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Fünf Thesen zu Schillers «Tell»

Lesedauer: 5 Minuten


(Weltwoche / Essay der Woche)

Friedrich Schillers Drama gilt heute als patriarchale Verherrlichung eines Bauernaufstandes. Tatsächlich geht es in seinem epochalen «Tell» um das Urthema der politischen Philosophie.

Schillers «Wilhelm Tell» gehört heute nicht mehr zur Pflichtlektüre in Schulen aller Stufen, und wer daraus zitiert, setzt sich dem Vorwurf eines rückwärtsgewandten Patriotismus aus. Wer sich aber die Mühe nimmt, den Text aufmerksam zu studieren, wird darin weit mehr entdecken als eine dramatische Inszenierung der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, in der nach dem damaligen Stand der Geschichtsforschung Mythen und Fakten in dichterischer Freiheit vermischt worden sind.

Man hat das Schauspiel zu Unrecht als männerlastige Verherrlichung eines mittelalterlichen Bauernaufstandes missdeutet, als einen Stoff, der sich höchstens noch für Laientheater und touristisch attraktive Festspiele eignet. In Schillers «Tell» geht es nämlich um eine fundamentale Auseinandersetzung mit der positiven Wurzel des Staates auf der Basis eines Generationenvertrags und der drei nie restlos harmonisierbaren Ideale der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, also um das Urthema der politischen Philosophie.

Freiwilliger Verzicht auf Vorrechte

Das ist die erste provokative These dieses Beitrags: «Tell» ist kein Drama, das den Ursprung der Schweiz thematisiert, es ist das Drama der Staatsgründung und zeigt das Ideal eines friedlichen Übergangs vom Feudalismus zum freiheitlichen Rechtsstaat. Schiller, der als Dichter der «Räuber» zum Citoyen der Französischen Revolution erkoren worden war, wandte sich nach der blutigen Terreur der Jakobiner von der Revolution ab, und in seinem «Tell» zeigt er, wie sich eine echte Befreiung des Volkes vom Joch der feudalistischen Bevormundung idealerweise abspielt: gezielter Widerstand einerseits, freiwilliger Verzicht auf Vorrechte anderseits und ein ewiger Friedensschluss durch genossenschaftliche Strukturen unter Respektierung bewährter Traditionen.

Die zweite provokative These: «Tell» ist kein Männerstück, in dem ein Vater das Leben seines Sohnes aufs Spiel setzt, statt sich selbst zu opfern. Die entscheidenden Weichen werden in Schillers Schauspiel (wie in vielen seiner Dramen) von Frauen gestellt, von der Stauffacherin, die ihren zaudernden Mann zum Schulterschluss mit Gleichgesinnten regelrecht anstachelt und damit zur Anstifterin des Rütlibundes wird, und von Berta von Bruneck, die ihren Geliebten, den Adeligen Rudenz, dazu bringt, auf Vorrechte des Adels freiwillig zu verzichten und alle seine bisherigen Untertanen in die Freiheit zu entlassen. «Und frei erklär’ ich alle meine Knechte», so lautet, bestimmt nicht zufällig, der letzte Satz des Schauspiels der Menschheitsbefreiung. In der gleichen Schlussszene umarmt die Adelige Berta Tells Frau Hedwig, eine Geste des weiblich-schwesterlichen Mitgefühls nach allem, was Hedwig als Frau und Mutter im Lauf des Dramas durchzumachen hatte.

Religiöse Dimension

Die dritte provokative These lautet: Schillers «Tell» ist aus heutiger Sicht sowohl ein libertäres als auch ein kommunitaristisches Stück, und es ist kein Zufall, dass sich die Linke in der Schweiz ursprünglich unter dem Namen Grütliverein organisierte. Ohne Tell kein Rütli, und ohne Rütli keine Eidgenossenschaft.

Nach der vierten provokativen These ist Schillers «Tell» nicht nur ein politisches Schauspiel, es hat auch eine anthropologische, menschheitsgeschichtliche, eine psychologische und eine religiöse Dimension. Schiller bringt in der Apfelschuss-Szene das Urthema des Sohnesopfers auf die Bühne. Er tut dies ganz bewusst in Opposition zur Geschichte von Abraham und Isaak im Alten Testament und zum Opfertod Christi im Neuen Testament. Schiller hat mit dem Thema des stellvertretend für andere geopferten Unschuldigen auch in seinem berühmten Gedicht «Die Bürgschaft» gehadert. Das Gedicht endet bekanntlich nicht mit dem Opfer, sondern mit einer Aussöhnung in einem Bündnis.

Revolutionen können als blutige, ins Politische eskalierende Autoritäts- oder Generationenkonflikte gedeutet werden, und die Französische Revolution ist wohl zunächst auch von Schiller so wahrgenommen worden. Tell ist die mutige, unintellektuelle Verkörperung des Widerstandsrechts, der positiv gedeutete Revolutionär, der kreative Dissident. Dissidenz hat stets auch eine destruktive Komponente, weil dadurch die traditionellen Autoritäten in Frage gestellt werden. In der Französischen Revolution ist die antiautoritäre Tendenz zu einer Blutorgie eskaliert, der schliesslich auch die Revolutionäre zum Opfer fielen.

Versöhnliche Lösung des Dilemmas

Viele Mythen und Sagen berichten von Söhnen, die ihre Väter umbringen, um eine neue Epoche einzuleiten. Werden die Väter umgebracht, so wiederholt sich das Drama in der nächsten Generation, werden die Söhne geopfert, so kann sich die Gemeinschaft nicht erneuern. Die Dialektik des Generationenwechsels in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gemeinschaften geht meist nicht bis ins blutige Extrem, aber die beiden Grundmodelle sind immer irgendwie präsent. Schiller vermittelt anhand der Apfelschuss-Szene – möglicherweise in subtiler Anspielung auf Isaak und Jesus – eine versöhnliche Lösung des Vatermord- und Sohnesopfer-Dilemmas. Sie beruht auf dem Vertrauen des Sohnes in das Können des Vaters und wird mit einem Happy End belohnt.

Der Generationenkonflikt wird heute nicht mehr mit der Armbrust ausgefochten. Was bleibt, sind die Exponiertheit der jungen Generation und das Angewiesensein der Gesellschaft auf traditions- und zielbewusste Leistung (Können und Treffsicherheit) einerseits und reflektiertes Vertrauen anderseits. Wer den Apfel verfehlt, trifft das eigene Kind, die nächste Generation. Leistungsfähigkeit und Vertrauen müssen sich im realen und nicht im fiktiven Generationenvertrag immer wieder neu generieren und bewähren – «face-to-face», im ursprünglichen Sinn.

Die fünfte These ist nicht neu, aber sie betrifft ebenfalls ein politisches Grundproblem: den Generationenvertrag. Freiheit wird von unterschiedlichen Generationen, die in subtiler Weise voneinander abhängig sind, unterschiedlich wahrgenommen.

Dauernde Veränderung

Der Grossvater, Walter Fürst, Tells Schwiegervater, verkörpert jene traditionelle Linie, die man als wertkonservative oder als anthropologische Komponente der Freiheitsidee bezeichnen kann. Sie knüpft an eine in fernster Vergangenheit angesiedelte «Freiheit der Väter» an, die den Auszug aus der Knechtschaft in ein gelobtes Land gewagt haben. Diese naturrechtlich fundierte Freiheitsidee ist nicht von Philosophen entdeckt und beschrieben worden, sondern von jenen mythischen Figuren, welche den Exodus ihres Volkes ins verheissene Land der Selbstbestimmung und der kreativen Dissidenz wagten: Moses, Prometheus, Antigone. Die knappen, aber gewichtigen Hinweise mögen hier genügen, um den grössten Kreis, das menschheitsgeschichtliche Umfeld der Freiheitsidee, als «Götterfunken» zu markieren.

Die bürgerlich-ideologische Auffassung von Freiheit wird durch den bedächtig-zögerlichen Familienvater Werner Stauffacher verkörpert. Bürgertum und Zivilgesellschaft beruhen auf Eigentum und Verträgen, auf dem Privatrecht der Handwerker und Händler, auf der Trias Marktplatz, Rathaus und Kirche, umgeben von einer schützenden, aber auch einengenden Mauer. Das Bekenntnis zu einer bürgerlichen Freiheit, die sich gegen jede absolute Staatsgewalt wendet, aber eine staatliche Rechtsordnung mitträgt, ist der Kerngehalt jenes Liberalismus, der in der angelsächsisch-schottischen, in der französischen und in der deutschen Aufklärung von Denkern wie Locke, Hume, Montesquieu und Kant begründet worden ist.

Dieser bürgerliche Liberalismus, der stets zur Mitte drängt, braucht aber auch die Inspiration durch jugendliche, libertäre Rebellen, durch Unternehmer im Reich der Ideen, die den Liberalismus immer wieder vor der strukturkonservativen Erstarrung in selbstgenügsamer Sattheit bewahren. Wer Werte wie die Freiheit schützen will, muss sich die dauernde Bereitschaft zur Veränderung, zur Innovation offenhalten und darf sich nie voreilig mit unbefriedigenden Umständen abfinden.

Macht kaputt, was euch kaputt macht

Der engste Kreis der Freiheitsidee wird durch den gegen Macht und Ungerechtigkeit rebellierenden jungen Arnold vom Melchtal symbolisiert. Er will seinen Vater rächen, dem Unrecht geschehen ist. Er wird aus der Situation heraus zur Partei. Sein Programm ist kurzfristig konkret: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Nur, und das unterscheidet ihn von engstirnigen und verblendeten Rebellen, von denen es in der Weltgeschichte und in der Politik nur so wimmelt: Melchtal kooperiert mit Vätern und Grossvätern. Eine Brüderlichkeit, welche auf die Erfahrungen der Väter und Grossväter und auch der Schwestern, Partnerinnen und Mütter verzichtet, verliert sich nämlich im pubertären Protest, ohne je erwachsen zu werden.

Die Idee der Freiheit entzündet sich an der Ablehnung von Zwang. Das Missbehagen gegenüber allen Formen erzwungener Fremdbestimmung ist eine frühe Erfahrung des Individuums und des ganzen Menschengeschlechts. Die Liebe zur Freiheit ist nicht von den Aufklärern entdeckt worden, und sie ist weder eine Errungenschaft der deutschen Idealisten noch der angelsächsischen Marktliberalen. Der individuelle und kollektive Drang nach Freiheit gehört, wie Schiller dies in seinem «Tell» zeigt, zum Kulturerbe der Menschheitsgeschichte.

Robert Nef, geboren 1942, ist Publizist. Er gehört zu den Gründern des Liberalen Instituts, in dessen Stiftungsrat er immer noch sitzt.

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