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Staat verursacht Reformstau

Lesedauer: 4 Minuten

(Finanz und Wirtschaft – Meinungen)

Die wichtigste Ursache für Reformstaus ist die Mentalität der Rückwärtsgewandtheit und der Besitzstandswahrung statt der flexiblen Anpassung an sich wandelnde Strukturen. Ein Kommentar von Robert Nef.

«Der Rückzug aus wohlfahrtsstaatlichen Fehlstrukturen ist anspruchsvoll.»

Bezüglich Arbeit, Lohn und Renten sind die Mentalitäten in Europa in hohem Mass von den gemeinsamen Erfahrungen mit dem technischen Fortschritt und der arbeitsteiligen Industriegesellschaft geprägt. Europa hat den Schritt vom feudalistischen Agrarzeitalter ins gemischt bürgerlich-sozialdemokratische Industriezeitalter eingeleitet, vollzogen und durchlitten. Dieser zivilisatorische Schritt prägt unser Denken und Fühlen. Wir tun uns daher schwer mit dem nächsten Schritt ins elektronisch vernetzte Dienstleistungs- und Informationszeitalter. Es trifft zwar zu, dass unsere Arbeiterschaft sich verbürgerlicht hat, aber in gleichem – oder noch stärkerem – Ausmass sind wir mentalitätsmässig alle zu Arbeitern geworden. Wir haben Arbeitsplätze, Löhne, Renten, kollektiv und staatlich geregelte Arbeitsverhältnisse und ein staatlich vorgeschriebenes Pensionierungsalter, und wir betrachten Arbeit als etwas, was uns der Staat bzw. die Gesellschaft als «Stelle» zu garantieren hat.

Die Vorstellung einer frei wählbaren Versicherung gegen Wechselfälle des Lebens ist durch ein starres Korsett von obligatorischen Versicherungen gegen alle Eventualitäten abgelöst worden. Wir machen Lehrgänge und Ausbildungen, die auf bestimmte Lebensstellen zugeschnitten sind, nach denen es zum Teil kaum mehr Nachfrage gibt, und wir empfinden es als persönliche Katastrophe, wenn es zur Kündigung kommt. Eine Entlassung bedeutet aus dieser Sicht nicht etwa den Schritt zu etwas Neuem, anderem, Besserem, sondern den Abstieg zum Sozialfall – auch für qualifizierte Mitarbeiter. Wir sind mentalitätsmässig meilenweit von der Auffassung der Amerikaner entfernt, dass man entweder immer wieder einen «Job» findet oder selbständig einen kreieren muss.

Sozialpolitische Fehlsteuerungen

Pointiert ausgedrückt: Mit wenigen Ausnahmen sind wir alle zu Zahnrädern einer riesigen industriellen Maschinerie geworden, die von der technologischen und zivilisatorischen Entwicklung bereits überholt ist. Wer damit hadert, dass seine bisherige Aktivität in dieser Maschinerie überflüssig geworden ist und dass er nach einer Kündigung keine analoge Stelle mehr findet, sollte sich nicht selbst bemitleiden und nach staatlichem Schutz rufen, sondern eine Neuausrichtung wagen und alle Möglichkeiten der Weiterbildung nutzen.

Diese Rückwärtsgewandtheit, die eine Besitzstandswahrung und damit einen Schutz überholter Strukturen anstrebt statt flexibler Anpassung an neue Herausforderungen, ist eine wesentliche Ursache der europäischen Krankheit, für die man den zutreffenden Ausdruck Reformstau geprägt hat. Die Therapie dieser Krankheit ist anspruchsvoll. Kleinere Anpassungen und Pseudoreformen lösen das Grundproblem nicht, und der finanzielle Leidensdruck ist zurzeit noch zu klein, um eine grundlegende und unumgängliche Neuorientierung zu bewirken. Der geordnete Rückzug aus wohlfahrtsstaatlichen Fehlstrukturen, die ein Erbe des Industriezeitalters sind, ist kein Sonntagsspaziergang.

Ein akutes Problem der heutigen Arbeitswelt ist die Schwierigkeit der über Fünfzigjährigen, nach einer Kündigung noch eine Stelle zu finden. Sie wird einerseits der mangelnden Anpassungsfähigkeit älterer Menschen an neue Technologien angelastet oder andererseits einer gewissen Altersfeindlichkeit der Arbeitgeber. Das Problem wird rein zahlenmässig allerdings überschätzt. Tatsächlich ist die Arbeitslosenquote in diesem Alterssegment unter dem Durchschnitt.

Das Problem ist nicht primär zivilisatorisch bedingt, sondern wird auch durch sozialpolitische Fehlsteuerungen verursacht. Die Diskriminierung hat mit einer auf die Dauer katastrophalen staatlichen Überregulierung des Arbeitslebens und der obligatorischen Altersvorsorge zu tun. Nicht der Unwille von Arbeitgebern, ältere Mitarbeiter zu beschäftigen, ist der Hemmschuh, sondern ein ursprünglich gut gemeintes Korsett an obligatorischer Altersvorsorge, die zum Teil vom Arbeitgeber zu finanzieren ist, der den Lohn plus die von ihm zwangsfinanzierten Sozialleistungen als Lohnkosten buchen muss. Dadurch wird die Rentabilität und die Attraktivität älterer Arbeitnehmer künstlich herabgesetzt. Die Beitragsregelung basiert auf veralteten Vorstellungen über eine (v. a. männliche) Arbeitnehmer-Normalbiografie, in der das Interesse an einer Altersvorsorge erst bei 25-Jährigen erwacht, dann schrittweise zunimmt und erst nach fünfzig seinen Kulminationspunkt erreicht.

Das wirkt sich auf die Beitragshöhe aus und ist der wesentlichste Grund für die Bevorzugung jüngerer Arbeitnehmer. Ein zusätzlicher Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer, wie er heute erwogen wird, wäre für Stellensuchende in dieser Situation Gift, weil er die Attraktivität dieser Gruppe auf dem Arbeitsmarkt weiter verschlechterte. Die Möglichkeit jemandem, der sich nicht bewährt, zu kündigen, ist für die Arbeitgeber von vitaler Bedeutung. Sie ist eine der wichtigsten Trumpfkarten des relativ liberalen Arbeitsmarktes der Schweiz. Kündigungsschutz ist stets eine Bevorzugung der Habenden gegen die Suchenden. Leider wird die sozialstaatsbedingte Komponente der sogenannten Diskriminierung älterer Arbeitnehmer kaum erforscht und ist politisch kein Thema. Man behandelt die Altersdiskriminierung in den Medien, huldigt aber dem Irrglauben, hier bestehe zusätzlicher Regulierungsbedarf. Sozialpolitiker wittern die Chance für eine neue Klientel von Diskriminierten, der man Staatshilfe auf Kosten der Arbeitgeber und der Steuerzahler anbieten könnte.

Die Politik kümmert sich heute in erster Linie darum, was man zusätzlich regulieren, besteuern und obligatorisch versichern und «verrenten» könnte. Viel wichtiger wäre aber eine Strategie des geordneten Rückzugs aus einer Fülle von gut gemeinten, aber in der Auswirkung kontraproduktiven Regulierungen. Dass ein grosser Teil interventionistischer und umverteilender Politik im Effekt generell mehr schadet als nützt, ist keine neue Erkenntnis, und einige überzeugte Sozialstaatskritiker machen seit Jahren darauf aufmerksam. Sie applaudieren sich gegenseitig in ihrer Nische, erreichen aber weder das grosse Publikum in den Medien noch die mehrheitlich etatistisch ausgerichteten Lehrstuhlinhaber an den Hochschulen, die sich in erster Linie um kleine Korrekturen innerhalb eines grossen Fehlsystems kümmern.

Lieber «mehr Staat» als «soziale Kälte»

In der tages- und parteipolitischen Debatte werden solche Gesichtspunkte auch bei bürgerlichen Parteien ausgeblendet, weil man sich nicht gern dem Vorwurf der «sozialen Kälte» aussetzt und lieber immer wieder «mehr Staat» riskiert. Der medizinische Grundsatz «In erster Linie nicht schaden» wäre von der Politik neu zu entdecken, aber mit einer Politik, die sich lediglich als Schadensbegrenzung propagiert, gewinnt man keine Wahlen. Immerhin: Die Hoffnung auf «weniger Staat», «weniger Steuern» und «weniger Umverteilung zulasten der Jungen» ist vor allem bei einer jüngeren Wählerschaft durchaus vorhanden, aber sie muss auch in der Tagespolitik gegen die erheblichen Widerstände der bisher Begünstigten durchgesetzt werden.

Man hat die obligatorische Altersvorsorge, die staatliche Festsetzung eines Pensionierungsalters und die (effektiv nur scheinbare) Übernahme von Kosten der Altersvorsorge durch die Arbeitgeber als soziale Errungenschaften und als Fortschritt gefeiert. Dabei ist dies alles alter Ballast aus dem Industriezeitalter. Eine genauere Analyse würde ergeben, dass sich diese gut gemeinten Zwangsregulierungen effektiv als Entwicklungsbremse auswirken und als Verhinderung eines flexibleren Arbeitsmarktes, der sich sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer mehrheitlich befreiend und damit positiv auswirken würde.

Zum Autor
Robert Nef ist Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts Zürich.

Quelle: https://www.fuw.ch/article/staat-verursacht-reformstau/

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