von Kessler kultivierten, verblasst. Die Schweizer Illustrierte schrieb, er trete auf wie der «perfekte Schwiegersohn: höflich, eloquent, charmant». Das trifft’s schon eher.

Kessler selber beschreibt sich als «ziemlich freien Menschen». Tatsächlich hat er viel Spielraum, um seinen Interessen nachzugehen. Er führt eine schlanke Organisation mit fünf Mitarbeitern und diversen Freien. Der Stiftungszweck verlangt, «Ideen der Demokratie und des klassischen Liberalismus» zu erforschen. Das klingt nach erfüllender intellektueller Kontemplation.

Hin und wieder streifen die Sturmwolken der Politik aber auch diesen Elfenbeinturm. Als die FDP ihre Vormachtstellung im bürgerlichen Lager an die SVP verlor, entluden sich Ausläufer des Gewitters über dem Liberalen Institut, das 1979 von Freisinnigen gegründet worden war. Dass sein langjähriger Direktor Robert Nef für die Schweizerzeit des damaligen SVP-Nationalrats Ulrich Schlüer schrieb, gab im Stiftungsrat seinerzeit viel zu reden.

Auch Kessler veröffentlichte in der Schweizerzeit und war sogar einige Monate lang deren Chefredaktor. Eigentlich war vorgesehen, dass er die Zeitung dereinst als Verleger übernehmen würde, aber Schlüer und er überwarfen sich. Als Kessler an seinen neuen Wirkungsort wechselte, trat er auch aus der SVP aus.

Das ist kein Zufall. Seit Pierre Bessard das Liberale Institut ab 2008 als Direktor neu aufstellte, hat es sich von der institutionellen Politik entfernt. Im Stiftungsrat sitzen Anwälte, Unternehmer, Professoren und Publizisten, mit Weltwoche-Kolumnist Peter Ruch sogar ein Pfarrer, aber keine Politiker mehr wie früher Thomas Wagner (FDP), Suzette Sandoz (LPS) oder Walter Frey (SVP).

Dass Kessler viele Jahre in der SVP politisierte, darunter als Parteisekretär der besonders konservativen SVP Schwyz, geht bei der Lektüre von «64 Klischees der Politik» bald vergessen. Ein Klischee lautet: «Direktdemokratische Entscheide widerspiegeln den Volkswillen.» Ein anderes: «Die Schweiz wird zubetoniert.» Das sind Aussagen, die man an jeder SVP-Versammlung äussern kann, ohne aus dem Saal gebuht zu werden. Kessler und Bessard erklären, warum sie es anders sehen.

Die Autoren nehmen es aber auch mit dem Freisinn auf, der sich unter Präsidentin Petra Gössi einen grünen Anstrich gegeben hat. Dass der Klimawandel um jeden Preis verhindert werden müsse, halten sie für falsch.

Mensch als Zweck an sich

Kessler sagt, er fühle sich allein den Ideen des Liberalismus verpflichtet. «Der Liberalismus, wie ich ihn verstehe, sieht den Menschen als Zweck an sich. Das unterscheidet ihn von allen anderen Weltanschauungen, die im Menschen immer nur ein Mittel sehen, um einen bestimmten Zweck zu erreichen.»

Zu den Denkern, die ihn beeindrucken, zählten Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises, Murray Rothbard und Roland Baader, allesamt Ökonomen. Auch Kessler kommt von der Ökonomie her. Er studierte International Affairs and Governance und schrieb seine Abschlussarbeit über expansive Geldpolitik.

Dass er mit den Jahren immer stärker zum «Liberalen ohne Bindestrich» wurde, wie er es formuliert, erklärt er mit dem stimmigen Weltbild, das der Liberalismus präsentiere. «Es gibt kaum Widersprüche.»

Gefragt, welche Themen unter Liberalen besonders kontrovers diskutiert würden, nennt Kessler nationale Souveränität und Migration. «Es ist kein Zufall, dass es zwischen SVP und FDP wegen dieser Frage zum Streit kam.»

Er selber plädiert für Markteinwanderung. Wer einen Arbeits- und einen Mietvertrag habe und sich an Recht und Ordnung halte, sei willkommen. Die vieldiskutierten Verdrängungseffekte hält er für übertrieben.

Richtig sei, dass die Zuwanderung die Immobilienpreise nach oben treibe, aber das liege auch an restriktiven Bau- und Raumplanungsgesetzen. Kessler hat die Rally erlebt, in Wollerau, wo er in einer Mittelstandsfamilie aufgewachsen ist. Die steuergünstige Gemeinde am Zürichsee zieht viele Reiche an, auch aus dem Ausland. «Dass es sich nicht mehr jeder leisten kann, in Wollerau zu leben, ist jetzt aber kein Weltuntergang», sagt Kessler, der im Freiamt eine neue Heimat gefunden hat.

Auf dem Arbeitsmarkt erkennt er keine problematischen Folgen der Zuwanderung. Wo wirtschaftliche Freiheit herrsche, entstünden immer auch neue Jobs, um die zusätzliche Nachfrage zu befriedigen. «Von Verdrängung kann keine Rede sein.»

«Tendenziell solidarisches Wesen»

Kritischer ist er, was die Verbindung von offenen Grenzen und ausgebautem Sozialstaat angeht. Er ist grundsätzlich für private Vorsorge (Klischee: «Ohne AHV wäre Altersarmut die Norm»). Sollte diese versagen, würde laut Kessler in einem stark dezentralisierten System die Solidarität vor Ort greifen. «Der Mensch ist tendenziell ein solidarisches Wesen.» Was Kessler ablehnt, ist «staatlich verordnete Solidarität». Das sei ein Widerspruch in sich. «Solidarität ist immer freiwillig, sonst ist es einfach Zwang.»

Heute und morgen würden seine Ideen den Praxistest allerdings kaum bestehen müssen, wie Kessler bereitwillig einräumt. «Liberale sind Dinosaurier, vom Aussterben bedroht.» Mit seiner Arbeit will er der Evolution ein Schnippchen schlagen. Dabei helfen sollen Videos und Podcasts, die er auf der Website des Liberalen Instituts lancieren möchte.

Kessler gibt sich überzeugt, dass er mit der kleinen Organisation viel erreichen kann. «‹No Billag› hat gezeigt, dass eine Graswurzelbewegung eine riesige Debatte auslösen kann», erklärt er und wirkt einen Moment lang wieder wie der Alte.

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