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Umverteilungssozialismus und Zentralismus: Schwere Zeiten für Liberale

Lesedauer: 7 Minuten

(Eigentümlich frei)

Die Lösung liegt in kleineren Einheiten

Es gibt in der Politik zwei Fehlkonzepte, die nicht zwingend miteinander verknüpft sind, die einander aber gegenseitig negativ beeinflussen: der etatistische Umverteilungssozialismus und der etatistische Zentralismus. Kann man die beiden Phänomene unabhängig voneinander kritisieren?

Zunächst: Die EU ist mit beiden Problemen konfrontiert. Zentralismuskritik kann nicht ohne Einbezug der verfehlten Umverteilungsphilosophie geübt werden, obwohl letztere auf EU-Stufe noch längst nicht das nationalstaatliche Maß erreicht hat. Sie stiftet aber doch primär politische und sekundär auch ökonomische Schäden, die folgenreicher sind als die interpersonelle Umverteilung im nationalen Sozialstaat. In diesem Zusammenhang sei an eine kluge Bemerkung von Michael Walker, dem ehemaligen Direktor des kanadischen Fraser Institutes, erinnert, der erklärte, die interpersonelle Umverteilung verderbe zwar Individuen, die sterblich seien, aber das sei weniger verheerend als die interregionale Umverteilung. Diese verderbe die Mentalität der Eigenständigkeit bei der ganzen Bevölkerung organisierter Gebietskörperschaften, sie sei darum sehr viel bleibender und darum auch viel schädlicher.

Im Folgenden wird versucht, die beiden Etatismen (Sozialismus und Zentralismus) auseinanderzuhalten und trotzdem einen Zusammenhang herzustellen. Beide nämlich sind graduelle Annäherungen an das sozialistische Ideal des angeblich „von Natur aus solidarischen Menschen“. Schon Karl Marx ging davon aus, dass sein Konzept des Kommunismus letztlich nur als Weltkommunismus funktionieren könne. Er hat deshalb als Ziel die zunächst politische Weltherrschaft der Arbeiterklasse postuliert, bei der dann auf dem Weg des dialektischen und historischen Materialismus jene Veränderung des Menschen stattfinden soll, die ihn von der kapitalistischen Entfremdung zur sozialistisch-solidarischen Selbstbestimmung führen soll.

Diese Vision ist wirklichkeitsfremd. In der real existierenden Welt mit real existierenden Menschen ist es genau umgekehrt. Der umfassend solidarische Sozialismus wäre in der Tat eine Entfremdung von der Mehrheit der weltweit und kulturübergreifend stets gemischt altruistisch-egoistischen Menschen. Er ist deshalb nichts anderes als eine sehr folgenreiche Irrlehre des 19. Jahrhunderts. Dass man ihn allzu lange als eine an sich vernünftige und notwendige Korrektur eines angeblich „überbordenden Kapitalismus“ wahrgenommen hat, gehört zu den ebenfalls fatalen Fehlern der bürgerlichen Parteien. Der Sozialismus wollte sowohl die tatsächlichen Irrtümer des Feudalismus als auch die vermeintlichen Irrtümer der christlich-abendländischen Kultur und der humanistischen Aufklärung überwinden. Er wurde zur verhängnisvollen Ersatzreligion, die den allmächtigen Gott durch den allmächtigen Staat ersetzte, nach dessen erhofftem „Absterben“ dann eine freie Gesellschaft entstehen sollte.

Wie sich der große anthropologische Quantensprung vom etatistischen Totalitarismus zum solidarischen, weltweit frei kooperierenden Menschen abspielen sollte, bleibt das Mysterium dieser Ersatzreligion und ist wohl auch weltweit der Grund für die diesbezüglich abnehmende Hoffnung und für die aufgrund aller bisher missglückten Experimente sinkende Glaubwürdigkeit.

Der Kapitalismus ermöglicht hingegen die niemals abzuschließende Entwicklung vom egoistischen Wirtschaftsmenschen (homo oeconomicus vulgaris) zum kultivierten Wirtschaftsmenschen (homo oeconomicus cultivatus) – und zwar ohne staatlichen Zwang, sondern höchstens mit vielfältigen und friedlich konkurrierenden politischen Rahmenordnungen, die ihrerseits mit „mehr“ oder „weniger“ Zwang frei experimentieren. Der Kapitalismus funktioniert auch „insular“ und unter unvollkommenen Menschen und auch unter teilweise verfälschenden Randbedingungen, weil er eben kein Konstrukt ist, sondern ein sich spontan entwickelndes Ereignis, das keine „neuen Menschen“ voraussetzt.

Die Sozialdemokratie, die hier neben dem Zentralismus kritisch ins Visier genommen wird, ist eigentlich nur eine ihrem Wesen nach veraltete, verharmlosende und verwässerte Variante des anthropologischen Fehlkonzepts ihrer sozialistischen Erfinder. Sie strebt dieselben Ziele an, empfiehlt aber ein schrittweises Vorgehen auf der Basis von Lernprozessen, Experimenten, Kompromissen durch das Überzeugen von Mehrheiten, durch Neidkampagnen, Ämterschacher und politische Bestechung. Das wirksamste Verfahren ist das Abhängigmachen von Mehrheiten vom Staat durch Umverteilung und durch die berufliche Abhängigkeit vom Staat und von halbstaatlichen Betrieben. Das Ziel und das Ideal bleibt dasselbe: der freiwillig voll systemangepasste und solidarische Mensch.

Die politische Strategie zu dessen Erreichung ist subtiler und langfristiger und soll über das Mehrheitsprinzip führen. Das Mehrheitsprinzip ist aber kein Selbstzweck, und es garantiert auch keine freiheitlichere Ordnung. Es gewährt, wenn es nicht durch den Schutz der Individualrechte und durch einen wirksamen Minderheitenschutz ergänzt wird, lediglich die Vormacht der jeweiligen Mehrheit vor der jeweiligen Minderheit. Wenn diese Minderheit zu Lasten der Mehrheit regelmäßig zur Kasse gebeten wird, tendiert die ökonomisch staatsabhängige Mehrheit dazu, das Interesse an Freiheit und Eigenständigkeit zu verlieren.

Die große anthropologisch-politische Schwäche des Weltsozialismus war und ist die Tatsache, dass Politik ihrem Wesen nach auf Gruppenegoismen beruht. Eine gruppenübergreifende oder gar weltweite Solidarität ist und bleibt eine wirklichkeitsfremde Projektion einer Minderheit von Intellektuellen. Das wissen oder ahnen viele Sozialdemokraten, aber sie wollen die solidarische Gruppe wenigstens möglichst groß halten und möglichst zentral verwalten. Das nährt die Affinität der Sozialisten zu den Zentralisten und bedeutet für liberale Anti-Sozialisten, dass sie mit guten Gründen auch Anti-Zentralisten sein sollten.

Die Liberalen des 19. Jahrhunderts waren Zentralisten, weil sie hofften, ein beschränkter zentraler Rechtsstaat sei am ehesten in der Lage, das etatistische und merkantilistische System des Feudalismus und des Zunftwesens zu überwinden. Der echte Föderalismus wurde im 19. Jahrhundert von konservativer Seite gestützt. Das Resultat der nationalen Zentralisierung war aber insgesamt verhängnisvoll. Gesiegt haben damals in vielen europäischen Staaten nicht die Befürworter eines liberalen Rechtsstaates, sondern die aggressiven Nationalisten, mit denen sich viele Liberale und auch viele Konservative ins politische Lotterbett gelegt hatten. Die international konkurrierenden nationalen Zentralismen und Merkantilismen mit ihren unerfüllten Expansionsgelüsten verursachten den Ersten Weltkrieg, eine der größten zivilisatorischen Katastrophen der europäischen Geschichte. Nach Ausbruch des Krieges war auch die Mehrheit der Sozialdemokraten dem nationalistischen Taumel erlegen. Der Erste Weltkrieg hat den Aufstieg des sozialdemokratischen Staates wesentlich begünstigt. Jeder Krieg führt zu „mehr Staat“ und „mehr Steuern“, und diese Entwicklung ist auch in Zeiten relativen Friedens kaum umkehrbar. Wir leben deshalb, auch in der Schweiz, fiskalisch und sozialpolitisch immer noch in einer Nachkriegszeit.

Genügt aber nun der Anti-Zentralismus als Grundhaltung eines machtskeptischen Liberalen?

Es gibt nicht nur den für Intellektuelle attraktiven, aber utopischen und niemals mehrheitsfähigen Weltsozialismus und seine Subvariante im kontinentalen Staatenbund-Sozialismus, sondern auch den Sozial-Nationalismus, der zwangsweise Sozialisierung und Umverteilung unter kleineren sprachlich oder „völkisch“ verwandten Gruppierungen realisieren will. Es sind die sozial-nationalistischen Gruppierungen, die als EU-Zentralismus-Gegner zunehmend populär werden und mit denen man sich als liberaler Zentralismus-Gegner nicht ideell verbünden sollte.

Es gibt gute Gründe, die Weltsozialisten und die Sozial-Nationalisten und Faschisten – wie dies Friedrich August von Hayek getan hat – als eine Großfamilie von mehr oder weniger totalitären Kollektivisten zu deuten. Aber man sollte auch die wesentlichen Unterschiede nicht übersehen und gleichzeitig anerkennen, dass im Lauf der Geschichte die einen gegen die anderen gekämpft haben. Trotzdem gibt es auch heute noch, mindestens fallweise, ein gefährliches etatistisches Koalitionspotenzial. Letztlich hat bisher jedes sozialistische Regime, wenn es populär bleiben wollte, zu einem nationalen Sozialismus tendiert und diesen einfach in einer möglichst großen Nation zu verwirklichen versucht, so wie dies in der Sowjetunion der Fall war und in der Volksrepublik China heute noch angestrebt wird. Wer Menschen solidarischer machen will, landet letztlich bei neuen Gruppensolidaritäten, die sich immer gegen jemanden, das heißt gegen einen Klassenfeind oder gegen einen nationalen Feind, solidarisieren. Das „große Wir“ entsteht nur, wenn es „die anderen“ gibt. Und dort, wo Sozialismus angeblich erfolgreich ist (wie in China), ist er es in Verknüpfung mit dem letztlich „völkisch-kulturellen“ Überlegenheitsmythos und seinen vorwiegend ökonomischen Weltmachtambitionen, die auf dem real praktizierten Staatskapitalismus basieren.

Als politökonomisches Experiment in Konkurrenz mit anderen Experimenten stößt die Sozialdemokratie auf nationaler Ebene, wenn sie „am Ruder“ und in der finanzpolitischen Verantwortung ist, schon nach wenigen Legislaturperioden unweigerlich an jene Grenze, die bei der nachhaltigen Finanzierbarkeit und bei der systembedingt zunehmenden Konsensknappheit in Umverteilungssystemen zu orten ist. Der mehr oder weniger „geordnete Rückzug“ aus der Sozialdemokratie hat nicht nur unter Thatcher, sondern auch in den Niederlanden, in Skandinavien und in Neuseeland mindestens teilweise erfolgreich stattgefunden. Er bleibt aber, mit den Worten des neuseeländischen Reformers Roger Douglas, stets ein „unvollendetes Geschäft“.

Der ökonomisch bedingte Popularitätsschwund nationaler sozialdemokratischer Parteien führt aber nun nicht regelmäßig direkt zu einem Aufschwung eines staats- und umverteilungsskeptischen Liberalismus, sondern oft zu einem „New Deal“ von Merkantilisten, Korporatisten und Xenophoben. Wenn in korporatistischen „Big-Government-plus-Big-Business-Koalitionen“ dann Big Business überwiegt, wird wenigstens der Freihandel nicht ausgeschaltet. Mittel- und langfristig hat aber dieser Deal die Tendenz, sich zugunsten des mit dem Zwangsmonopol „bewaffneten“ Big Government auszuwirken. Der Korporatismus führt als institutioneller Deal zwischen Staat und Wirtschaft früher oder später entweder zur zentral verwalteten Staatswirtschaft oder zu seiner Überwindung durch liberale Marktwirtschaft.

Es gibt jedoch auch ein Stabilitätsszenario. Der real existierende Korporatismus wird von „rechts“ kritisiert, weil er „zu viel Staat“ bewirkt, und von „links“, weil der Staat „zu wenig Umverteilungs- und Kontrollmacht“ hat. Wenn bei aller Regulierung noch ein Rest von Wettbewerb und Marktwirtschaft übrig bleibt, ist dieser so produktiv, dass er auch eine große Umverteilungsbürokratie zu finanzieren vermag, denn die Wirtschaft bleibt auch unter hohen Regulierungsbedingungen mindestens teilweise und auf Zeit produktiv, wenn sich der Wettbewerb vor allem mit andern Mischwirtschaften messen kann. Kurz: Zwischen diesen zwei Gruppen von „bellenden Hunden“, die letztlich beide aufeinander angewiesen sind, kann die korporatistische Karawane weiterziehen. Mindestens jeder Staatsangestellte, Staatsabhängige und Berufspolitiker findet seine gut bezahlte Nische, selbst wenn diese durch zunehmende Staatsverschuldung finanziert wird.

Sozialdemokratische Politik führt, ob sie in Koalitionen oder aus der Opposition geführt wird, nie zu einer vollständigen Etatisierung, sondern zu einem Mix von Sozialismus und Marktwirtschaft. Selbst mit einem Zweidrittelsozialismus (wie er in Europa Realität ist) kann das System ökonomisch überleben, weil das Drittel Marktwirtschaft so produktiv ist, dass es über längere Zeit auch politische Fehlsysteme fiskalisch alimentieren kann.

Die Rohstoffverteilung auf diesem Planeten verhindert glücklicherweise dauerhaft autarke Großgebilde und zwingt zu globalen Tauschbeziehungen. Diese sind aber leider eher politisch als wirtschaftlich motiviert, weil das internationale Recht weltweit die Staaten und nicht private Grundeigentümer als legitime Eigentümer von Ressourcen anerkennt. Dies führt beim Deal zwischen Regierungen und Rohstoffkonzernen stets zu einer Vor- und Übermacht einer mehr oder weniger korrupten Politik. Das „Scharnier“ zwischen staatlichem Ressourceneigentum und dem Abbau und der weltweiten Vermarktung in der Hand von gemischtwirtschaftlichen oder privaten Konzernen wird in der Regel mit Korruption geölt. Dabei sind stets beide Seiten involviert, was eine klare Schuldzuweisung und eine gezielte Bekämpfung verunmöglicht. Je weniger Rohstoffe ein Staat besitzt, desto größere Chancen gibt es für eine auf Humankapital aufbauende marktwirtschaftliche und liberale Politik.

Der schleichende Prozess des Popularitätsverlustes einer Mitte-links-Parteipolitik ist zurzeit nicht nur in den USA, sondern auch in Europa voll im Gange. Man kann gespannt sein, zu welcher Koalition es kurz- und mittelfristig in Deutschland kommt und in welcher Richtung sich der französische „Macronismus“ entwickelt. Wenn die parteiübergreifende Sozialdemokratie von einem ebenfalls parteiübergreifenden National-Korporatismus oder gar Sozial-Nationalismus abgelöst wird, stehen die Liberalen vor der Herausforderung, sich weder in verhängnisvolle Koalitionen zu begeben, noch sich in einem Zweifrontenkrieg aufzureiben. Die Alternative ist eine freiheitliche, anti-etatistische und anti-zentralistische „Rundumverteidigung“, um in fernerer Zukunft bereit zu sein, den Weg in eine freiere, friedlichere Gesellschaft auf der Basis von kleinen konkurrierenden Politikexperimenten zunächst offenzuhalten und dann zu beschreiten.

Information
Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv publizierten Beiträgen in der April-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 201.

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